„Ein weiteres Medienunternehmen in Deutschland verschwindet vom Markt: Die zahlungsunfähige Nachrichtenagentur dapd hat heute ihren Betrieb eingestellt“, verkündet Judith Rakers am 11. April 2013 in der 20-Uhr-Tagesschau. Diese zwei Sätze kennzeichnen nicht nur das offizielle Ende der Nachrichtenagentur dapd, sondern lassen auch Rückschlüsse auf eine gesamte Branche zu.
Denn schon lange scheint es an der Tagesordnung zu sein, dass Medienunternehmen ihren Dienst einstellen. Nun also auch die erste Nachrichtenagentur. Doch warum eigentlich? Hat sich das ursprüngliche Konzept der Nachrichtenagenturen als reiner Dienstleister hinter den Medien im Zeitalter von Smartphones, Facebook und Twitter etwa überholt?
Fest steht, dass sich in Zeiten von Digitalisierung, Technisierung und Social Media die Rezeptionsgewohnheiten des Publikums verändert haben und mit ihnen nicht nur die Ansprüche des Publikums an die Medien. Bisherige Geschäftsmodelle im Journalismus funktionieren nicht mehr und neue sind noch nicht in Sicht. Die gesamte Medienbranche muss sich mit einem strukturellen Wandel auseinandersetzen, der sich in alle Bereiche auswirkt: auf die Produkte, Formate, Inhalte, Quellen, Finanzierung und auch den Produktionsalltag in den Redaktion.
Dieser Wandel hat nicht nur Auswirkungen auf die klassischen Medien Zeitung, Hörfunk- und TV-Stationen, sondern auch auf deren Lieferanten: Die Nachrichtenagenturen. Immerhin stammt nach Schätzungen des International Press Institutes (2005) wenigstens die Hälfte aller Artikel, die in einer Tageszeitung erscheinen, von den Nachrichtenagenturen; für das Nachrichtenmaterial im Fernsehen und Radio gilt dies in noch größerem Maße.
Die heutige Rolle der Agenturen
Aber sind Nachrichtenagenturen vor dem Hintergrund dieses Wandels überhaupt noch überlebensfähig oder haben sie Ihre Bedeutung für das Mediensystem in Deutschland längst verloren? In einer Delphi-Studie befragte die Autorin Mitglieder der Geschäftsführung, Chefredaktionen und Redaktionsleitungen von Nachrichtenagenturen, Zeitungen, Hörfunk- und TV-Stationen, Onlineredaktionen sowie Wissenschaftler, wie sich die Nachrichtenagenturen in Deutschland vor dem Hintergrund des Wandels im Journalismus in den kommenden zehn Jahren entwickeln werden und skizzierte auf Basis der Ergebnisse ein Szenario für die Zukunft.
Nachrichtenagenturen als Gatekeeper
Insgesamt zeigte sich, dass die Nachrichtenagenturen auch weiterhin ein zentraler Anker im Journalismus in Deutschland sind. Rund Dreiviertel der Teilnehmer erwartet, dass die Agenturen für ihre Arbeit in den Redaktionen auch künftig von gleichbleibender Bedeutung sein werden. Als Grund für diese Prognose nennen die Teilnehmer die Rolle der Nachrichtenagenturen als „Gatekeeper“ oder „Vorsortierer“. Zugleich schätzen sie, dass es sich bei dem Material der Nachrichtenagenturen um verlässliche Nachrichten handelt.
Ein Mitglied der Geschäftsführung einer Zeitung fasst das so zusammen: „Die Sammlung, Strukturierung und zeitnahe Zurverfügungstellung geprüfter und von Medien mehr oder weniger direkt übernehmbarer Texte sowie von multimedialen Elementen kann ausschließlich durch Organisationen wie Nachrichtenagenturen bewältigt werden. Die Arbeitsverdichtung in den abnehmenden Redaktionen macht eine andere Arbeitsweise unmöglich. Weitere Informationsquellen wie Webseiten, deren Wahrheitsgehalt dann aber immer erst überprüft werden muss, können allenfalls Ergänzungen darstellen.“ Ein anderer Zeitungschefredakteur betont, für ihn sei „nicht abzusehen, dass künftig über einen anderen Kanal als über die Nachrichtenagenturen Informationen in dieser Qualität, Seriosität und Schnelligkeit geliefert werden.“
Das Rückgrat der Berichterstattung
Die Teilnehmer der Gruppe Online prognostizieren eine schwindende Bedeutung. Ihre Argumente: Verlagerung des Berichterstattungsschwerpunktes auf regionale und lokale Themen, verbunden mit dem Trend weg vom austauschbaren Agenturmaterial und hin zu mehr exklusiven eigenen Inhalten eine schwindende Bedeutung der Agenturen. Zugleich schätzen sie die Agenturen als „Rückgrat der aktuellen Berichterstattung“, „Sicherheitsnetz zur Vergewisserung“ und „seriöse Quelle“. Für die Fachleute von Radio und Fernsehen sind die Nachrichtenagenturen vor allem als „Korrektiv und Ideengeber“ für eigene Geschichten wichtig.
Nach Ansicht eines Leiters einer Fernsehnachrichtensendung werden „Social Media und andere Quellen aus dem Netz eine starke Ergänzung und Konkurrenz zu Nachrichtenagenturen. Sie vermitteln unmittelbare Eindrücke, teilweise mit Augenzeugenqualität. Die schnelle Zugriffsmöglichkeit auf Bewegtbild ist für ein TV-Nachrichtenmagazin besonders attraktiv, was die Konkurrenz im Netz betrifft. Nachrichtenagenturen werden aber immer die Leitplanke der Gründlichkeit bleiben.“
dpa als Liebling der Redaktionen
Trotz dieser Zufriedenheit und der mehrheitlich positiven Einschätzung für die Zukunft zeigt die Studie deutliche Unterschiede bei der Prognose für die einzelnen Nachrichtenagenturen auf dem deutschen Markt, der mit seinen zum Zeitpunkt der Erhebung der Studie zwei Vollagenturen und zwei Komplementäragenturen als der weltweit am härtesten umkämpfte Markt der Nachrichtenagenturen galt. Zum Vergleich: In anderen Ländern bietet meist nur eine Nachrichtenagentur ihre Dienste an. Die Vollagentur dpa wird auch in Zukunft der Liebling der Redaktionen bleiben. Die Mehrheit der Befragten – und dabei vor allem Experten aus den Bereichen Zeitung, Radio und Online – prognostiziert, dass dpa auch in zehn Jahren nicht verzichtbar sein wird. Immerhin jeder Vierte meint aber, dass dpa dann zumindest eher verzichtbar sein wird.
Die zweite Vollagentur dapd hätte das Potential gehabt, ihre Beliebtheit noch weiter zu steigern und war – zumindest bis zur ersten Insolvenz – auf einem guten Weg, sich zum unverzichtbaren Partner für die Medienkunden zu entwickeln. Denn die Mehrheit der Befragten prognostizierte, die Agentur werde mindestens „eher nicht verzichtbar“ sein. Dabei gaben die Experten von TV und Radio eine deutlich positivere Einschätzung ab als die Experten von Zeitung und Online.
Die beiden Komplementäragenturen AFP und Reuters schneiden insgesamt weniger gut ab; die Mehrheit der Befragten halten diese Agenturen künftig für tendenziell eher verzichtbar. Rund 63 Prozent der Experten schätzen AFP als mindestens eher verzichtbar ein; bei Reuters sind es mit 55 Prozent etwas mehr als die Hälfte.
Vom Wettbewerb zum „Agenturkrieg“
Erst 2010 kam es auf dem Nachrichtenagenturmarkt in Deutschland zu einem einschneidenden Umbruch, als die kleine Agentur Deutscher Depeschendienst ddp mit der deutschen Tochter der amerikanischen Weltagentur Associated Press AP zur Vollagentur dapd fusionierte und somit statt vier Komplementäragenturen und einer Vollagentur plötzlich jeweils zwei Voll- und Komplementäragenturen auf dem Markt waren. Der Agenturkampf war eröffnet. Zahlreiche rechtliche Auseinandersetzungen, Klagen und Personaldebatten unter den Agenturen folgten und zeigten, wie erbittert der vom damaligen AFP-Geschäftsführer Wortmann als „Agenturkrieg“ bezeichnete Kampf der Agenturen bis zur Insolvenzanmeldung des dapd im Oktober 2012 geführt wurde.
Die Delphi-Experten prognostizierten in diesem Zusammenhang, dass es zu mindestens einer weiteren Reduzierung auf dem Markt innerhalb der nächsten zehn Jahre kommen werde. Rund 65 Prozent der Experten gingen von einer Reduzierung auf drei Agenturen innerhalb der nächsten zehn Jahre aus; sogar jeder Fünfte prognostizierte, dass es zu diesem Zeitpunkt nur noch zwei Agenturen geben wird. Die Kompletteinstellung des dapd zeigt, dass sich die Prognose der Delphi-Experten bereits bewahrheitet hat.
Doch nicht nur durch die Konkurrenz untereinander werden die Nachrichtenagenturen weiterhin auf den Prüfstand gestellt. Auch die Konkurrenz aus dem Internet setzt sie unter Druck. Nicht überraschend, dass fast 85 Prozent der Befragten in den Onlinenachrichtenportalen tendenziell eine Konkurrenz sehen; für mehr als die Hälfte der Experten ist sogar klar, dass es sich dabei um eine (starke) Konkurrenz handelt.
Kundenportale und journalistische Qualität
Nicht zuletzt aufgrund der beschriebenen Entwicklungen und einer zu beobachtenden stärkeren Publikumsorientierung der Medien werden sich die Nachrichtenagenturen in Zukunft noch stärker an den Wünschen und Ansprüchen der Kunden orientieren, etwa über ein Kundenportal oder andere Tools. Fast 90 Prozent der Experten gehen von einem positiven Einfluss eines Kundenportals auf die Qualität der Produkte der Nachrichtenagenturen aus – ein Ergebnis, das die beiden Agenturen Reuters und AFP, die bislang kein solches Portal betreiben, nachdenklich stimmen sollte. Vor allem Zeitungsexperten erwarten eine große Qualitätssteigerung der Produkte nach Einführung solcher Portale. Die Kunden können durch gezielte Fragen und Wünsche an die Redaktion (via Kundenportale) nun noch leichter und schneller Einfluss auf die Angebote der Nachrichtenagenturen nehmen.
Trotzdem werden die Agenturen ihre Produkte auch künftig hauptsächlich aus Eigeninitiative produzieren. Laut der Prognose werden in Zukunft jedoch rund 20 Prozent des Angebots auf durch spezielle Anregungen und Wünsche entstandene Auftragsarbeiten beruhen. Das wird die Nachrichtenagenturen zumindest ein Stück weit deutlicher als jetzt zu einem „work-on-demand“- Anbieter machen.
Suche nach Finanzierungsmöglichkeiten
Angesichts der Umbrüche auf dem Markt wurde in der Befragung auch nach den künftigen ökonomischen Entwicklungen der Agenturen gefragt. Unverändert zeichnet sich für die Zukunft jedoch nicht ein perfektes Geschäftsmodell für die Nachrichtenagenturen ab. Stattdessen werden weiterhin mehrere Modelle nebeneinander existieren. Die Mehrheit der Befragten hält die Modelle „genossenschaftlicher Zusammenschluss“ sowie die des „privaterwerbswirtschaftlichen Unternehmens“ für am besten geeignet. Eine Aktiengesellschaft wurde dagegen als eher ungeeignet empfunden, während das Modell einer Förderung durch eine Stiftung zumindest als eine mögliche neue Variante angesehen wird. Ausgeschlossen wird dagegen eine Subvention der Nachrichtenagenturen durch den Staat; lediglich etwa jeder Zehnte befindet diese Art der Finanzierung als künftig geeignet oder zumindest eher geeignet.
Rund 52 Prozent gehen davon aus, dass die Agenturen ihren Umsatz künftig hauptsächlich abseits ihres Kerngeschäfts, nämlich durch Tochterunternehmen und Beteiligungen, machen werden. Dass die Nachrichtenagenturen sich vor diesem Hintergrund auch dem Endverbraucher als Kunden zuwenden werden, erscheint zumindest als möglich, wenngleich laut Prognose der Mehrheit der Experten die Agenturen aber nicht vermehrt den Endverbraucher in den Fokus nehmen werden.
Redaktionelle Umstellung auf Newsrooms
Ähnlich wie in den Redaktionen ihrer Kunden haben auch in den Redaktionen der Agenturen bereits Umbrüche stattgefunden. Damit einhergehend ist häufig eine Umstrukturierung auf das Konzept eines Newsrooms, was sich nach Ansicht von mehr als 80 Prozent der Experten positiv auf die Qualität der Produkte der Nachrichtenagenturen auswirkt. In solchen Newsrooms werden die Agenturjournalisten künftig nicht mehr dauerhaft in strikt festgelegten Ressorts, sondern nur temporär in festen thematischen Gruppen arbeiten.
Die Ergebnisse weisen darauf hin, dass es zu einer deutlichen Aufweichung der Strukturen kommen wird. Als die beiden künftig zentralen Qualitätskriterien bei der Arbeit der Agenturen werden Glaubwürdigkeit und Zuverlässigkeit empfunden. Das lange Zeit wichtigste Merkmal für Nachrichtenagenturen, die Schnelligkeit, wird dagegen künftig weniger wichtig. Dabei bleibt eine eher nachrichtlich geprägte Sprache auch in Zukunft der Standard.
Agenturen als multimediale Dienstleister
Auch im Bereich der Produkte und des Angebotes der Nachrichtenagenturen lassen sich einige Trends ablesen. So ist deutlich zu erkennen, dass sich die Agenturen künftig noch mehr zu einem multimedialen Dienstleister entwickeln werden, der Inhalte in zahlreichen Formaten und für unterschiedliche Betriebskanäle – auch mobile Endgeräte – produziert und anbietet.
Inhaltlich wird der Schwerpunkt der Berichterstattung weiterhin auf dem aktuellen Geschehen liegen. Die Studienteilnehmer prognostizieren, dass der aktuelle Dienst künftig mehr als 70 Prozent des Gesamtangebots ausmachen wird. Dies bedeutet im Umkehrschluss, dass nahezu 30 Prozent des Angebots aus dem Bereich des Nicht-Aktuellen stammen wird, nämlich aus Ratgeber- und Servicestücken.
Mehr bunte und vermischte Themen
Thematisch wird sich der Schwerpunkt der Berichterstattung insgesamt mehr zu den vermischten und bunten Themen unter anderem über Prominente und Lifestyle verschieben, was auf eine zunehmende Boulevardisierung der Agenturen hindeutet. Rund 90 Prozent der Befragten prognostiziert eine Steigerung im Bereich Kurioses, Kriminalität und Buntes; im Bereich Promis und Lifestyle sind es rund 80 Prozent. Die Bereiche Politik, Wirtschaft und Sport behalten weitgehend ihre Bedeutung in der Berichterstattung. Klarer Verlierer ist der Themenbereich Kultur: Mehr als die Hälfte aller Befragten rechnet mit einem Bedeutungsverlust, rund 32 Prozent erwarten keine Veränderung im Vergleich zum jetzigen Stand. Für die Berichterstattung in allen Themenbereichen werden Soziale Netzwerke und Blogs zusätzlich zu den klassischen Quellen an Bedeutung gewinnen, sagen neun von zehn Befragten.
Wissenschaftliche Methode
In einer Delphi-Studie im Rahmen einer Dissertation bei Prof. Klaus Meier am Institut für Journalistik an der TU Dortmund wurden Experten aus Nachrichtenagentur-, Zeitungs-, Hörfunk-, TV- und Onlineredaktionen sowie aus der Wissenschaft anonym befragt, wie sie die Zukunft der Nachrichtenagenturen in Deutschland einschätzen. Teilgenommen haben in der ersten Befragungsrunde im Sommer 2011 insgesamt 111 und in der zweiten Runde im Spätherbst des gleichen Jahres 74 Mitglieder von Chefredaktionen, Redaktionsleitungen sowie Geschäftsführungen. In der Befragung thematisierte Gebiete waren unter anderem die künftige Rolle und Bedeutung der Nachrichtenagenturen auf dem Medienmarkt, redaktionelle Veränderungen, Themen-, Inhalts- und Angebotsspektrum, Geschäftsmodelle und Kundenkreise sowie Publikums-/Kundenorientierung der Nachrichtenagenturen.
Schulten-Jaspers, Yasmin (2013): Zukunft der Nachrichtenagenturen. Situation, Entwicklungen, Prognose. Baden-Baden: Nomos Verlagsgesellschaft.
Erstveröffentlichung des Beitrags: Message – Internationale Zeitschrift für Journalistik Nr. 3 / 2013
Schlagwörter:AFP, Agence France Press, AP, Associated Press, dapd, ddp, Deutscher Depeschendienst, dpa, Facebook, Gatekeeper, Nachrichtenagenturen, Newsrooms, Reuters, Social Media, Twitter