Exoten oder Freaks – Großfamilien in den Medien

12. Dezember 2013 • Ressorts • von

Sie finden keine Wohnung, weil sie fünf Kinder haben und Hartz IV beziehen. Sie finden keine Wohnung, weil Vermieter mit dieser Familienkonstellation das Stichwort „asozial“ verbinden. So berichtete die Bild im Sommer über eine Familie aus Bremen.

Die Zeitung bediente damit das typische Klischee, das laut einer aktuellen Untersuchung die Berichterstattung über kinderreiche Familien in Deutschland dominiert: Die Situation dieser Familien ist äußerst schwierig, alltägliche Aufgaben sind kaum zu managen.

„Ist das tatsächlich das Bild, das unsere Gesellschaft in Deutschland, in der die Menschen immer älter werden und immer weniger Kinder zur Welt kommen, von einer Familie mit vielen Kindern hat? Asozial?!“, fragen die Forscherinnen um die Journalistikprofessorin Marlis Prinzing von der Macromedia Hochschule für Medien und Kommunikation Köln in ihrer Studie „Der politische Restposten“.

Yasmin Schulten-Jaspers, Jennifer Tank und Marlis Prinzing rücken eine sonst wenig beachtete Frage in den Fokus, die das gesellschaftliche Bild von Familien betrifft: „Welche Rolle spielen dabei eigentlich die Medien?“ Dies versuchten sie zu beantworten, indem sie die Berichterstattung über Familienthemen generell untersuchten und sie mit derjenigen über Familien mit überdurchschnittlich vielen, also drei und mehr Kindern, verglichen.

Tatsächlich sehen die Wissenschaftlerinnen Familienfragen in den Medien nicht ausreichend behandelt: „Gegenwärtig (…) bleibt der Eindruck, dass Familien eine Art ‚politischer Restposten’ sind im gesellschaftlichen Diskurs“, schreiben sie. Bei der Berichterstattung über kinderreiche Familien sei zwar keine offene Diskriminierung zu sehen, doch sie zeuge von besonders wenig Kenntnis über Großfamilien – und entsprechend wenig Verständnis für ihre Lebenssituation.

Um spezielle Besonderheiten – etwa Unterschiede zwischen Boulevard- und Qualitätsmedien oder zwischen regionalen und überregionalen Medien – herauslesen zu können, untersuchten die Forscherinnen insgesamt 24 Printmedien (vollständige Liste unten). Diese umfassten überregionale Tageszeitungen, Regionalzeitungen, Wochenzeitungen, Nachrichtenmagazine, und Special Interest Magazine. Sie analysierten insgesamt 1.184 journalistische Beiträge, wovon sich 549 aus den Jahren 2011 und 2012 mit kinderreichen Familien auseinandersetzen und 635 weitere Beiträge aus dem Jahr 2012 ausschließlich Familienthemen allgemein behandelten.

Interessant ist dabei zunächst das Ergebnis, dass kinderreiche Familien ab drei Kindern in der gesamten Berichterstattung sehr selten vorkommen, obwohl sie rund zehn Prozent aller Familien in Deutschland ausmachen. Wenn Großfamilien auftreten, dann meist im Lokalteil: Ziemlich genau die Hälfte der betreffenden Artikel erscheinen in diesem Ressort. Dazu passt auch, dass 40 Prozent der Artikel eine persönliche Geschichte, etwa eine Mehrlingsgeburt oder Traditionen einer bestimmten Familie, beinhalten. Lokale Geschichten verlangen nach einem solchen menschelnden, persönlichen Rahmen.

Was auch dafür spricht, dass das Thema Kinderreichtum nicht richtig ernst genommen wird, ist folgender Umstand: In nur 13 Prozent der untersuchten Artikel kamen Politiker zu Wort, in nur zwölf Prozent der Beiträge war ein politisches Ereignis Aufhänger der Berichterstattung – viele Kinder zu haben, wird in Deutschland demnach als Einzelentscheidung oder auch als Einzelschicksal einer Familie dargestellt. Nur überregionale Medien heben laut den Forscherinnen die Berichterstattung teilweise auf eine politische und gesellschaftliche Meta-Ebene.

Dies bringt aus Sicht der Autorinnen einige Probleme mit sich. Denn ihnen zufolge kommt den Medien eine zentrale Rolle zu, wenn es um das Familienbild in Deutschland geht: Sie sollten den wissenschaftlichen und politischen Diskurs begleiten. Es sei „zu erwarten, dass sich die demographischen Veränderungen ebenso wie die sich verändernden Familienformen und Familienbilder in den Medien nicht nur widerspiegeln, sondern dass die Journalisten selber den Wandel mitgestalten und zu einer Verständigung über die Haltungen zu Familienthemen beitragen“, so die Autorinnen.

Die Medien hätten zwar nicht die Aufgabe, für eine bestimmte Familienstruktur zu werben. Doch durch stereotype Berichterstattung etwa über die Gruppe der Großfamilien könnten sie dazu beitragen, dass sich ein bestimmter gesellschaftlicher Geist festigt. Im schlechtesten Fall könne die betreffende Berichterstattung dazu führen, dass Kinderreichtum negativ konnotiert ist und die Geburtenrate deshalb zurückgeht.

Die Forscherinnen vermuteten vor ihrer Untersuchung, dass die Medien negative Klischees über kinderreiche Familien reproduzieren würden. Dies wäre etwa gegeben, wenn die Bild die eingangs benannte Familie aus Bremen tatsächlich als asozial dargestellt hätte, statt nur zu berichten, dass die Familie von ihrem Umfeld so wahrgenommen wird. Diese Vermutungen über Stereotype bestätigen sich nur teilweise.

In 63 Prozent der untersuchten Artikel bewerten die zitierten Hauptakteure Kinderreichtum gar nicht. In 31 Prozent – also in einem Großteil der restlichen Artikel – treffen Akteure positive Aussagen über große Familien. Doch dies schlägt sich nicht im Gesamttenor der Berichterstattung nieder. Fast die Hälfte der Artikel stellt Kinderreichtum laut der Studie insgesamt ambivalent (24 Prozent) oder negativ (19 Prozent) dar, indem zusätzlich zu den Expertenaussagen entsprechende Argumente angeführt werden. Diese beschreiben ein Leben in dieser Familienform als schwierig, nur 23 Prozent der Artikel zeichnen demnach das Bild einer vergnügten Großfamilie.

Die Forscherinnen scheinen sich teils nicht ganz sicher zu sein, wie sie diese einzelnen Ergebnisse bewerten sollen. So sprechen sie einerseits von negativen Vorurteilen, die in den Medien reproduziert würden. Andererseits bemängeln sie, problematische Aspekte der Familienstruktur Großfamilie würden in der Berichterstattung tabuisiert.

Die konkreten Zahlen sind unabhängig von ihrer Bewertung interessant: In elf Prozent der untersuchten Artikel wird beschrieben, dass Mütter überfordert sind, das Leben einer Großfamilie zu organisieren, zwölf Prozent der Artikel thematisieren, dass Mütter von vielen Kindern keine Chance auf berufliches Fortkommen hätten. 25 Prozent der Texte weisen auf ein erhöhtes Armutsrisiko und eine sozial schwache Stellung von Großfamilien hin. In elf Prozent der Artikel wird, wie in der Bild-Zeitung im Sommer, mit der schieren Familiengröße eine problematische Wohnsituation in Verbindung gebracht. Knapp ein Zehntel der Texte assoziiert Kinderreichtum mit Hartz IV-Bezug.

Obwohl sie darauf hinweisen, dass Probleme teils tabuisiert werden, sehen die Autoren die Berichterstattung über kinderreiche Familien insgesamt als zu negativ an: „Über kinderreiche Familien wird in General Interest-Publikationen klassisch nach dem Motto ‘bad news is good news‘ berichtet, also dann, wenn es um finanzielle, soziale oder private Probleme geht.“

Während über kinderreiche Familien meist anhand eines persönlichen Schicksals berichtet wird, halten sich bei der allgemeinen Familienberichterstattung die politische und die persönliche Aufmachung die Waage. Insgesamt kommen in Artikeln zu Familien allgemein häufiger Politiker zu Wort als beim Thema kinderreiche Familien, in 25 und 13 Prozent der Fälle.

Interessant mit Blick auf einzelne untersuchte Medien ist, dass ausgerechnet die eher inklusiv ausgerichtete tageszeitung taz stark mit Stereotypen arbeitet. So verknüpft sie besonders oft Kinderreichtum mit Migrationshintergrund und schreibt zudem in 20 Prozent ihrer Artikel den kinderreichen Familien eine prekäre Lebenssituation zu. Auf Familien insgesamt bezogen ist die Berichterstattung der taz dagegen eher vorurteilsfrei, was Die Welt laut der Studie fast auf ganzer Linie der Familienberichterstattung schafft. Ganz im Gegensatz zu den Nachrichtenmagazinen Spiegel und Focus: Beide Blätter berichteten im Untersuchungszeitraum der Studie sehr stereotyp über kinderreiche wie auch andere Familien. 44 Prozent der untersuchten Artikel assoziieren Kinderreichtum mit einem niedrigen sozialen Status der Familie, 28 Prozent bringen ihn sogar mit einem Status der Eltern als Hartz IV-Empfänger in Zusammenhang. 33 Prozent der Artikel ziehen eine Verbindung zwischen geringem Bildungsstatus und der Form der Großfamilie.

Geht es um Familie allgemein, so tragen die beiden Magazine laut der Forscherinnen dazu bei, traditionelle Familienbilder zu festigen und so andere Formen indirekt zu diskreditieren. 38 Prozent der Artikel über Familien generell reproduzieren das Image eines heterosexuellen Paares mit Kindern, 27 Prozent der Berichte zeichnen das vermeintlich ideale Porträt der Kernfamilie, also Mutter, Vater und höchstens zwei Kinder. Zwischen Qualitäts- und Boulevardmedien – stellvertretend wählte das Team hier die Süddeutsche Zeitung und die Bild-Zeitung– zeigen sich hinsichtlich stereotyper Berichterstattung keine großen Unterschiede. Ihrem Ruf als Qualitätsblatt wird die SZ im Untersuchungszeitraum lediglich insofern gerecht, als dass bei ihr der häufigste Anlass für Berichterstattung über Großfamilien politische Ereignisse sind, während die Bild auf persönliche Schicksale setzt.

Im Anschluss an die Auswertung ließ das Team um Prinzing Medienmacher, Betroffene und Wissenschaftler die Ergebnisse einordnen. Mit Leitfadeninterviews ergründeten sie die Ursachen für die aus ihrer Sicht marginale und unzureichende Berichterstattung über Großfamilien.

Interessant ist an diesem Punkt zum einen die Sicht verschiedener Interessensvertreter wie etwa der Vorsitzenden des Deutschen Verbandes kinderreicher Familien, Elisabeth Müller. Sie und andere Verbandsvertreter vermuten, dass viele Bereiche des Themas Kinderreichtum kaum diskutiert und problematisiert werden, weil die Journalisten aus ihrer Lebensrealität die Probleme solcher Familien kaum nachvollziehen können. Sie leben meist in kleineren, flexiblen Konstellationen.

Dies führe womöglich viele Autoren zu der unterbewussten Haltung: Welche Sorgen und Lebensumstände Eltern in diesen großen Familien haben, interessiert eigentlich niemanden – da sie eine vermeintlich winzige Minderheit darstellen. Deshalb, so die Vermutung der Verbandsvertreter, werde dieses Familienbild in den Medien kaum aufgegriffen oder diskutiert. Die Konsequenz sei, dass sich auch die kinderreichen Familien selbst als Ausnahmen einordneten und deshalb ihr Bedürfnisse und eventuelle politische Forderungen auch nicht offen kommunizierten. In dieser Spirale der Tabuisierung haben die betroffenen Familien keine Lobby, die ihre finanziellen und sonstigen Bedarfe durchsetzt.

Aus Sicht der befragten Wissenschaftler ist vor allem problematisch, dass aufgrund  der vielen Schreckensbilder von finanziellen Problemen der immaterielle Wert eines Familienlebens mit vielen Kindern übersehen werde. Die schönen Seiten dieses Lebens würden nicht mehr benannt, so die Forscherinnen. Sabine Walper vom Deutschen Jugendinstitut in München bringt es so auf den Punkt: „der Diskurs über Familien ist häufig auch ein Diskurs dessen, wie schwer doch alles ist“, was einem „nicht unbedingt Lust darauf macht, jetzt furchtbar viele Kinder zu kriegen“.

Die Autoren der Studie sehen genau darin das Problem: Die Journalisten tragen in ihren Augen nicht zum Diskurs über Familienbilder bei, sondern zementieren das alte Idealbild der drei- bis vierköpfigen Familie eines heterosexuellen Paares. „Kinderreiche Familien (…) werden meistens nur dann thematisiert, wenn es um Probleme geht: Große finanzielle Belastungen, innerfamiliäre Konflikte und schwierige Wohnverhältnisse. Das Exoten- oder gar Freak-Image haftet den Kinderreichen wie ein Stigma an“, schreiben Prinzing, Tank und Schulten-Jaspers.

Die befragte Journalistin Xenia Frenkel sieht nur eine Perspektive, den demografischen Wandel aufzuhalten: „Wenn unsere Gesellschaft freundlicher ist, dann werden mehr Kinder geboren werden“, zitieren die Wissenschaftler die freie Autorin, die zu Familienthemen in der SZ und in Magazinen wie Eltern publiziert. Diese Freundlichkeit beziehe „sich sowohl auf das gesellschaftliche Image der Kinderreichen, als auch auf eine bessere Vereinbarkeit von Job und Familie etwa durch familienfreundlichere Arbeitszeiten.“

Die untersuchten Medien:

Überregionale Tageszeitungen:

Süddeutsche Zeitung (einschließlich Süddeutsche Zeitung Magazin), Frankfurter Allgemeine Zeitung, Die Welt, Bild, Tageszeitung (taz)

Überregionale Wochenzeitungen:

Die Zeit (einschließlich Zeitmagazin), Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, Welt am Sonntag, Bild am Sonntag

Regionale Tageszeitungen:

Hamburger Abendblatt, Schweriner Volkszeitung, Berliner Morgenpost, Leipziger Volkszeitung, Rheinische Post, Rhein-Zeitung, Stuttgarter Nachrichten, Passauer Neue Presse

Magazine:

Spiegel, Focus

Special Interest Magazine:

Eltern (einschließlich Eltern family), Nido, Brigitte (einschließlich Brigitte Woman), Freundin, Neon

 

Bildquelle: S. Hofschlaeger / pixelio.de

 

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