Haben populistische Medien Mitschuld?

17. Februar 2014 • Qualität & Ethik • von

Selten hat ein Beitrag, den Stephan Russ-Mohl als Medienforscher und Journalist publiziert hat, so viel Echo ausgelöst wie sein Kurz-Kommentar im Berliner Tagesspiegel, der eine Mitschuld populistischer Medien am Schweizer Abstimmungsergebnis zur „Masseneinwanderungsinitiative“ konstatiert. Und selten, so resümiert er jetzt, sei eine anschließende Diskussion um Ergebnisse der Medienforschung so fruchtbar gewesen – und zugleich auch so sehr entgleist.

Sein folgender Beitrag dokumentiert die Kontroverse und bewertet die wichtigsten Diskussionsbeiträge – auch, weil sich die Debatte geradezu als Lehrstück für die Journalistenausbildung eignet.

Zur Erinnerung: Mein Ausgangs-Kommentar berief sich auf zwei Schweizer Forschungsinstitute, die bereits vor der Abstimmung unabhängig voneinander einen Mitschuldigen am Abstimmungsergebnis ausfindig gemacht hatten: die Schweizer Medien.

Das Forschungsinstitut Öffentlichkeit und Gesellschaft (FÖG) der Universität Zürich berichtete, die rechtspopulistische Initiative habe beispielsweise von der mit Abstand größten Zeitung, dem Gratisblatt 20 Minuten, aber auch von der auflagenstärksten Qualitätszeitung, dem sonst eher linksliberalen und auf Seriosität bedachten Tages-Anzeiger, Zuspruch erhalten. Der „,horse race‘-Journalismus, bei dem Kampagnenstrategien statt der Austausch von Argumenten im Zentrum stehen“, habe – so meine Darstellung – mit dazu beigetragen, dass zu guter Letzt die schweigende Mehrheit einen knappen Abstimmungssieg erringen konnte.

Die letzten beiden Halbsätze waren eine naheliegende Schlussfolgerung, die ich gezogen habe, die allerdings so direkt nicht im Forschungsbericht steht – da heißt es wortwörtlich lediglich: Korrespondierend zum „medialen Zuwachs an Pro-Stimmen rücken die Medien jene Lager und Gruppen stärker in den Fokus, die (unerwartet) die Initiative befürworten (z.B. ‚Abweichler‘ innerhalb der Grünen-, FDP- und CVP-Parteisympathisanten). Im Modus eines ‚horse race‘-Journalismus, bei dem Kampagnenstrategien statt der Austausch von Argumenten im Zentrum stehen, setzt sich in der Medienarena das Bild durch, dass die Gegner der Initiative ‚nervös‘ seien (NZZ). Diese Deutung erhält mehr Resonanz als jene der Initiativ-Gegner, wonach die genannten Umfrageergebnisse einen für die Gegenkampagne ‚heilsamen Elektroschock‘ (Le Temps) darstellten.“

Ergänzend hatte das Forschungsinstitut Media Tenor (Rapperswil) darauf verwiesen, dass in den Hauptnachrichten-Sendungen des Schweizer Fernsehens die Ausländer „in erster Linie als Problem präsentiert“ würden, und somit „jeder Entscheid zugunsten der Ausländer eine Überraschung“ gewesen wäre. Media Tenor analysierte Präsenz und Bewertungen der Ausländer in den Schweizer Fernseh-Nachrichten und in anderen Sendungen der SRG seit 2006. „Mehr als 80 Prozent aller Berichte, in denen Ausländer überhaupt von den Nachrichten thematisiert wurden, bezogen sich allein auf das Asylrecht oder Einwanderungsfragen.“ Damit habe der Stimmbürger keine Chance gehabt, „die reale Veränderung im Alltag der Schweiz über die Medien zu erfahren“: Kaum ein Krankenhaus komme „ohne Nicht-Schweizer aus“ und „Forschung und Lehre wären zwischen St. Gallen und Genf undenkbar, würden Wissenschaftler aus Europa, Amerika, Afrika und Asien nicht ihren Beitrag leisten.“

Sodann zum spannenden Teil der anschließenden Diskussion: Rainer Stadler hat sich in seinem NZZ-Blog zu Wort gemeldet. Zitat: „In der FÖG-Analyse steht, dass 20 Minuten in der Untersuchungsperiode vom 18. November 2013 bis zum 6. Februar 2014 insgesamt 36 Beiträge zu diesem Thema publizierte. Zum Überhang an positiv gestimmten Beiträgen über die Initiative notiert die Studie die Zahl 3. Demnach hat die Gratiszeitung ziemlich neutral über die Initiative informiert. Der Tages-Anzeiger brachte in dieser Phase 76 Artikel, wobei der Überhang der Artikel mit Initiative-freundlichem Tenor 13 betrug. Eine Art Pro-Kampagne des Tages-Anzeigers kann man aus diesem Resultat sicher nicht herauslesen.“

Stadler verwechselt hier zwar Prozentpunkte mit Artikelzahlen – aber das ändert an seiner Einschätzung wenig und erschließt sich auch aus der Darstellung des FÖG auch für Nicht-Wissenschaftler nicht ohne weiteres. Zutreffend fügt Stadler hinzu, Redaktionen arbeiteten „nicht mit einem Zählrahmen, um Pro- und Contra-Beiträge punktgenau auszutarieren. Im Tagesgeschäft wirkt auch Meister Zufall mit.“ In diesem Sinn solle man in wissenschaftliche Studien nicht mehr hineinlesen, als diese inhaltlich hergeben können.

Ich habe Stadler (für den ich regelmäßig als NZZ-Autor arbeite) erst einmal auf Facebook zu seiner vertiefenden Analyse gratuliert und dabei auch Schwächen meines eigenen Beitrags eingestanden: „Als ich…meinen Beitrag unter Zeitdruck geschrieben habe, habe ich mich wohl von den zugespitzten Presseerklärungen der beiden Forschungsinstitute dazu verleiten lassen, vorschnelle Schlussfolgerungen zu ziehen. Fazit: Man sollte auch seinen Wissenschaftler-Kollegen nicht alles glauben. Und: Wir brauchen genau solch einen – leider sehr rar gewordenen – Journalismus, der prüft und hinguckt, auch wenn Wissenschaftler sich auf ihre eigenen Fachkollegen berufen….“

Trotzdem lassen sich auch gegen Stadlers Argumentation Einwände geltend machen. Er nimmt ja nobel den Tages-Anzeiger und auch das öffentliche Fernsehen – beide sind in Zeiten der Medienkonvergenz unmittelbare Wettbewerber der NZZ – in Schutz, so wie sich eben Professionsangehörige – darauf hat auch der Medienforscher Mark Eisenegger vom FÖG in einer privaten E-Mail an mich noch einmal hingewiesen – untereinander gerne in Schutz nehmen, wenn sie von außen angegriffen werden.

Auf den ersten Blick erscheint der quantitativen Analyse des FÖG zufolge die Berichterstattung sowohl von 20 Minuten als auch von Tages-Anzeiger in der Tat „ausgewogen“. Gegner und Befürworter kamen in etwa gleich häufig zu Wort, mein „Populismus-Vorwurf“ scheint mithin entkräftet. Auf den zweiten Blick wird man aber doch festhalten müssen, dass der mediale Populismus womöglich gerade darin besteht, dass die beiden Zeitungen den Vereinfachern der SVP gleich viel bzw. sogar etwas mehr Aufmerksamkeit geschenkt haben als der „großen Koalition“ aus allen anderen Parteien, den Gewerkschaften und Wirtschaftsverbänden ebenso wie der Kirchen und Universitäten, die auf die komplizierten Zusammenhänge und Folgeprobleme der Initiative hingewiesen haben. Die Versuchung, im Journalismus zu simplifizieren und auf diese Weise größere Publika zu erreichen, ist angesichts schrumpfender Werbeerlöse und auf Sparflamme gesetzter Redaktionen groß – und genau das ist hier womöglich passiert.

Auch mit der Analyse des Media Tenor über die Berichterstattung des öffentlichen Fernsehens setzte sich Stadler auseinander. Er hat recherchiert, dass die „Tagesschau”, die „Rundschau”, „SRF Börse” und „Eco” ausgewertet wurden. Man könne „darüber streiten, ob ein solcher Programmfächer aussagekräftige Ergebnisse liefern kann. Von Aktualitäten getriebene Sendungen müssten „an die Themen des politischen und wirtschaftlichen Tagesgeschäfts anknüpfen“. Entsprechend verwundere es nicht, dass hauptsächlich über die Asylpolitik und die Einwanderung berichtet wurde.

Sodann fragt Stadler: „Müssten also verstärkt die Leistungen der Ausländer für das Funktionieren der Schweizer Wirtschaft herausgehoben werden, wie der Media Tenor indirekt fordert?“ Wissenschaftliche Untersuchungen wiesen seit längerem darauf hin, dass die Medien die positiven Aspekte der Migration nicht angemessen darstellten. Stadler meint, die  Journalisten sollten die entsprechenden Fakten „in der Tat auf den Tisch legen“, fragt aber, ob eine Nachrichtensendung der richtige Ort dafür sei. „Die Gefahr wäre groß, dass gerade das Fernsehen in die Rolle einer Belehrungsinstanz geriete. Das kommt schlecht an und wäre gar kontraproduktiv.“

Stadler hat wohl die Dynamik der Konkurrenz um Aufmerksamkeit im Hinterkopf, wenn er so fatalistisch akzeptiert, dass sich in den Medien meist schlechte statt gute Nachrichten durchsetzen – und damit auch sensationsgierige, populistische Darstellungsweisen gegenüber solchen, die sich um Ausgewogenheit und „Objektivität“ bemühen, die Oberhand gewinnen. Daran anzuknüpfen wäre allerdings die Frage, inwieweit sich ein öffentlicher Sender, der sich aus steuerähnlichen Gebühren finanziert und einen Integrationsauftrag hat, diesen Auswahlprinzipien des kommerziellen Journalismus umstandslos fügen muss. Vielleicht dürften die Ausländer, die immerhin einen Bevölkerungsanteil von knapp 25 Prozent in der Schweiz stellen und ja ebenfalls die Empfangsgebühr bezahlen, da doch etwas mehr „Minderheitenschutz“ erwarten – allein schon was die Sprache anlangt, in der die öffentlichen Sender mit ihren Publika kommunizieren (aber das ist zugegebenermaßen ein anderes Thema). Dass man zudem publizistisch sogar als kommerzieller Nachrichtenanbieter auch mit „good news“ punkten kann, hat in den 80er und 90er Jahren USA Today mit seinem kometenhaften Aufstieg zur größten Tageszeitung der Vereinigten Staaten vorgemacht.

Auch optisch war Stadlers Diskussionsbeitrag übrigens hübsch inszeniert: Mit Handschellen, als wollten wir Medienforscher die Journalisten in Geiselhaft nehmen. Mein öffentliches „Schuldeingeständnis“ auf Facebook, dass mein Beitrag unter Zeitdruck (2 Stunden bis zum nächsten Sitzungstermin und damit vor Redaktionsschluss) und Platzmangel (2000 Zeichen) zustande gekommen ist, und dass ich mich im Wesentlichen auf öffentliche Erklärungen der beiden Forschungsinstitute gestützt habe, ohne die mitgelieferten Daten gründlicher analysiert zu haben, hat der Tages-Anzeiger zum Anlass genommen, um meine Aussagen für seinen eigenen Diskussionsbeitrag zu instrumentalisieren, der ihn von jedweder Mitschuld reinwäscht, dafür aber einmal mehr „die Medienforschung“ auf die Anklagebank setzt.

Schon die Rubrik des Beitrags von Daniel Foppa lässt wenig Gutes erwarten: „Forschung aus der Hüfte. Wenn Medienforscher in Hektik verfallen“ heißt es da – und bringt mich als Kronzeugen gegen das FÖG in Stellung. In Stil und Inhalt bestätigt sodann der Tages-Anzeiger auch im Umgang mit Medienforschung genau meinen Vorwurf, den ich – nach nunmehr gründlicherer Überprüfung – weiterhin aufgrund der Datenlage auch zur Berichterstattung über die Masseneinwanderungsinitiative aufrechterhalte: Es wird eher „populistisch“ berichtet statt hinreichend „inhaltlich-sachlich“ argumentiert. Das FÖG hat Recht, wenn es in seiner eigenen Stellungnahme festhält, der Tages-Anzeiger habe es „gesamthaft verpasst, sich seriös mit unseren Studienresultaten auseinanderzusetzen.“

Höchste Zeit wohl, dass Chefredaktor Res Strehle das Versprechen einlöst, das er vor knapp einem Jahr gemacht hat. In Solothurn hat er vor der Creme de la creme der Schweizer Medienforscher und Journalisten feierlich versprochen, der Tages-Anzeiger werde seine Kompetenz in der Berichterstattung über Medien und Journalismus stärken. Bleibt zu hoffen, dass der neue Kollege oder die neue Kollegin bald gefunden wird, und vielleicht ja auch von Medienforschung eine Ahnung hat.

Abschließend noch ein paar weitere Anmerkungen:

1) Wenn Wissenschaftler im Kampf um mediale Aufmerksamkeit sich Gehör verschaffen wollen, müssen auch sie ihre Botschaften zuspitzen. Zugespitzt habe im konkreten Fall allerdings ich, nicht das FÖG – und diese Zuspitzung hat sich dann in anderen Medien weiter verselbständigt. So „trommelte“ dann laut Schweiz am Sonntag der Tages-Anzeiger zu guter Letzt für die SVP.

2) Wenn Journalisten über Forschungsarbeiten schreiben, sollten sie sich möglichst nicht allein auf Medienmitteilungen stützen, sondern diese zum Anlass nehmen, um nachzufragen und nachzurecherchieren. Rainer Stadler hat das erfreulicherweise getan, den meisten anderen Redaktionen fehlen dazu freilich oftmals die Ressourcen und die Zeit. Die meisten Pressestellen wissen das inzwischen und beuten diesen Umstand leider gelegentlich in ihrem eigenen Interesse aus.

3) Das Beispiel der beiden zitierten Studien zeigt einmal mehr, wie unterschiedlich sich Daten interpretieren lassen, die mit wissenschaftlichen Methoden erhoben wurden.

Sind populistische Medien also mit Schuld am Abstimmungsergebnis zur Masseneinwanderungsinitiative? Nachdem jetzt die verfügbaren Analysen auf dem Tisch liegen und die Argumente ausgetauscht sind, mag sich im konkreten Fall darüber jeder selbst seine Meinung bilden.

Stadler zitiert in seinem Diskussionsbeitrag abschließend den Schriftsteller Thomas Hürlimann. Dieser hatte in der FAZ darauf aufmerksam gemacht, dass die schweizerische Demokratie vor allem dann funktioniere, „wenn es bei Volksabstimmungen nur eine relativ geringe Beteiligung gibt.” Denn dann gingen die politisch Informierten an die Urne. Kluge Resultate seien die Folge. Das sieht Hürlimann nicht mehr gewährleistet, wenn die Mobilisierung stark sei und mehr als fünfzig Prozent der Stimmberechtigten aktiv würden, wie im aktuellen Fall. Diese Feststellung klingt für Stadler „etwas hochnäsig“. Die Annahme, dass „bei steigender Stimmbeteiligung die Anzahl der wenig informierten Urnengänger wächst“, scheint indessen auch ihm naheliegend: „Entsprechend“, so Stadler, „erhalten die massenwirksamen Botschaften eindimensionaler Schlagzeilen und einprägsamer Bilder ein größeres Gewicht. Dann entwickelt die stereotyp und unreflektiert wiederholte Rede von „überfüllten Zügen und verstopften Straßen, wie es in diesem Abstimmungskampf geschah, ihre gefährliche rhetorische Kraft.“

Damit ist eine weitere Grundsatz-Frage aufgeworfen: Besteht Demokratie ausschließlich aus der Mehrheits-Regel – oder nicht doch aus einem sehr viel komplexeren Gefüge wechselseitiger Machtkontrolle von Volkssouverän, Regierung, Parlament und Justiz? Wie sind Mehrheitsentscheidungen und Minderheitenschutz gegeneinander auszubalancieren? Wie ist in hochkomplexen, die Lebensqualität entscheidenden Fragen eine 50,3 Prozent-Mehrheit zu gewichten, wenn eine Minderheit von 49,7 Prozent anderer Meinung war und 44 Prozent der Stimmbürger sich an der Abstimmung gar nicht beteiligt haben?

Es bleibt zu hoffen, dass gerade die Schweiz mit ihrer direkten Demokratie, ihrem hochdifferenzierten Föderalismus und ihrem klugen System der Konsenssuche und Konkordanz-Demokratie einen Weg aus dem Schlamassel finden wird, das das Votum vom 9. Februar angerichtet hat. Dazu wird es allerdings im Umgang mit dem Volksentscheid auch Fingerspitzengefühl auf der anderen Seite, in Brüssel, brauchen. In Deutschland oder Belgien, in Frankreich oder Italien würde trotz eines sehr viel niedrigeren Ausländer-Anteils an der Bevölkerung eine solche Abstimmung wohl kaum anders ausgehen als in der Schweiz, wenn sie denn in diesen EU-Ländern stattfinden dürfte.

In einem höheren Sinne haben „die Medien“ im Übrigen wohl an jedem Abstimmungs- oder Wahlergebnis eine Mitverantwortung. Denn fast alles, war wir wissen, wissen wir aus den Medien – so schon vor vielen Jahren der Soziologe Niklas Luhmann. Daran hat sich auch im Zeitalter der sozialen Netzwerke wenig geändert. Dass die Medien sicherlich nicht die „Hauptschuldigen“ sind und es eben noch viele andere, diffuse Gründe gibt, die das Abstimmungsergebnis mit erklären helfen, haben wenige Diskussionsbeiträge so einfühlsam veranschaulicht wie eine Reportage der NZZ, die am Beispiel des Dorfs Hellikon in der Nähe von Basel zeigt, welche Wunden der Globalisierungsprozess auf lokaler Ebene auch dann hinterlässt, wenn vor Ort kaum Ausländer zugegen sind.

Bildquelle: nggalai / Flickr CC

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