“Nimm eine Dusche, dann kommt das gut”

10. November 2008 • Qualität & Ethik • von

Erstveröffentlichung: St. Galler Tagblatt

Das Grauen ist Alltag im Journalismus. Und danach? Welche Spuren hinterlassen solche Katastrophen im Leben der Journalisten selbst? Das war das Thema einer Tagung.

«Man hat auch das Recht, nicht traumatisiert zu sein, wenn man über traumatische Ereignisse berichtet», sagt Gregor Sonderegger, der Russland-Korrespondent des Schweizer Fernsehens.

An einer Tagung des Vereins Qualität im Journalismus berichtete er letzte Woche, wie er Anfang September 2004 quasi aus dem Kugelhagel des Sturms auf die Schule in Beslan heraus reportierte, wo Hunderte Geiseln (Schüler, Eltern, Lehrer) festgehalten wurden. «Ich war wie in einem Tunnel, ich berichtete einfach.» Damals war er noch nicht selber Vater, heute könnte er schwerer auf Distanz bleiben, vermutet er.

Lernen von der Polizei

Mittendrin sein und über das Grauen berichten: Das gehört nicht nur bei vielen Auslands- und Kriegsberichterstattern zu den Alltagsaufgaben. Im Gegenteil. «Ich bin nicht unmittelbar betroffen, meine Erfahrungen sind eher secondhand, das schafft Distanz», meint der Gerichtsreporter Thomas Hasler vom Tages-Anzeiger. Dennoch: Er sieht Obduktionsbilder von kleinen Kindern, er studiert Akten, in denen minutiös ausgebreitet ist, wozu Menschen fähig sind, er hört Schilderungen grauenhafter Verbrechen, sieht Kriminelle und Opfer. Auch drei von vier Lokaljournalisten sind des Öfteren konfrontiert mit möglicherweise traumatisierenden Erlebnissen: tödlichen Unfällen, Abstürzen, Katastrophen.

Urs Schlatter, Redaktionsleiter von Radio Pilatus, hat deshalb die Ausbildungsleiterin der Kantonspolizei Luzern in die Redaktion eingeladen, um die für den Umgang mit traumatischen Situationen zu schulen. Anlass war ein tödlicher Unfall gewesen. Die diensthabende Kollegin, ausgerechnet die unerfahrene Volontärin, kehrte verstört zurück. Und die Kollegen wussten nicht, wie sie mit ihr umgehen sollten. Bald nach dem Kurs musste das Gelernte schon angewendet werden: Ein Amokläufer bei Emmen überfuhr neun Strassenarbeiter.

Arbeitsabläufe als Schutzschild

Die Ausbildungsleiterin der Polizei hatte der Redaktion die Arbeit des Care-Teams der Polizei nahegebracht. Dort heisst die Devise: Sich einstellen auf das, was einen schlimmstenfalls erwartet, Distanz halten, und danach: reden und Grundbedürfnissen nachkommen – trinken, duschen, versuchen zu schlafen.

Typisch ist, dass vor Ort die meisten funktionieren, weil die Arbeitsabläufe einen unsichtbaren Schutzschild formen. Normal sind auch Stress-Symptome danach, wie Appetit- und Schlaflosigkeit, schlechte Konzentration und Erschöpfung, und starke Gefühle – Trauer, Wut, Angst. Wer aber die Bilder des Schreckens nicht mehr aus dem Kopf bekommt, wer immer wieder dieselben Schreie hört, viele Nächte hindurch kein Auge zutut, der muss therapeutische Hilfe suchen.

Jeder reagiert ein Stück weit individuell. Thomas Hasler drängt es oft ans Klavier. Er hat Lust auf Süssigkeiten. Gregor Sonderegger sucht sich kleine Fluchten. In Beslan ging er zwischendurch in ein Nachbargebäude, um einfach in Ruhe hinzusitzen. SF-Nahost-Reporter André Marty knüpfte ein Netzwerk von Freunden, das sofort alarmiert ist, wenn er sich nicht alle paar Stunden meldet.

«Mein Schutz ist mein Auftrag», sagt Christoph Feurstein. Der Österreicher interviewte für das ORF-Magazin «Thema» Täter und Opfer, deren Handeln und Auftreten prägt: Natascha Kampusch etwa, kurz nachdem sie ihrem Peiniger entkam. Gerti Jones, die einen zum Tode verurteilten Amerikaner heiratet und bis zur Hinrichtung begleitet. «Habe ich das Gefühl, ich nütze der Person, die ich begleite, oder der Gesellschaft, dann kann ich tief eintauchen in Schicksale.»

Nach dem Wirbel um Natascha Kampusch stand Feurstein vor dem Zusammenbruch, schlief nicht, ass nicht, diagnostizierte an sich ein Burn-out. Schlimm für ihn war auch, dass sein Sender, der ORF, davon nichts wissen wollte und ihn behandelte wie Luft. «Nimm eine warme Dusche, dann kommt das schon gut», beschrieb Marty die Reaktion eines Kollegen in der Heimatredaktion in einem Telefonat, in dem er schilderte, wie er gerade zuvor von Polizisten zusammengeschlagen worden.

Sonderegger erlebte anderes. Seine Ansprechpartnerin in der Redaktion erkundigte sich genau, wie es ihm in Beslan ging. Das wirkte: «Ich fühlte mich aus der Ferne dadurch irgendwie beschützt.»

Individuelle Bewältigung

Wäre das alles ein Anlass für Medienhäuser – ähnlich wie Rettungskräfte oder Militärs seit langem –, eine systematische Betreuung anzubieten? Fernseh-Chefredaktor Ueli Haldimann beharrte auf individuellen Bewältigungsstrategien. Wer die Hitze nicht ertrage, müsse raus aus der Küche, und wer schwierige Aufträge übernehme, müsse das freiwillig tun und sich vorbereiten. Wer aus Krisengebieten berichte, brauche Erfahrung, müsse körperlich fit und belastbar sein. Man mahne die Kollegen ständig, keine unnötigen Risiken einzugehen, und in heiklen Fällen lasse man den Kameramann durch Leibwächter begleiten. Ein «Care-Team» oder eine obligatorische Nachbetreuung könne man sich nicht leisten. Journalisten dürften sich überdies selbst nicht zu ernst nehmen.

Diese Haltung provozierte Widerspruch. Mark Brayne plädierte, noch viel sensibler zu werden. Er erläuterte die verschiedenartige Veranlagung zur Traumatisierung. Der ehemalige Krisenreporter der BBC arbeitet jetzt als Psychotherapeut.

Thomas Hasler verwies auf die ihm aus dem Medienhaus Tamedia bekannten und behandelten Trauma-Fälle: In jedem musste der Arbeitgeber initiativ werden, die Betroffenen hatten offenbar die Dramatik ihrer Lage weit schlechter erfasst.

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