“Die ‘Produtzer’ müssen Medienkritik üben”

20. Dezember 2010 • Digitales • von

Im Netz tobt der Cyberwar gegen Wikileaks. Der Mensch ist nun wirklich jedes anderen Menschen Wolf, ein digitaler Wolf.

Die Ordnungen und Schutzrechte der Nationalstaaten und aller Organisationen, die auf dieser Struktur aufbauen, gelten nicht mehr. „Ich bin kein Kulturpessimist“, wollte Matthias Rath nicht missverstanden werden. Er analysiere nur das, was im Hier und Jetzt passiert. Rath ist Direktor des Instituts für Philosophie und Theologie an der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg.

Im Rahmen der Hedy-Lamarr-Lectures, organisiert von der Akademie der Wissenschaften, Medienhaus Wien und Telekom Austria, sprach Rath über das Bonum communae 2.0. Positiv sieht er in diesem Zusammenhang das „neue Engagement“ unzähliger „Produtzer“ – eine Wortschöpfung aus „Produzent“ und „Nutzer“, im partizipativen Web 2.0 oft ein und dieselbe Person.

„Der Nationalstaat“, so Rath, „ist obsolet“, er sei für das Gemeinwohl, auch daran anknüpfende Maßnahmen wie Medienbildung oder Schutzrechte, nicht mehr in die Verantwortung zu nehmen. So lässt Rath auch den Ausdruck „zivilen Ungehorsams“ für Online-Proteste nicht gelten: „Im Netz gibt’s das nicht: weil es ein Auflehnen gegen Normen bedeutet. Und im Netz existieren keine Normen.“

Die Verantwortung müssen ihm zufolge deshalb andere übernehmen: erstens die Individuen selbst. „Es geht um die Rehabilitation der Tugend Moral, um Haltung“, ist Rath überzeugt. Die Produtzer müssen Medienkritik üben, die Fähigkeit entwickeln, Inhalte zu bewerten. Das funktioniere nur über die Vermittlung von Medienkompetenz. “Die inkludiert selbstverständlich Lesen und Schreiben als Grundkompetenzen, lebenspraktische Orientierung sowie die Vermittlung politischer und gesellschaftspolitischer Vorstellungen“.

Rath zufolge sind 20 Prozent der europäischen Jugendlichen heute funktionale Analphabeten – aber digital oho. „Wir sollten nicht fragen, ob türkische Migranten Thomas Mann lesen können, sondern sie mittels SMS, Blogs und Wikis Medienkompetenz entwickeln lassen.” Solche neuen Kommunikationsformen sollten in der Schule als
didaktische Methoden in den Unterricht eingebunden werden. “Ich erwarte nicht, dass sie zu Abonnenten der ,Frankfurter Allgemeinen Zeitung‘ werden.“

An dieser Stelle setzt Rath als zweites Pferd auf die Medienunternehmen: Sie sollen Medienkompetenz vermitteln, globale, medienethische Diskurse öffnen. Als Problem dabei räumt er ein, dass der Public Value heute zwar auf zwei Ebenen diskutiert wird, auf ökonomischer wie auf öffentlich-rechtlicher – derzeit allerdings deutlich stärker auf ersterer. Der Eigennutzen hat gegenüber dem Gemeinwohl noch Vorrang. Wie soll sich das ändern? „Da bin ich sprachlos. Die Wertfrage wird gerade im öffentlich-rechtlichen Rundfunk permanent ausgeklammert“, unglaublicherweise, so Rath, durch die Rundfunkräte, in denen Kirche, Parteien etc. vertreten sind.

Indes sind auch private Medien für Rath „kein Hort der Moral“: „Bertelsmann soll uns nicht erklären, was Medienmoral ist. Aber ein solches Unternehmen könnte die Basis schaffen, um Probleme im digitalen Raum zu diskutieren, um Aufmerksamkeit zu schaffen.“

Den Journalisten rät Rath übrigens, nicht zu resignieren: Ihre Kompetenz zu selegieren und gewichten wird auch in der neuen Ordnung gefragt sein. Auch zuletzt mussten schließlich „Spiegel“ und „Guardian“ Wikileaks-Dokumente für das breite Publikum zugänglich machen.

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