Schockwellen im Mediensystem

3. Mai 2011 • Qualität & Ethik • von

Der Reaktorunfall in Fukushima wurde zu einem „Schlüsselereignis“ für die Mediengesellschaft. Der Autor erläutert aus medienwissenschaftlicher Sicht, wie die Katastrophenberichterstattung in ein folgenreiches Schlüsselthema umschlägt.

Der Reaktorunfall in Fukushima beherrschte im März die Titelseiten, Websites und Nachrichtensendungen weltweit. Infolge eines Tsunamis war die Stromversorgung und damit die Kühlung ausgefallen, was zu einer teilweisen Kernschmelze mit hoher Radioaktivität führte.

Die Erklärung der Publizistik- und Kommunikationswissenschaft für die große Beachtung lautet, dass das Ereignis nahezu sämtliche Kriterien für höchsten Nachrichtenwert erfüllt. Es vereint die Nachrichtenfaktoren Überraschung, emotionale Visualisierung und bildmächtige Dramatik, Schaden, Konflikt, Negativität, Relevanz, und Reichweite auf sich.Dies sind nicht nur für Journalisten,  sondern auch für das Publikum relevante Kriterien, nach denen die Bedeutsamkeit einer Nachricht bemessen wird. Die Medien springen auf solche Ausnahmethemen an, weil Journalisten laut Umfragen die wichtigste Aufgabe ihres Berufes darin sehen, dem Publikum möglichst schnell Informationen über relevante Ereignisse zu vermitteln und das Geschehene zu erklären. Diese Aufgabe entspricht auch der demokratienormativen Erwartung an die Medien: Sie sollen als zentrale Vermittlungsinstanz der Gesellschaft den öffentlichen Diskurs mit jenen Themen befüttern, die die Merkmale Faktizität, Relevanz und Neuigkeitswert aufweisen.

Darüber hinaus zeichnet sich der Reaktorunfall durch weitere Merkmale aus, die ihn zum Schlüsselereignis machen. Die kollektive Gedächtnisforschung in der Soziologie versteht unter Schlüsselereignissen solche Geschehnisse, die von großen Bevölkerungsteilen als einschneidend empfunden werden, weil sie eine hohe soziale und politische Brisanz aufweisen. Und die Lebensverlaufsforschung der Psychologie versteht unter Schlüsselereignissen jene kritischen Vorgänge, die Wendepunktcharakter aufweisen und darum einen biographischen Umschwung auslösen können.

Prägender Einfluss

Der Reaktorunfall von Fukushima ist, ähnlich wie jener von Tschernobyl, prototypisch: Als singuläre Vorfälle sorgen sie für einen Wendepunkt in der Kernenergiediskussion und verleihen dem Thema AKW-Sicherheit eine neue Qualität. Dies gilt besonders für Deutschland, wo die Reaktionen heftiger gerieten als in den Nachbarländern. Nachdem in der deutschen Presse vor dem aktuellen Unfall kaum Beiträge über Kernenergie erschienen waren, verdrängte das Thema nun alle anderen Themen. Die Agenda Setting-Forschung spricht von einem „killer issue“, das in einer Berichterstattungsfontäne nach oben gespült wird und sich umgehend gegen weichere „victim issues“ durchsetzen kann. Die so ausgelöste Nachrichtenwelle ist auch darauf zurückzuführen, dass die Fukushima-Berichterstattung rasch zu einer Berichterstattung über die deutsche Energiepolitik und ihre nationalen AKWs wurde. Die Bundesregierung änderte ihren Kurs und sah sich kurzfristig zum Moratorium veranlasst, mit dem die zuvor beschlossene Laufzeitverlängerung für drei Monate ausgesetzt wurde.

Schlüsselereignisse sollen hier definiert werden als herausragende Geschehnisse, die erstens eine intensive Medienbeachtung hervorrufen und zweitens die nachfolgende Berichterstattung beeinflussen, indem sie Nachrichtenwellen auslösen, ein Thema neu etablieren und Nachrichtenauswahlkriterien ändern.

Kampf um Deutungshoheit

Die Ursachen für die intensive Medienbeachtung haben wir benannt. Ergänzend sei hierzu noch angemerkt, dass Schlüsselereignisse einen hohen kommerziellen Animationsnutzen haben. Sie kommen dem wachsenden Sensationalismus von marktabhängigen Medien entgegen. Dies schlug sich beispielsweise in den BILD-Titelseiten „Atom-Horror“ oder „Flucht aus der Todeszone“ an den ersten Tagen wider. Schlüsselereignisse erwiesen in der Vergangenheit auch oft eine Vermarkungstauglichkeit als lang anhaltende „Saga“ – dies zeigte sich besonders bei Schlüsselereignissen mit „Promi“-Bezug wie OJ Simpson oder Monica Lewinsky.

Kommen wir aber zum zweiten Definitionselement, den Nachrichtenwellen. Diese Wellen bestehen zum einen aus Berichten über das Schlüsselereignis selbst, und zum anderen – wichtiger noch – aus Berichten über ähnliche und verwandte Themen und Ereignisse. Schlüsselereignisse stellen aufgrund ihres einschneidenden Charakters so genannte „unbestimmte Situationen“ dar, in denen das Orientierungsbedürfnis steigt und die Abhängigkeit des Publikums von Medieninformationen zunimmt (Konzept der Media Dependency).  Weil das Publikum mehr Informationen nachfragt und auch die  Konkurrenzmedien intensiv berichten, entsteht für Journalisten ein Sog: Um das Publikumsinteresse bedienen und im Konzert der Medien bestehen zu können, öffnet der Journalismus seine Schleusen für eine große Bandbreite an Informationsquellen: Experten werden befragt, Entscheidungsträger, Betroffene. Und es schlägt die Stunde der Interessengruppen, Aktivisten, Bewegungssprechern und Lobbyisten, die das Schlüsselereignis für ihre Ziele mittels Informationspolitik auszunutzen gedenken.

So war rasch zu beobachten, dass AKW-Gegner und Umweltschutzgruppen auf der einen Seite und Laufzeitverlängerungsbefürworter und Vertreter der Energiewirtschaft auf der anderen Seite den Medienzugang suchten, um ihre Deutung durchzusetzen. Allerdings verkomplizierten die laufenden Landtagswahlkämpfe in Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg die Lage. Anstatt es zu einem Deutungsgefecht mit offenem Visier kommen zu lassen, traten die Laufzeitverlängerungsbefürworter den strategischen Rückzug an. Wie die Laufzeitverlängerungsgegner richteten sie sich in ihren Stellungnahmen ebenfalls an die Medien oder inszenierten Aufmerksamkeit für ihre Positionen – beide trugen somit zur Nachrichtenwelle bei.

Wie immer in solchen Fällen treten Themensurfer auf, die das Schlüsselereignis für die eigenen Ziele und Zwecke zu instrumentalisieren versuchen; und es treten Themensponsoren auf, die an der Problemdefinition mitzuwirken versuchen. Sie machen sich zunutze, dass emotionale Themen vom Publikum nicht rationalverarbeitet werden. Weite Bevölkerungskreise sind in solchen Fällen empfänglich für einen verbalen und visuellen Kommunikationsstil,  der impulsive Assoziationskaskaden auslöst und an kulturell angelegte Ängste anknüpft. Emotionale Medienwirkungen werden in der Publizistikwissenschaft gegenwärtig intensiv erforscht, und zur „German Angst“ finden sich bei Google Scholar 436 wissenschaftliche Publikationen.

Für manchen mag dies zynisch klingen, obwohl es so nicht gemeint ist. Das Wählervotum in den Landtagswahlen und die sie begleitende Berichterstattung belegen jedenfalls, dass sich die Laufzeitverlängerungsgegner mit ihrer Erstdeutung durchgesetzt haben: Dass Fukushima kein verhängnisvoller Einzelfall, sondern symptomatisch für ein strukturelles Problem der gegenwärtigen Energiepolitik sei. Dasselbe Ereignis löste in der Schweiz, wo der Verfasser dieses Beitrags lebt, weniger heftige Reaktionen in Öffentlichkeit, Politik und Medien aus.

Das Thema wird etabliert

Ein weiteres Element unserer Definition verweist auf die Funktion von Schlüsselereignissen, ein Thema zu etablieren. Diese Fähigkeit zur Themenetablierung wird in der Publizistik- und Kommunikationswissenschaft mit Agenda Building und der Dynamik von Issue Attention Cycles erklärt. Danach durchläuft die Entstehung öffentlicher Themen eine Abfolge mehrerer Phasen. Die erste ist die sogenannte “pre-problem stage”, wo Realdaten bereits auf die Existenz eines Problems hinweisen (z.B. zu Kernenergierisiken), es aber noch keine öffentliche Aufmerksamkeit erreicht hat.

Schlüsselereignisse kristallisieren Aufmerksamkeit, simplifizieren ein komplexes Problem und machen es für eine grosse Öffentlichkeit begreifbar, definieren es dadurch und helfen bei der Kreation eines neuen Themas. Dabei spielen ikonenhafte Schlüsselbilder (z.B. Männer mit Schutzanzügen und Geigerzählern) eine grosse Rolle; sie funktionieren symptomatisch, indem sie das dahinter stehende allgemeine Probleme aufzeigen.

Folglich ist die zweite Stufe im Themenaufmerksamkeitszyklus die “alarmed discovery stage”, wo ein dramatisches Ereignis die Öffentlichkeit für ein Thema alarmiert. Im März beobachteten wir die emotionale Reaktion der deutschen Medien auf das japanische Auslöseereignis, welches daher als „trigger event“ für die Nachrichtenwelle klassifiziert werden kann. Diese Nachrichtenwelle speist sich nicht nur aus aktuellen Meldungen, sondern auch durch Griffe ins Redaktionsarchiv: Ähnliche Ereignisse der Vergangenheit gelten plötzlich als nachrichtenwürdig. Es werden alte Dokumentationen zu Tschernobyl, zum Schnellen Brüter in Kalkar oder zu den Anfängen der AKW-Bewegung ausgestrahlt. Neue ähnliche Fälle werden ebenfalls nachrichtenwürdiger, selbst wenn sie nur klein sind und nur losen Bezug zum Themenkern aufweisen.

Damit sind wir beim letzten Element unserer Definition: Die Nachrichtenauswahlprozesse ändern sich gemäß den Prämissen der Schema-Forschung. Ereignisse, die als Schema-konsistent mit dem prototypischen Auslöseereignis wahrgenommen werden, haben eine größere Publikationschance, weil sie den durch das Schlüsselereignis geschaffenen Bezugsrahmen bestätigen.

Nationale Unterschiede

Selbstkritisch ist allerdings anzufügen, dass die hier vorgeschlagene Definition an den Berichterstattungsfolgen von Schlüsselereignissen festgemacht ist. Es handelt sich also nicht um eine Realdefinition, die sich auf das Wesen der zugrundeliegenden Ereignisses bezieht, sondern um eine analytische Definition, die die Funktion von Schlüsselereignissen in der Massenkommunikation bestimmt.

Eine an Ereignismerkmalen festgemachte Definition muss scheitern, weil andere Umfeldbedingungen mitbestimmen, ob ein Ereignis als herausragend und wendepunktartig wahrgenommen wird oder nicht. Was aber verallgemeinerbare Kriterien für das Herausragende sind, warum einige herausragende Ereignisse zu Schlüsselereignissen werden und andere nicht, und warum ein Ereignis im einen Land zum Schlüsselereignis wird und in einem anderen nicht – dies sind Fragen, die mit einem umfangreichen empirischen Forschungsprogramms beantwortet werden können und sich nicht allein theoretisch lösen lassen.

Welche Thematisierungs- und Kultivierungseffekte von der deutschen Berichterstattung über Fukushima ausgehen mögen, kann noch nicht gesagt werden. Ein nüchterner, wissenschaftlicher Blick auf die Konstruktions- und Überhitzungsprozesse öffentlicher Themen kann aber dabei helfen, sachgerechte Folgerungen abzuleiten.

Erstveröffentlichung: Message Nr. 2/2011

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