Mediale Skandalisierung in Skandinavien

9. Oktober 2012 • Qualität & Ethik • von

Die skandinavischen Länder Dänemark, Norwegen, Schweden und Finnland galten lange als „skandalfreie Zone“– vor allem im Vergleich mit anderen Teilen Westeuropas und den USA.

Dass auch die nordischen Länder von Skandalen mittlerweile nicht mehr verschont bleiben, zeigt das neue Buch „Scandalous! The Mediated Construction of Political Scandals in Four Nordic Countries“, herausgegeben von den Journalistik-Professoren Sigurd Allern (Universität Oslo) und Ester Pollack (Universität Stockholm).

Dänemark, Finnland, Norwegen und Schweden verbindet viel: Die Herausgeber betonen in einem Beitrag, den sie zusammen mit Anu Kantola (Universität Helsinki) und Mark Blach-Ørsten (Universität Roskilde, Dänemark) verfasst haben, dass politische Institutionen, Mediensystem, Wirtschaftsstruktur, Bildungssystem und soziale Grundfeste ähnlich strukturiert sind. Die Länder im Norden Europas unterscheiden sich aber auch deutlich voneinander, zum Beispiel in ihrer politischen Geschichte und in der Pflege ihrer internationalen Beziehungen.

In Bezug auf politische Skandale sieht es ähnlich aus: Es gibt Analogien, aber auch feine Unterschiede. Mächtigen Institutionen nachzuspüren ist ein zentrales Motiv und professionelles Ziel vieler Journalisten. Solchen Spürhund-Aktionen folgen hin und wieder Skandale. Und Skandale können helfen, die Medien als vierte Gewalt zu legitimieren. Nicht selten enden sie damit, dass den Rechercheuren Journalistenpreise überreicht werden, so die Herausgeber. Es sei dennoch eher naiv, alle Medienskandale im Hinblick auf eine Festigung demokratischer Prozesse interpretieren zu wollen. Politische Nachrichten konkurrierten mit Berichten aus anderen Bereichen um Aufmerksamkeit, so zum Beispiel mit Unfällen, Naturkatastrophen und Kriminalität. Dieser Wettbewerb führe dazu, dass die Medien solchen politischen Geschehnissen Aufmerksamkeit schenkten, die Potenzial für eine Dramatisierung hätten.

Möglichkeiten zu dramatisieren – so betonen die Herausgeber – hätten die Journalisten genug: „Die Schilderung der Normverletzung, der journalistische Blickwinkel, die Quellen, die hervorgehoben (oder unterdrückt) werden, die Visualisierung des Skandals und die Proportionen, die der Affäre zugeschrieben werden, hängen allesamt von journalistischen Entscheidungen und Auswahlprozessen ab“. Journalisten gäben in ihren Berichten außerdem Deutungsrahmen vor, so zum Beispiel die von Märchen, Sagen oder Mythen – dem Bettler, der zum König gekrönt werde, das Schema von David und Goliath bzw. dem Individuum, das gegen die übermächtige Bürokratie kämpfe.

Die Interpretation von Skandalen werde durch solche vorgegebenen Muster stark vereinfacht. Sie würden damit oftmals zum „Melodrama“. Gebe im Finale ein Skandalisierter seine Schuld zu, übernehme die Rolle des reumütigen Sünders und bitte seine Organisation und die Öffentlichkeit (durch die Medien) um Vergebung, so übernähmen die modernen Medien „konkret die Rolle, die früher von der Kirche besetzt war, indem sie sündiges Verhalten beurteilen, Buße nahelegen und Vergebung erwägen“.

Die Rolle der neuen „Gerechten“ beleuchtet Anu Kantola (Universität Helsinki) anhand eines der größten Polit-Skandale Finnlands: Im Jahr 2008 wurde bekannt, dass Abgeordnete ihre Sponsoren nicht offenlegten, obschon dies acht Jahre zuvor gesetzlich festgeschrieben worden war. Der Autor zeigt in diesem Zusammenhang enorme Unterschiede in der Bewertung des Skandals auf, je nach Alter und damit Generationszugehörigkeit der Journalisten: Ältere, in oder vor den frühen 60er Jahren geboren, empfanden den Skandal als übertrieben und zum Teil sogar aufgeblasen. Jüngere Journalisten, in den späten 60ern und danach geboren, sahen den Skandal eher positiv: Er hinterfragte für sie „das bestehende, von Übereinstimmung geprägte politische System“, er „enthüllte die verfaulte Seite der Politik und öffnete die Augen“.

Ein politischer Skandal involviert Allern und Pollack zufolge politische Institutionen, politische Prozesse, Entscheidungen – oder die Politiker persönlich in ihrer Funktion als öffentlich berufene oder gewählte Amtspersonen. Ihrer Studie zufolge haben von 1980 bis 2009 die politischen Skandale in allen skandinavischen Ländern zugenommen – besonders in jüngster Zeit: In den beiden Jahrzehnten von1980 bis 1989 und von 1990 bis 1999 registrierten die Herausgeber gemeinsam mit Kantola und Blach-Ørsten nur jeweils 20 Prozent der Skandale, im letzten untersuchten Jahrzehnt von 2000 bis 2009 waren es fast 60 Prozent. Besonders ausgeprägt zeigt sich dieser Trend in Schweden: Im ersten untersuchten Jahrzehnt wurden 14 Prozent der Skandale registriert, von 1990 bis 1999 waren es 20 und von 2000 bis 2009 67 Prozent.

Die Normüberschreitungen, die zu Skandalen führen, sind dabei nicht in allen Ländern gleich: Wirtschaftliche Verstöße, darunter Steuerhinterziehung oder Korruption, dominierten in Dänemark (38 Prozent), Norwegen (53 Prozent) und Schweden (39 Prozent). Die Normüberschreitung „Machtmissbrauch“ führte mit 26 Prozent besonders in Schweden zu Skandalen. Am stärksten zugenommen haben zwischen 1980 und 2009 Skandale, die auf „inakzeptablem persönlichem Verhalten“ beruhen. Dazu zählen die Autoren uneheliche sexuelle Affären, sexuelle Belästigung und Alkoholmissbrauch. Besonders in Finnland hat dieser Typ der Normüberschreitung an Bedeutung gewonnen (49 Prozent der Skandale zwischen 1980 und 2009).

Die Autoren konstatieren, dass Persönliches und Privates immer stärker in den medialen Fokus gerät: „Die Grenze zwischen dem, was sich auf der ‚Bühne‘ und ‚dahinter‘ abspielt, wurde verwischt“. Es sei aber paradox, dass die nordischen Gesellschaften in Bezug auf viele Streitfragen toleranter und liberaler geworden seien, das politische Spitzenpersonal dagegen mit strengeren moralischen Anforderungen konfrontiert sei.

Ein weiteres Merkmal von politischen Skandalen sei deren ungewisser Ausgang. Wie „groß“ die Geschichte werde, hänge von der Anzahl der Anhänger und Kritiker, von der Nachrichtenlage und damit vom Wettbewerb mit anderen Nachrichten sowie von den Handlungen der Skandalisierten ab. Es gibt in der vorliegenden Studie keine Hinweise darauf, dass Frauen in der Politik häufiger Opfer eines Skandals werden, so die vier Autoren Allern, Pollack, Kantola und Blach-Ørsten. Die Konsequenzen der Skandalisierung seien aber eindeutig unterschiedlich: Während bei den untersuchten Skandalen 65 Prozent der weiblichen Regierungsmitglieder zurücktreten mussten, war dies bei ihren männlichen Kollegen nur in 33 Prozent der Fall. Wenn Frauen in Skandale verwickelt werden, scheint ihnen ihre Umwelt dies nicht so gern zu verzeihen wie den Männern.

Inspiriert von Machiavellis „Il Principe“, argumentieren Anders Todal Jenssen, Professor für Soziologie und Politikwissenschaften und Audun Fladmoe, Research Fellow für Politikwissenschaften (beide an der Universität Trondheim in Norwegen), dass politische Gegner, seien sie nun aus der eigenen Partei oder einer konkurrierenden, mit Skandalen eigene Ziele verfolgten: „Die moderne Politik hat zwei Gesichter. Politik ist sowohl ein Kampf, um einen breiten Konsens und gemeinsame Ziele zu erreichen, als auch ein Kampf um Macht“. Die Machtkämpfe hinter der Bühne blieben der Öffentlichkeit aber meist verborgen. In den skandinavischen Ländern sei der Glaube an die Vertrauenswürdigkeit und die Fähigkeit von Politikern, so versichern Jenssen/Fladmoe, noch weiter verbreitet als anderswo.

Angelehnt an Machiavelli entwerfen die Autoren einen zynischen10-Punkteplan – eine Art Bedienungsanleitung zur Skandalisierung, die deutlich zeigt, dass der Gegner eines Politikers eigentlich nicht viel tun muss, um diesen zu skandalisieren: Es sei ein Fall auszuwählen, der bei gewöhnlichen Menschen sofort Ärger hervorrufe und keiner Erklärungen oder Vorwissen bedürfe. Falls sich gerade kein passender Fall finde, gebe es die Möglichkeit, auf einen zu warten oder selbst einen Skandal zu inszenieren. Würde nur genug Schlamm geworfen, bleibe etwas davon hängen – ganz unabhängig von der Wahrheit.

Dazu brauche es berechenbare Journalisten und Verleger – am besten solche, die keine Prinzipien und Grenzen kennten und über ein Medium mit großer Leserschaft verfügten, um einen „opinion-killing effect“ zu erzielen. Wenn die Skandalisierung dann ihren Lauf nehme, müsse man „mehr Holz zur Feuerstelle tragen. Fast alles wird brennen, wenn die Temperatur hoch genug ist”. Berufen sollten sich die skandalisierenden Politiker immer auf die allgemeine Moral und die höchsten Prinzipien, und sie sollten vermeiden, die eigenen Interessen zur Sprache zu bringen. Vielmehr sollten sie den Skandal hochhalten – um der Anklage Glaubwürdigkeit zu verleihen und um das eigene Ansehen zu vergrößern.

Sigurd Allern/Ester Pollack (eds.) (2012): Scandalous! The Mediated Construction of Political Scandals in Four Nordic Countries. Göteborg: Nordicom

Rahel Künkele studiert Publizistik an der Universität Mainz.

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