Was will der lokale Leser?

6. November 2012 • Digitales, Ressorts • von

Ergebnisse einer crossmedialen Fallstudie

Um sich anno 2012 ein zustimmendes Nicken vor lokaljournalistischem Fachpublikum zu verschaffen, verspricht eine These besonderen Erfolg: Im Ringen um die knappe Aufmerksamkeit des Publikums seien dessen Vorlieben und Interessen stärker als in der Vergangenheit zu berücksichtigen.

Das klingt wohlfeil – und ist faktisch schwer von der Hand zu weisen. Denn in der Tat hat sich die deutsche Rezeptionsforschung – sei sie privatwirtschaftlicher oder akademischer Natur – über Jahre und Jahrzehnte nur recht randständig mit lokalen Lesern, Nutzern, Zuschauern oder Hörern beschäftigt. Unter dem Eindruck wachsender ökonomischer Zwänge – und demokratietheoretischer Implikationen – scheint das Forschungsinteresse in jüngster Zeit spürbar belebt und das „Lokale“ eine gewisse Renaissance auf Podien und in schriftlichen Veröffentlichungen zu erfahren.

Im Mittelpunkt stehen häufig qualitative Aspekte des Lokaljournalismus, Einflussgrößen durch neue technische Plattformen oder – siehe auch die Veröffentlichungen im Journalistik Journal – partizipative Elemente. Diese Tendenz zur Diskussion ist für alle jene erfreulich, die es mit dem Lokalen halten und so ernst wie gut meinen.

Doch drei Fragen seien gestattet: Weiß jeder, dem das Wort „Lokaljournalismus“ im Schwung des guten Rats heute so leicht von den Lippen geht, was das „Lokale“ eigentlich ist? Ist die „lokale Krise“, sofern man diese Zuspitzung aussprechen möchte, vielleicht nur Teil der allgemeinen Abwendung von Intermediären in der Gesellschaft, wie auch überregionale Medien, Vereine oder Parteien sie erfahren – und damit womöglich gar nicht so speziell? Gibt es umgekehrt gefragt Einflussgrößen, die das Interesse des lokalen Publikums an journalistischen Themen solitär beeinflussen? Die deshalb in der lokalen Debatte einen Platz finden sollten – und sei er nur im Hinterkopf der Akteure? Einige Befunde zu diesen Fragen sind hier in knapper Form zusammengetragen.

Beginnen wir mit dem Begriff. Wer Definitionen zum „Lokalen“ sucht, wird recht schnell die kommunikationswissenschaftliche Sphäre hinter sich lassen und auch bei Volkskundlern, Regionalwissenschaftlern, Raumplanern oder Geografen nachfragen. Für sie sind „Räume“ nicht topografisch oder sonstwie materiell belegt, sondern eher abstrakt. Wer „in Räumen“ denkt, entwickelt eine individuelle Vorstellung. Die Wahrnehmung vom „lokalen Raum“ entsteht demnach durch Erfahrungen, Interessen und soziale Kontakte. „Lokales“ ist als räumlicher Begriff damit ein bewegliches Ziel. Passable Aussicht auf Verteidigung besäße vermutlich diese Definition: Das „Lokale“ umschreibt die unmittelbare Lebenswelt eines Menschen in einem geografischen Nahbereich.

Wenn man also annimmt, dass sich „Lokaljournalismus“ auf diese (individuelle und) unmittelbare Lebenswelt von Menschen bezieht, wäre zu fragen: Hat ihre journalistische Begleitung in besonderem Maße an Attraktivität verloren? Ich meine: Ja, dafür gibt es einige Hinweise. Analysen zur Auflagenentwicklung von lokalen deutschen Zeitungstiteln über mehrere Jahre erhärten durchaus diesen Verdacht. Sie haben sich gegenüber überregionalen Titeln spezifisch schlechter entwickelt. Lokalnachrichtliche Webangebote konnten – gemessen an den Klickzahlen – ihre Attraktivität weniger steigern als überregionale journalistische Angebote. Auch über die reine Zahlenknechterei hinaus fallen – mir jedenfalls – auf Anhieb nicht gerade viele Gründe ein, warum professioneller „Lokaljournalismus“ in den vergangenen Jahren ein Boomthema gewesen sein sollte.

Ohne die Indizienkette hier aus Platzgründen weiterzuführen, ist klar: Ursachen für diese Entwicklung können auf Seite der Anbieter liegen ebenso wie auf Seite der Nachfrager. Besonders über die Anbieter wurde in den vergangenen Jahren intensiv gesprochen – etwa, wenn lokalen Verlagen mangelnde Innovationsfreude bescheinigt wurde. Die Nachfrageseite blieb dagegen seltsam unterbelichtet. Dabei könnte man bei einem Branchentrend, der so gut wie keine Ausnahmen kennt, auch hier mit einigem Recht intensiv nach Ursachen suchen. Beispielsweise wäre vorstellbar, dass das „Lokale“ im Lichte gesamtgesellschaftlicher Megatrends wie „Mobilisierung“ oder „Globalisierung“ an Bedeutung verliert. Die Gegenthese aber könnte so lauten: Gerade im Strom einer sich entankernden Postmoderne sind lokale Identitäten gefragt.

Wer sich auf die Nachfrage-Seite begibt, setzt sich neben das lokale Publikum. Er muss – in der Logik unserer Herleitung – besonders die räumlichen Aspekte des Nachfrageverhaltens inspizieren. Wer dies mit kommunikationswissenschaftlichem Interesse tut, kann auch hier auf fruchtbare Erkenntnisse benachbarter Disziplinen zurückgreifen. Er wird zur Frage gelangen, wie eigentlich die Verwurzelung von Menschen im Lokalen mit dem Interesse an (journalistischen) Informationen über das Lokale zusammenhängt.

Für die Beziehung zwischen Mensch und Raum existieren viele Vokabeln. Eine wunderschöne und zugleich wissenschaftlich nur schwer verdauliche heißt: „Heimatliebe“. Wegen der vielen Konnotationen in so einem fast schon poetischen Wort ist es ratsam, auf die ungleich nüchternere, aber definitorisch leichter zu fassende „Ortsbindung“ zurückzugreifen. Der Sozialgeograf Paul Reuber bezeichnet ganz pragmatisch jene Menschen als ortsgebunden, die ihren Wohnsitz freiwillig an einem bestimmten Ort behalten möchten. Ortsbindung könne unterschiedlich stark ausfallen – je nachdem, welche Bindungsmuster zugrunde lägen. Rationale Muster (wie z. B. die Größe oder Ausstattung der eigenen Wohnung oder die Nähe zum Arbeitsplatz) entfalten noch relativ schwache Bindungskräfte. Soziale Bindungsmuster (z. B. die Nähe von Freunden oder Verwandten) wirken stärker. Emotionale Bindungsmuster setzen zudem in der Regel lange Wohndauern vor Ort voraus und können gipfeln in Mustern der lokalen Identifikation, in der Menschen ihre Identität mit einem bestimmten Wohnort untrennbar verbinden.

Dass die Ortsbindung Einfluss auf das Interesse an lokalen Informationen hat, wurde in der Vergangenheit immer wieder unterstellt und mit Hinweisen versehen. So ist die Lesedichte deutscher Lokalzeitungen auf dem Lande höher als in großen Städten. Es ist durchaus plausibel anzunehmen, dass die höhere Fluktuation in Städten die Ausprägung von Ortsbindung und damit die Ausprägung von Interesse an lokalen Informationen behindert. Und – um noch ein Argument ins Feld zu führen: Besonders ältere Zeitungsleser gelten als interessiert am Lokalteil. Hierbei handelt es sich um eine Kohorte, der gemeinhin eine hohe Ortsbindung zugeschrieben wird.

Um tiefer gehende Aussagen zum Verhältnis von Ortsbindung und lokalem Interesse zu treffen, ist ein entsprechendes Forschungsdesign nötig. Die folgenden Aussagen basieren auf einer empirischen Studie unter rund 3.000 Lesern und Nutzern der Ruhr Nachrichten (Verlagssitz: Dortmund). Sie wurde durchgeführt in drei Orten unterschiedlicher Größe und Strukturierung: in der Großstadt Dortmund (rund 580.000 Einwohner, 2.090 Einwohner/km2), der Stadt Schwerte (rund 50.000 Einwohner, 870 Einwohner/km2) und dem ländlichen Nordkirchen (rund 11.000 Einwohner, 200 Einwohner/km2). Inbegriffen war sowohl das Publikum der Printausgabe als auch das des Webangebotes. In jedem Untersuchungsort erscheinen die Ruhr Nachrichten mit einer eigenen Lokalausgabe. In Dortmund und Schwerte existieren mit Westfälischer Rundschau bzw. Westdeutscher Allgemeiner Zeitung am Markt Wettbewerbsangebote. Die Fragebögen bestanden aus Items zum Informationsinteresse, zur Ortsbindung und zur Demografie.

Hier einige Kernergebnisse, die für die oben aufgeworfenen Fragen relevant sind:

1. Zum Informationsinteresse des lokalen Publikums: Wenig überraschend präferieren Leser der lokalen Zeitungsausgaben Inhalte aus ihrer Nahwelt. Im Vergleich zu allen anderen räumlichen Bezugsebenen ist das (individuell unterschiedliche) „Lokale“ die spannendste Berichterstattungsebene. Das Interesse an lokalen Inhalten korreliert stark positiv mit jenem an sublokalen Inhalten, etwa der Berichterstattung auf Stadtteil-Ebene. Aus normativen Gesichtspunkten ernüchternd ist allerdings die Datenlage hinsichtlich des Zusammenhangs von Informationsinteresse und der Nutzung verschiedener lokaler Informationsquellen: Er ist schlicht nicht signifikant nachweisbar. Neben der Lokalzeitung und dem Lokalradio gehören Gespräche mit Freunden oder Bekannten zu den bedeutendsten lokalen Informationsquellen. Die Nutzugsroutinen scheinen stark habitualisiert. Die (zumindest in Dortmund und Schwerte vorhandene) Zweitzeitung wird auch mit wachsendem Informationsinteresse nicht stärker genutzt. Print wie online dominieren dabei die gleichen Themenfelder die Beliebtheitsskala: „Vermischte“ Meldungen (wie etwa Polizeithemen) liegen vor Themen der Lokalpolitik. Während frühere Studien zwischen Frauen und Männern bisweilen deutlich unterschiedliche thematische Vorlieben zeigen, belegt diese Studie eher ähnliche Interessensschwerpunkte beider Geschlechter.

2. Zur Ortsbindung des lokalen Publikums: Die Abonnenten der Ruhr Nachrichten sind in jedem Untersuchungsort in höchstem Maße ortsgebunden. Gleiches – und dies mag womöglich überraschen – trifft auf die Nutzer von RuhrNachrichen.de zu. Sie nutzen das Angebot in der Regel nicht täglich – wie Zeitungsleser es mit „ihrem“ Lokalteil tun – aber sie tun es vor dem Hintergrund der gleichen starken Verwurzelung am Wohnort. Für Leser wie Nutzer lassen sich Bindungsmuster bis hin zu höchsten Bindungskategorien der „emotionalen Ortsbindung“ oder gar der „lokalen Identifikation“ nachweisen. Die Rezeption von Lokalnachrichten ohne Ortsbindung ist nicht mehr als ein statistischer Schatten, für die Praxis nicht relevant.

Dabei ist kein Zusammenhang zwischen dem Alter des Publikums und seiner Verwurzelung vor Ort erkennbar, aber ein Zusammenhang zur Lebensdauer vor Ort. Die Lebensdauer am Ort lässt sich als treibende Hintergrundvariable interpretieren. Ein 25-jähriger Leser mit Kindheimat im Wohnort kann demnach mit einiger Wahrscheinlichkeit (und hier bewusst pauschaliert ausgesprochen) eine stärkere Verwurzelung aufweisen als ein 60-Jähriger, der erst vor zehn Jahren an den Ort des Lesens zog. Dabei zeigt sich: Junge Leser finden den Weg zur gedruckten Heimatzeitung nahezu ausschließlich nur noch dann, wenn der Lokalteil jenen Ort behandelt, in dem sie auch geboren und aufgewachsen sind. Für sie ist eine starke Ortsbindung demnach elementar für das Leseinteresse.

3. Zum Zusammenhang von Ortsbindung und lokalem Interesse: Zwischen Ortsbindung und lokalem Interesse lässt sich durchweg ein sehr robuster Zusammenhang nachweisen. Dabei gilt: Mit wachsender Ortsbindung wächst auch

  • ganz allgemein das lokale Informationsinteresse,
  • die Nachfragehäufigkeit nach lokalen Informationen (aber nicht die nachgefragte Quellenanzahl!),
  • die interessierende Themenbreite.

Auf unterschiedliche Weise ortsgebundene Personen fragen dabei unterschiedliche Informationen nach. Das scheint plausibel: Wer zum Beispiel lediglich den kurzen Weg zur Arbeitsstelle als rationales Bindungskriterium in seinem lokalen Umfeld sieht, dem dürften im Zweifel die nüchternen Stauinformationen für den Arbeitsweg bisweilen ausreichen. Wer stark sozial verankert ist, dürfte sich möglicherweise eher für Informationen aus dem lokalen Vereinsleben interessieren – weil Freunde oder Verwandte dort aktiv sind. Besonders ausgeprägt ist der Zusammenhang zwischen Ortsbindung und lokalem Interesse bei jungen Zeitungslesern unter 30 Jahren.

Für die Reichweiten-Entwicklung von Lokalmedien ist die Ortsbindung des lokalen Publikums damit von grundlegender Bedeutung. Ohne Ortsbindung fehlt ein wichtiger Nährboden für lokales Interesse. Und ohne lokales Interesse dürfte in den allermeisten Fällen auch die Nachfrage nach den Angeboten von lokalen Verlagen vergleichsweise gering sein. Diese Erkenntnisse lassen folgende Schlüsse zu:

  • Die Konzentration auf lokale Inhalte ist für Lokalverlage strategisch richtig. Ein lokales Publikum erwartet von einer lokalen Marke lokale Inhalte.
  • Was „lokal“ ist, sollte hinterfragt werden. Wer seine Berichterstattung an einer Verwaltungsgrenze ausrichtet, liegt im Zweifel falsch.
  • Die Bindungslogiken sind dabei print wie online gleich – obwohl sich das Publikum demografisch deutlich unterscheidet. Grundsätzlich interessieren damit die gleichen journalistischen Stoffe – wenngleich ihre Aufbereitung natürlich der Inszenierungslogik des jeweiligen Kanals entsprechen muss.
  • Marktforschung könnte – sofern lokale Interessen analysiert werden sollen – mit raumorientierten Inhalten aufgewertet werden.

Ich denke im Lichte dieser Ergebnisse, dass die Interessen des lokalen Publikums anno 2012 grundsätzlich ein weites und ertragreiches Feld für akademische wie privatwirtschaftliche Forschungen darstellen können. Wer das Selbstverständliche hinterfragt und sich auf die Spezifika des „Lokalen“ konzentriert, macht dabei zumindest keinen Fehler. Im Gegenteil: Einiges spricht dafür, dass sich die Rezeption von Lokalmedien aufgrund eigenständiger Einflussgrößen auch in gewissem Maße eigenständig entwickelt. Eine Einflussgröße ist der nachweisbare Zusammenhang zwischen Informationsinteresse und Ortsbindung.

Literatur:

Daniel Chmielewski (2011): Lokale Leser. Lokale Nutzer. Informationsinteressen und Ortsbindung im Vergleich. Eine crossmediale Fallstudie. Köln: Herbert von Halem Verlag.

Erstveröffentlichung: Journalistik Journal Nr. 2 / 2012

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