Der überfällige Ruck im Fach

5. Januar 2016 • Ausbildung, Qualität & Ethik • von

EJO-Gründer Stephan Russ-Mohl befürchtet, er werde von nun an in der Medienforschung und Journalistik „wohl als enfant terrible, als zorniger alter Mann, als Hofnarr oder als Elefant im Porzellanladen gelten“. In einem Beitrag für „Aviso“, den wir zum Jahresauftakt übernehmen, meint er, die Kommunikationswissenschaftler kultivierten Lebenslügen. Hier sein Beitrag im Wortlaut.

LügenLebenslüge Nr. 1: Wir haben Theorie und Praxis zusammengebracht. Unsere Forschung ist praxisrelevant und inspiriert Innovation in Journalismus und in der Gesellschaft.

Dank unseres EJO-Netzwerks monitorieren wir den Forschungsoutput im Bereich Journalismus/Medienmanagement. Flächendeckend ist das per se inzwischen unmöglich geworden, wie Jane Singer kürzlich festgestellt hat; selbst im eigenen engen Fachgebiet ist das Publikationsvolumen unüberschaubar geworden. Was für die Gesellschaft, für den Journalismus, für die Medienpraxis wirklich relevant ist, kann man indes wie die Stecknadel im Heuhaufen suchen. Die meisten von uns verschließen davor die Augen und verschleißen sich in einer Tretmühle, die sich seit Jahren in die falsche Richtung bewegt. Beklagt wird die Fehlsteuerung und Bürokratisierung des Forschungsbetriebs dann merkwürdigerweise als dessen „Ökonomisierung“ – obschon das alles mit Effektivitäts- und Effizienzgewinn sehr wenig zu tun hat.

Hand aufs Herz: Trotz vieler Forschungsfortschritte, trotz der erfreulichen Internationalisierung des Fachs: Vieles von unserer Forschung ist Nabelschau, es wird außerhalb kleinster Scientific Communities nicht zur Kenntnis genommen – und es dient vorrangig der Verlängerung von Publikationslisten und der Absicherung der nächsten Kongresseinladung, denn die meisten Forscher reisen gerne.

Kaum ein Forscher geht auf die Gesellschaft und die Öffentlichkeit zu. Hat das womöglich nicht nur mit fehlenden Anreizen und fehlendem gutem Willen zu tun, sondern auch mit mangelndem Können? Der journalistische Zweispalter, der 30 Seiten Forschungsaufsatz lesbar zusammenfasst, fällt eben nicht vom Himmel. Er muss auch ganz anders komponiert sein als ein Research Abstract. So bleibt Forschungsoutput gesellschaftlich irrelevant, die meisten Medienforscher kennt niemand. Und die Debatte zur Digitalisierung der Medien und zu deren Folgen für die Demokratie, für die Ökonomie und für die Gesellschaft findet weithin ohne unsere Beteiligung statt.

Lebenslüge Nr. 2: Wir sind offen für theoretische Befruchtung und halten Interdisziplinarität hoch.

Mertons Metapher, dass wir „auf den Schultern von Riesen“ sitzen, soll uns zu einem komfortablen Ausguck verhelfen, der den Horizont erweitert. Sie lässt sich aber auch als Aufforderung sehen, gelegentlich die Schultern zu wechseln – einfach, weil auf den Schultern des einen Riesen der Blickwinkel nur so weit reicht, wie sich dieser Riese selbst weiterbewegt.

Hand aufs Herz: Wir sitzen im deutschen Sprachraum seit Jahrzehnten auf den Schultern derselben drei Riesen: Jürgen Habermas, Niklas Luhmann und Elisabeth Noelle-Neumann. Viele von uns sind noch immer fest mit einer dieser Denkschulen verbandelt. Wer dennoch den Sprung auf andere Schultern wagt, riskiert, abgeblockt zu werden, spätestens wenn Forschungsmittel zu beantragen sind und das einem Reviewer nicht gefällt. Mir ist das wiederholt so ergangen – zum Beispiel beim Versuch, Qualitätssicherung im Journalismus interdisziplinär anzugehen, oder Ökonomie und Verhaltensökonomie für die Journalismusforschung fruchtbar zu machen. Da verhindert dann zuverlässig irgendein anonymer Bedenkenträger das Querdenken und die überfällige Innovation.

Lebenslüge Nr. 3: Qualität in der Journalistenausbildung ist uns wichtig!

Journalistenausbildung taugt inzwischen als Fallstudie organisierter Unverantwortlichkeit. Es werden an zu vielen Studiengängen zu viele junge Leute angeblich für den Beruf ausgebildet. Angeblich, weil ja – anders als in Amerika, wo es einen mächtigen freiwilligen „Accrediting Council“ gibt – eigentlich niemand über Qualitätsstandards wacht. Aber auch, weil wir im Blick auf einen drastisch schrumpfenden Arbeitsmarkt nicht wissen, wie viele der angeblich Ausgebildeten tatsächlich im Journalismus Fuß fassen, nicht „subventioniert“ durch Dauer-Selbstausbeutung und einträglichere Zusatz-Tätigkeiten wie PR, Kellnern oder Taxifahren.

Hand aufs Herz: Der Lehrbetrieb an den meisten Hochschulen frustriert, die überfüllten Seminare erlauben in der Regel keinen Kleingruppen-Unterricht und somit auch kein minutiöses Feedback, das Studierende bräuchten, um Journalismus zu erlernen und zu erforschen. Die meisten Studis, die „irgendwas mit Medien“ studieren wollen, gehören auch gar nicht an die Universität. Sie wollen eine Ausbildung, es fehlt ihnen an wissenschaftlicher Neugier. Die „Crème de la crème“ der Bewerber wird ohnehin von den privaten, konzernnahen Journalistenschulen abgeschöpft, die ihren Trainees eine Ausbildungsbeihilfe zahlen, eine Berufsperspektive bieten und obendrein die Auseinandersetzung mit wissenschaftlichen Erkenntnissen weitgehend ersparen. Dort gibt es allerdings auch keine Dozenten mit Professorentitel, die noch nie einen Zweispalter geschrieben haben und dennoch meinen, dem Nachwuchs Journalismus beibringen zu können. Und auch keine Gastdozenten aus der Praxis, die sich weit unter Andrea Nahles‘ Mindestlohn verdingen, um zu lehren – sei es aus Idealismus, sei es weil sich der Titel „Lehrbeauftragter an der XY-Universität“ so gut auf der Visitenkarte macht.

Wie lange wird es noch dauern, bis wir diese Tabus nicht nur thematisieren, bis ein „Ruck“ durch das Fach und auch durch Politik und Gesellschaft geht? Bis wir Abhilfe schaffen und den Fokus auf Qualität statt Quantität richten – sowohl in der Forschung als auch bei der Gestaltung von Studien- und Ausbildungsbedingungen? Sowohl an den Unis als auch an den Fachhochschulen würde das eine Reduktion der Studentenzahlen voraussetzen. Obendrein wäre eine sinnvollere Arbeitsteilung zwischen Fachhochschulen und Universitäten anzustreben, statt immer mehr direkte Konkurrenz zuzulassen und die Verwischung der Unterschiede sogar zu fördern.

Erstveröffentlichung: Aviso Nr. 61, interner Informationsdienst der DGPuK

Bildquelle: txmx2 / Flickr CC

 

 

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