Bilder von ganz normalen Bürgern

3. Juni 2013 • Digitales • von

Die Handykamera-Bilder eines Amateur-Filmers von dem Mord an dem britischen Soldaten Lee Rigby machen auf unangenehme Art und Weise greifbar, dass die beiden mutmaßlichen Mörder des Soldaten ganz offensichtlich gesehen werden und ihre Botschaft seelenruhig an den Mann bringen wollten, bevor die Polizei sie festnahm.

Die Aufnahmen erreichen noch etwas: Durch die Linse des Filmenden, dem der mutmaßliche Mörder Michael Adebolajo ganz ruhig gegenübersteht und schildert, warum er den britischen Soldaten getötet hat, fühlt sich der Zuschauer dem Geschehnis sehr nahe.

Fast ist es, als sei man selbst der filmende Augenzeuge, dem der mutmaßliche Attentäter erklärt, die britische Regierung sei schuld: „They don´t care about you“ – die Politiker hätten kein Interesse an ihren eigenen Bürgern und noch weniger an dem Schicksal, das ihre Soldaten Tag für Tag den Menschen in Kriegsgebieten in muslimischen Ländern antun. 

Wenige Wochen, nachdem Handyaufnahmen das Attentat auf den Boston-Marathon dokumentierten, machen so nun schon zum zweiten Mal innerhalb kurzer Zeit Amateurbilder in den klassischen Medien die Runde und beherrschen die öffentliche Diskussion. Dieses Material entzieht sich durchaus journalistischen Standards, etwa dem Appell des Deutschen Presserates, den er nach der Geiselnahme von Gladbeck 1988 ausgesprochen hatte, mit Verbrechern dürfe während der Tat kein Interview geführt werden. Doch auch wenn die klassischen Medien es nicht einbinden, geht  das Material via Youtube um die Welt, was die Redaktionen vor die schwierige Entscheidung stellt: Nutzen wir das Material oder nicht?

Eine aktuelle Studie (nur in Auszügen online vorhanden) der Kommunikationswissenschaftlerin Mervi Pantti von der Universität Helsinki analysiert, wie finnische Medienhäuser den Bildern von „ganz normalen Bürgern“ verfahren und kommt zu dem Schluss: Die traditionellen Medien wollen das  bürgerjournalistische Material  aus Krisensituationen verbreiten, versuchen aber, ihre Gatekeeper-Funktion aufrecht zu erhalten, indem sie die Bilder in ihre Berichterstattung einbinden und nicht alleinstehend zeigen.

Pantti hat 20 Journalisten vom öffentlich-rechtlichen Rundfunksender YLE, den privaten Programmen MTV3 und Nelonen, den Tageszeitungen Helsingin Sanomat und Aamulehti sowie den Abendzeitungen IltaSanomat und Iltalehti interviewt und zusätzlich deren Berichterstattung mithilfe von Amateurmaterial über die arabischen Revolutionen und den Tsunami im japanischen Fukushima analysiert.

Amateur-Bilder spielten auch bei den Demonstrationen auf dem  Tahrir-Platz in Kairo 2011 oder bei dem Straßenkrieg, den sich das Assad-Regime und aufständische Gruppen in Syrien liefern, eine große Rolle. Teils entsteht  in solchen Situationen der Eindruck, Bürgerreporter dokumentierten mit ihren Smartphones und Minikameras genau, was passiert.

Doch Pantti macht in ihrer Studie deutlich, dass dies nicht unbedingt immer der Fall ist.  Die Forscherin hebt hervor, dass die Bilder von Bürgerreportern teils interessengesteuert sind, etwa wenn syrische Rebellen Aufnahmen von mutmaßlichen  Massakern der Assad-Regierung verbreiten und die Verantwortung für Opfer allein den Regierungstruppen zuschreiben.

Werden die Bilder in einen journalistischen Beitrag eingebunden, erhalten sie eine andere Autorität als in sozialen Medien, was man nicht unterschätzen sollte.  Zwar haben die klassischen Medien seit den ersten Protesten im arabischen Raum 2011 hinzugelernt und machen die Quellenlage häufig transparent. Es stellt sich aber die Frage, ob es langfristig reicht, einen Satz wie „die Herkunft und Wahrheit der Bilder kann nicht unabhängig überprüft werden“ anzufügen.

Denn laut Pantti haben die Amateurbilder in Krisensituationen Merkmale, die den Zuschauer besonders fesseln, da er sich den Geschehnissen sehr nahe fühlt.  Die Bilder haben oft ein unkonventionelles Setting, und werden von einem Standpunkt aus aufgenommen, der mitten im Geschehen liegt und keinen Wert auf distanzierte Beobachtung legt.

In der bisherigen Forschung zum Thema Krisenberichterstattung geht man davon aus, dass professionelle Journalisten die Situation hingegen tendenziell eher schönen. Die Wissenschaftler machen dafür etwa die perfekt durchkomponierten und ästhetischen Bilder verantwortlich, die professionelle Fotografen oder Kamerateams anstreben. Sie entpolitisierten eher und senkten die Sensibilität des Zuschauers dafür, welches Leid von Krieg oder Anschlägen betroffene Menschen tatsächlich erfahren. Oft spielten aber auch bewusste Entscheidungen der Redaktionen eine Rolle: „Journalisten zensieren sich in der Regel selbst und verhindern aus Gründen des ‚guten Stils‘, dass besonders grausame und schockierende Bilder in einem Nachrichtenbeitrag landen“, schreibt Pantti.

Die von Pantti befragten Journalisten sind sich durchaus bewusst, dass sie mit dem bürgerjournalistischen Material teils Aufnahmen zeigten, die aus berufsethischer Sicht grenzwertig sind. Als der libysche Ex-Diktator Muammar al Gaddafi 2011 von internationalen Truppen und libyschen Aufständischen gestellt wurde und die Amateurvideos des langsam dahinsiechenden Gaddafi um die Welt gingen, titelte der finnische Sender Nelonen etwa über seiner Online-Story: „Wie Biester über ihrer Beute: Videos von der Festnahme Gaddafis sind schrecklich anzusehen.“

In diesem speziellen Fall verzichteten tatsächlich viele professionelle Medien weltweit darauf, diese Bilder weiter zu verbreiten. Doch generell haben Panttis Befragung zufolge die meisten Journalisten keine Probleme damit, Material zu verwenden, das journalistischen Standards nicht entspricht. Ein Redakteur der auflagenstärksten finnischen Tageszeitung Helsingin Sanomat sagt: „Es ist eben so, dass wir Zugang zu Orten und Situationen bekommen, die wir sonst nie abdecken könnten.

Deshalb ist die Verfügbarkeit bürgerjournalistischen Materials in meinen Augen eine wirklich wichtige Entwicklung für den Journalismus.“ Sie erleichtere es den Journalisten auch schlicht, Augenzeugenberichte zu überprüfen: „Denn ein Bild von vor Ort – und speziell ein bewegtes Bild – hat immer diese beweisführende Kraft inne, dass das, was abgebildet ist, höchstwahrscheinlich wirklich passiert ist.“

Die Journalisten verwenden jedoch meist nur Fragmente aus Bürger-Material und lassen es selten zu, dass komplette bürgerjournalistische Produkte für sich stehen. Stattdessen zeigt Panttis Befragung: Die Profis halten es schließlich doch für nötig, eine durchkomponierte journalistische Geschichte  zu erzählen. Das Amateur-Material wollen sie darin einbinden, um ihre eigene Glaubwürdigkeit zu steigern.

Ein neues Projekt aus Großbritannien, das momentan noch in der Probephase steckt, will genau diese Nachfrage bedienen. Noozdesk soll Bürgerreportern weltweit eine Plattform bieten. Sie können dort einzelne Mediendateien als sogenannte Noozpacks an Rundfunksender verkaufen. Die Hälfte des  Erlöses geht an Noozdesk und die andere Hälfte an den Bürgerreporter. Die Bezahlung soll die Bürgerjournalisten zu kontinuierlicher und engagierter Arbeit motivieren.

Nur wer sich an bestimmte journalistische Standards halte, könne bei Noozdesk mitmachen, betont Gründer Gari Sullivan, der selbst als Bürgerreporter in Syrien unterwegs war. So sollen etwa keine Spekulationen über Verdächtige in Kriminalfällen verbreitet werden, wie es im Falle der Boston-Attentate passiert war. Der Inder Sunil Tripathi wurde in den sozialen Medien Reddit und Twitter bezichtigt, etwas mit den Anschlägen zu tun zu haben – zu Unrecht.

Solche Pannen will Noozdesk ausschließen. Ein Teil der Einnahmen wird nach Angaben von Sullivan deshalb zur Prüfung des Bürgermaterials verwendet. Die Plattform wirbt mit dem Statement: „Die Tage des unverifizierbaren bürgerjournalistischen Materials sind vorbei.“

Sullivan fordert die Amateur-Reporter auf, nur einzelne Fragmente, keine kompletten journalistischen Produkte, hochzuladen. Die Redaktionen wollten lieber ihre eigenen Geschichten daraus bauen, schreibt Sullivan – eine These, die sich mit den Beobachtungen der finnischen Wissenschaftlerin Pantti deckt. Die Wissenschaftlerin hält Intermediäre wie Noozdesk allerdings nur für bedingt hilfreich, etwa um überhaupt Material aus Krisenregionen zu finden: „Ich glaube aber, dass wir professionelle Journalisten brauchen, die Material verifizieren und in einen Zusammenhang setzen“, sagt Pantti auf Anfrage. „Diese Plattformen machen Geld mit den bürgerjournalistischen Leistungen, ohne die Qualität für den Journalismus insgesamt zu steigern“, glaubt die Expertin.

Ein US-amerikanisches Projekt des J-Lab Institute for Interactive Journalism an der American University School of Communication setzt auf dauerhaftere Partnerschaften anstelle von Fragmenten, seit dem Start vor drei Jahren haben Bürgerjournalisten in Kooperationen mit traditionellen Medienhäusern auch die Möglichkeit, eigene Produkte zu realisieren. Sie bekommen dafür Medientrainings, damit sie auch persönliche Fortschritte erzielen. Eines der traditionellen Medien, das seine Partner bis heute hält, ist die Seattle Times. Nach anfänglich fünf Partnern kooperiert sie heute mit 54 Bürgerreporter-Organisationen wie dem West Seattle Blog oder der Seattle Lesbian.

Zwar platziert die konservativ eingestufte Zeitung meist nur Links zu Geschichten der Partnerseiten prominent auf ihrer Seite. Damit geht sie jedoch auch den harten Schritt, Internetnutzer von ihrem Webauftritt weg auf eine andere Seite zu führen. Die oberste Bedingung: Die Partner müssen für vernünftigen Inhalt auf ihren Seiten sorgen, damit schlechte Recherchen auf keinen Fall auf die Seattle Times zurückfallen.

Das Medium achtete also auf Aspekte, welche die finnische Wissenschaftlerin Mervin Pantti in ihrer Untersuchung über den Umgang von Journalisten mit Amateur-Aufnahmen als kritische Punkte ansieht. Außerdem müssen die Partner zuerst die Seattle Times informieren, wenn ein unerwartetes relevantes Ereignis in dem District des jeweiligen Partners aufkommt.

Bob Payne, der das Netzwerk der Seattle Times koordiniert, begründet das Interesse der Zeitung so: Sie hätten beobachtet, dass während sie lokal abbauen mussten, Nachbarschaftsblogs an Qualität zunahmen. Die wachsende Konkurrenz wollten sie durch die Zusammenarbeit auf eine andere Ebene heben und für den Leser nutzbar machen.

Eine Befragung des J-Lab im Jahr 2011 unter 996 Lesern der Seattle Times zeigte: Acht von zehn Lesern schätzten das Netzwerk, da sie sich so leichter über Geschehnisse in ihrer unmittelbaren Umgebung informieren konnten. Die  Seattle Times konnte zwar bisher nicht finanziell profitieren, 79 Prozent der befragten Nutzer gaben in der Umfrage jedoch auch an, sie könnten sich vorstellen, das Netzwerk künftig mit einer Spende, Werbung oder Sponsoring zu unterstützen.

Was würde sich verändern, wenn überall geschulte Bürgerjournalisten unterwegs wären, wie sähe dann die Berichterstattung über Attentate wie in London, in Boston oder über die Proteste in arabischen Ländern aus? Noch lässt sich das nicht absehen, genauso wenig ist klar, ob Plattformen wie Noozdesk mit ihrem Material jemals ein Gegengewicht zu den sozialen Medien leisten können, wo jedes noch so fragwürdige Material zu sehen ist. Doch eines steht fest: Bürgerjournalismus und Amateur-Material ist aus den traditionellen Medien nicht mehr wegzudenken. Zeit für die Medienhäuser, sich damit auseinander zu setzen, wie sich Informationen am besten gemeinsam verbreiten lassen.

Bildquelle: sierragoddess/Flickr

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