Die hohe Kunst, unerreichbar zu sein

4. Januar 2008 • Digitales • von

Neue Zürcher Zeitung, 28. Dezember 2007

Ein selbstkritisches Buch über die Kommunikationssucht
Dank Internet, E-Mail, Mobiltelefon und Blackberry sind wir jederzeit und überall kommunikationsfähig. Die Suchtgefahr ist jedoch gross. Die Publizistikprofessorin Miriam Meckel stellt selbstkritische Fragen.

Authentischer kann eine junge Forscherin, die zugleich eine veritable Karriere in der Politik (als Kommunikationschefin und Staatssekretärin) und im Fernsehen (als Journalistin und Talkmaster) vorzuweisen hat, kaum kommunizieren: Miriam Meckel, Professorin für Kommunikationsmanagement an der Universität St. Gallen, befasst sich in ihrem neuen Buch mit einem Problem, von dem wir alle tagtäglich heimgesucht werden: der Informations-Überlastung und dem Stress, der daraus entsteht, dass wir dank modernen Kommunikationstechnologien rund um die Uhr und überall in der Welt erreichbar sind.

250 E-Mails pro Tag

Ihre eigene Erfahrung beschreibt sie so: Den Zeitpunkt, von dem an «die Kommunikationsanforderungen von aussen» begonnen hätten, ihre «eigene Kommunikationslogik zu überlagern», habe sie gar nicht bemerkt. Sie habe auf Information nur noch reagiert. Kommunikative Vernetzung sei «zum Wert an sich» geworden und nicht mehr «Mittel zum Zweck der Verständigung». Die Technik habe ihr «soziales Leben bestimmt – und nicht umgekehrt»: Sie war «immer online, immer auf Stand-by und immer erreichbar». Sie hatte keine Pausen mehr, um sich zu konzentrieren, um wichtige Dinge zu durchdenken: «Ich bekam durchschnittlich 250 E-Mails am Tag, die meisten über das Blackberry, dieses handtellergrosse Gerät, das den mobilen Empfang von E-Mails an jedem Ort und zu jeder Zeit möglich macht und gleichzeitig Telefon, elektronischer Kalender, Adressverzeichnis und Notizblock ist.»

Meckel schiebt wissenschaftliche Daten und Erkenntnisse hinterher: Weltweit würden inzwischen täglich 171 Milliarden E-Mails verschickt. Über 70 Prozent davon seien Spam. Sozial- und Wahrnehmungspsychologen gingen davon aus, dass der Mensch nur 2 Prozent der auf ihn einprallenden Informationen wirklich wahrnehmen und verarbeiten könne – der Rest sei Informationsmüll, der nicht genutzt werde, aber zum «Kommunikationsgrundrauschen» beitrage.

3,5 verschwendete Jahre

Eine aktuelle Hochrechnung britischer Forscher habe ergeben, dass Manager insgesamt 3,5 Jahre ihrer Lebenszeit mit irrelevanten E-Mails verschwendeten. Wenn «besonders aktive Wissensarbeiter in den USA 341, in Grossbritannien 320, in Deutschland 301 und in Frankreich 256 Mails am Tag empfangen und senden» würden, dann lasse sich leicht ermessen, was es bedeute, einen Tag offline zu bleiben. «Am nächsten Tag sind dann eben zwischen 500 und 700 Mails zu lesen, zu löschen und zu beantworten.»

Als Meckel begann, über «Wege aus der Kommunikationsfalle» und das «Glück der Unerreichbarkeit» zu sinnieren, gelangte sie zu zwei Grundeinsichten, die ihr halfen, die Prioritäten richtig zu setzen: «Wer technisch angeschlossen ist, ist nicht zwangsläufig auch sozial angebunden.» Und: «Wer immer erreichbar ist, ist eigentlich für nichts und niemand da.»

Illusionen des Multitasking

Vor allem weist Meckel darauf hin, unsere Talente beim gleichzeitigen Erledigen mehrerer Aufgaben nicht zu überschätzen. Man könne nicht «nebenbei» kommunizieren. «Dass wir Menschen glauben, wir seien Weltmeister im Multitasking, bedeutet nicht, dass dies auch stimmt.» Als Beleg führt sie eine Studie an, die am Londoner King's College durchgeführt wurde: In einem Experiment mit mehr als 1000 Probanden sei dort getestet worden, inwieweit Menschen gleichzeitig Aufgaben lösen und E-Mails empfangen könnten. Eine Kontrollgruppe habe statt E-Mails Marihuana bekommen. Das überraschende Ergebnis: Die Kiffer erzielten deutlich bessere Ergebnisse als die E-Mail-Empfänger. Fast schon unnötig, hinzuzufügen, dass am besten jene Gruppe abschnitt, die weder mit E-Mails bombardiert noch mit Marihuana vernebelt wurde.

Weiter zitiert Meckel eine amerikanische Unternehmensberatung, die errechnet haben will, dass 28 Prozent der täglichen Arbeitszeit von Wissensarbeitern auf unnötige und ungewollte Unterbrechungen entfielen. Das summiere sich allein in den USA auf 28 Milliarden Arbeitsstunden – und, bei einem durchschnittlichen Stundenlohn von 21 Dollar, auf 588 Milliarden Dollar Kosten. – Dass ausser dem Blackberry auch das gewöhnliche Mobiltelefon längst nicht nur Statussymbol, sondern Fetisch geworden ist, beschreibt Meckel am Beispiel ihrer 18-jährigen Nichte, die ihre Telefone jeweils nach farblich-modischen Gesichtspunkten kaufe: «Derzeit steht ein pinkfarbenes Handy ganz oben auf der Favoritenliste.» Das weltweite Marktvolumen für Klingeltöne belaufe sich im Übrigen auf knapp 5 Milliarden Dollar.

Tanz ums Telefon

Eine Folge des «Tanzes ums Telefon» sei die «akustische Inszenierungsbelästigung», wie sie inzwischen jeder Bahnfahrer kennt: Irgendeinen Wichtigtuer gibt es fast immer, der seine Mitreisenden im Abteil terrorisiert, indem er sie lautstark an seinen Telefonaten teilhaben lässt. Eine weitere Konsequenz mobilen Telefonierens ist, so Meckel, ein sich wandelndes Verhältnis zum «Höflichkeitsgebot der Pünktlichkeit»: Wir kämen genauso oft oder öfter als früher zu spät, aber wir milderten die Folgen eines solchen Fauxpas dadurch ab, dass wir unsere Verspätung rechtzeitig ankündigten.

Auch wenn wir dann schliesslich «da» seien, erfahre das «Konzept des Anwe sendseins eine besonders einschneidende Veränderung»: Vor allem das Blackberry mache es möglich, anwesend abwesend zu sein. Zu seinen Nutzern gehöre auch eine Spezies Mensch, die Meckel als «Kommunikationssoziopathen» bezeichnet: «Er ignoriert seine direkte Umwelt, vernachlässigt persönliche Kontakte und Gespräche. Anderseits belästigt er jeden Menschen in seinem direkten oder entfernten Umfeld durch einen Dauerbeschuss mit Informationen und Anforderungen über Handy und Blackberry.» Interessant auch der Hinweis, mit welcher Selbstverständlichkeit wir uns alle durch Lügen des Kommunikationsdrucks erwehren. «Kein Handy-Empfang», «Klingeln nicht gehört», «Probleme mit dem E-Mail-Server», «Akku leer» oder «Habe im Flugzeug gesessen» – das seien die häufigsten Ausreden beim Kommunikationsabbruch. «Sie stimmen fast nie», ergänzt Meckel.

Kritische Ahnen

Sehr kursorisch fällt der Streifzug durch die Kulturkritik aus, mit dem Meckel ihr eigenes Werk im Forschungsdiskurs verortet: Georg Simmel, Theodor W. Adorno, Jürgen Habermas, Niklas Luhmann, Richard Sennett, Paul Virilio, Georg Franck, Peter Glotz – bei diesem Namedropping ist überwiegend das zu erfahren, was aufgeklärte Zeitgenossen bereits über die Kultur- und Kommunikationsindustrie, über Be- und Entschleunigung, über die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen und über die materiellen und kommunikativen Ungerechtigkeiten der Welt wissen dürften. – Zumindest zwei Namen möchte man Meckels Liste dennoch gerne hinzufügen: Helmut Schelsky und Ivan Illich. Der Soziologe Schelsky hat in «Einsamkeit und Freiheit» beschrieben, wie sehr gerade wissenschaftliche Kreativität dadurch inspiriert und freigesetzt wird, dass sich Forscher zurückziehen und ihre Erkenntnisse ungestört ausbrüten können. Der Philosoph und vormalige Jesuitenpater Illich wiederum bespöttelte in seiner Monumentalkritik des Automobilismus, wie viele von uns längst «beförderungssüchtige Gewohnheitspassagiere» geworden sind. Diesen schizoiden Artgenossen hat sich jetzt Miriam Meckels nach Aufmerksamkeit gierender Kommunikations-Junkie hinzugesellt.

Illich tendierte allerdings zu radikaleren Lösungen als Meckel: Von seinem Vorposten in Lateinamerika aus guckte er aus dem Blickwinkel der Dritten Welt auf die Absurditäten moderner Beschleunigungstechnologie. Am liebsten hätte er uns alle aufs Velo gesetzt, in dem er die einzig menschengerechte Fortbewegungstechnik sah.
Einen Knopfdruck vom Glück entfernt

Meckels Räsonnement bleibt dagegen, sofern dieses Adjektiv in der Postmoderne noch sinnvoll ist, stärker «bodenverhaftet»; es mündet in pragmatische, beherzigenswerte, wenngleich manchmal eher wohlfeile Ratschläge, wie der Kommunikationsfalle zu entkommen sei: eben durch reflektierten Umgang mit den neuen Kommunikationstechniken. Das Glück, unerreichbar zu sein, ist ja meist durch Knopfdruck erreichbar.

Aber warum uns dieser Druck auf die Aus-Taste des Blackberrys, des Mobiltelefons, des Computers so schwer fällt, weshalb uns der Mut zur Sende- und Empfangspause oftmals fehlt, begreift wohl erst so richtig, wer sich eine solche Pause gönnt und Meckels Buch aufmerksam liest. Das Glück der Unerreichbarkeit besteht letztlich aus der Kunst, sich unerreichbar zu machen. Aber dies gelingt offenbar nur wenigen. Natürlich müsse niemand ständig E-Mails checken, aber irgendwie habe, wer mobil kommuniziere, eben doch das Bedürfnis, immer wieder nachzusehen. «Pawlow lässt grüssen», so Meckel ungerührt.

Sympathisch an ihrem Buch ist nicht zuletzt, dass uns die Autorin immer wieder generös – und mit einer rar gewordenen Bereitschaft zur Selbstbespöttelung – Einblick in ihre Lernprozesse und damit auch in ihr eigenes Kommunikationsverhalten gewährt. Wie ein Lausbub erzählt sie, wie sie denjenigen Schnippchen schlägt, die allzu aufdringlich kommunizieren. Und entwaffnend beschreibt sie sogar die Geburtswehen ihres Manuskripts: Es «ist unter Bedingungen entstanden, von denen ich im Text entschieden abrate: parallel zu vielen anderen Projekten im laufenden Semester, auf Reisen, im Flugzeug, in Zügen, in Hotelzimmern in Zürich, Berlin, San Francisco und Oslo». Das Buch sei somit auch ein «selbsttherapeutisches Projekt» – was man ihm allerdings zum Glück kaum anmerkt.

Miriam Meckel: Das Glück der Unerreichbarkeit. Wege aus der Kommunikationsfalle. 180 S. Murmann-Verlag, Hamburg 2007.

 

(Eine frühere Version des Textes ist übersetzt in der Kategorie New Media / Nuovi Media zu finden auf unserer englisch-/italienischsprachigen Website) 

 

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