Netz-Aktivismus in China bringt Wandel

16. Juni 2014 • Digitales • von

Wer sich ein wenig in Chinas Cyberwelt auskennt, der hat vermutlich schon einmal vom so genannten „Uhrenbruder” gehört. Yang Dacai, Vorsteher der Behörde für Arbeitssicherheit in der Provinz Shaanxi, brachte es praktisch über Nacht zu großer Berühmtheit durch einen Auftritt, der in den chinesischen sozialen Medien stark diskutiert wurde.

Er hielt sich am 26. August 2012 an einer Unfallstelle auf einem Highway auf, etliche Passagiere eines Doppeldeckerbusses waren bei einer Kollision ums Leben gekommen. Bei dieser Gelegenheit wurde Yang von einem Passanten mit einer Smartphone-Kamera dabei aufgenommen, wie er einen Mitarbeiter angrinste. Das Bild landete zunächst auf einem privaten Blog, dessen  Autor die Kälte und Herzlosigkeit des Beamten im Angesicht des schrecklichen Unfalls beklagte.

Die Netzgemeinde war empört, und über den Mikroblogging-Dienst Weibo und das Instant Messaging-Netzwerk QQ wurde das Bild in Sekundenschnelle weiter verbreitet.  Die beiden Onlinedienste trugen erheblich dazu bei, dass Yang immer stärker unter Druck geriet.

Dies ist nur eines von zahlreichen Beispielen für eine Bewegung in den sozialen Medien Chinas, die sich in den vergangenen Jahren entwickelt hat. Die Bewegung ist nicht so impulsiv, spektakulär und revolutionär wie jene im so genannten Arabischen Frühling. Doch sie ist deshalb nicht weniger kraftvoll und einflussreich in ihrer Bedeutung für die chinesische Gesellschaft.

Zu einem wirklichen Aufschrei entwickelt sich ein Protest in den sozialen Medien, wenn Reporter konventioneller Medien auf der Suche nach der nächsten großen Headline auf den Zug aufspringen und die Inhalte der sozialen Medien aufgreifen. Denn dies erregt schließlich die Aufmerksamkeit der Entscheider in der Volksrepublik. Beamte in Autoritätspositionen innerhalb der rigiden chinesischen Machtorganisation der kommunistischen Partei entscheiden dann infolge der Berichterstattung und der öffentlichen Aufregung in einigen Fällen, Gerechtigkeit walten zu lassen und der empörten Bevölkerung Gehör zu schenken – etwa durch personelle Konsequenzen.

Die so genannte menschliche Suchmaschine (Human Flesh Search Engine), ein Begriff für die kollaborative Informationssuche und –verbreitung, folgt dabei folgendem Kalkül: Durch eine Initialhandlung wird die Aufmerksamkeit und der Ärger der Netzgemeinde auf einzelne Individuen gelenkt, indem auf stark frequentierten Plattformen nutzergenerierter Inhalt zum jeweiligen Aufregerthema gesammelt wird, wobei häufig für den Betroffenen äußerst peinliche, intime Details zusammengetragen werden. Dieses Vorgehen ist zu einer solchen Größe in Chinas Onlinekultur geworden, dass die britische Times der Praxis einen äußerst aussagekräftigen Namen gab: „Digitale Hexenjagd“.

Nur wenige Stunden nach dem ersten Erscheinen des beschämenden Bildes des grinsenden Beamten Yang aus der Provinz Shaanxi betonte ein Microblog ein Detail an Yangs Erscheinung noch einmal zusätzlich: Eine Uhr an Yangs Handgelenk, die der Autor als eine wertvolle Omega-Uhr zu erkennen glaubte. Das trieb andere Nutzer geradezu an, tiefer zu graben und weitere solcher Details zu suchen. Innerhalb von nur zwei Stunden trugen die Nutzer Indizien zusammen, dass Yang insgesamt mindestens fünf verschiedene hochwertige Schweizer Uhren besitzen musste, da er auf verschiedenen Bildern damit zu sehen war. Am nächsten Tag hatte ein Uhrenliebhaber eine Übersicht zu den Uhren zusammengestellt, die er auf einem Microblog veröffentlichte. Der geschätzte Wert der Uhren: umgerechnet etwa 23.000 Euro.

Die Diskussion über Yang verlagerte sich von seinem ungebührlichen Verhalten am Unfallort auf die Frage, wie sich der mittlere Beamte mit seinem nicht gerade üppigen Gehalt solch luxuriöse Güter leisten konnte. In den folgenden Tagen trugen die Nutzer weitere Bilder und Hinweise auf Kleidungsgewohnheiten des Offiziellen zusammen, die seinem Image nicht gerade zuträglich waren: So fiel er mit weiteren teuren Uhren, Brillen und Gürteln auf. Am 21. September 2012 war es dann so weit: Die Provinzverwaltung musste Yang aus seinen Funktionen entlassen, offiziell wegen „des Bruchs mit Parteiprinzipien“. Natürlich steckte dahinter ein Korruptionsverdacht, dem die Behörden nach der Entlassung mit offiziellen Ermittlungen nachgingen. Nach einem öffentlich viel beachteten Gerichtsprozess wurde Yang schließlich wegen Bestechlichkeit und anderer Vergehen zu 14 Jahren Gefängnis verurteilt.

Die Konsequenzen aus Yangs Fall scheinen ambivalent: Einerseits ist es seitdem ein offenes Geheimnis, dass Offizielle sich einfach angewöhnt haben, vor öffentlichen Auftritten luxuriöse Kleidungsstücke abzulegen – was freilich an der Grundproblematik nichts ändert. Auf der anderen Seite ist dieses Beispiel der Korruptionsbekämpfung kein Einzelfall. Es repräsentiert stattdessen die zahlreichen Entwicklungen, die in den vergangenen Jahren die Kraftverhältnisse in den chinesischen Medien verschoben haben. Es werden die Konturen eines lebendigen Aktivismus in den sozialen Medien und einer Graswurzelbewegung kollektiven Handelns sichtbar. Die Besonderheit dieser Dynamik wird verständlich, wenn man sich einige grundlegende Strukturen der Medien in China ansieht.

Zunächst ist die schiere Größe der sozialen Medien in der Volksrepublik bemerkenswert. So wird QQ, der führende Kurznachrichtendienst unter Computer- und Smartphonenutzern, täglich von mindestens 200 Millionen Menschen genutzt, 800 Millionen Personen sind dort registriert. Sina Weibo, die beliebteste Microblogging-Plattform in China, hat 280 Millionen aktive Nutzer, an einem durchschnittlichen Tag frequentieren etwa 61 Millionen Menschen die Seite. WeChat, ein schnell wachsender text- und sprachbasierter Nachrichtendienst für Smartphone-Nutzer, hat insgesamt 600 Millionen Nutzer, wobei 100 Millionen außerhalb von China leben. Analysen sozialer Netzwerke zeigen, dass die Netzwerkgröße einer der wichtigsten Faktoren ist, wenn man den Einfluss und die Effektivität eines Netzwerkes bemessen will. Im Fall der chinesischen sozialen Netzwerke stellt ihre Größe bereits eine enorme Herausforderung für staatliche Zensoren dar und ermöglicht es etlichen Aktionen und Initiativen die Aufmerksamkeit großer Menschengruppen zu bekommen und sich quer durch das Netz zu verteilen.

Der zweite bedeutende Faktor im Zusammenhang mit den sozialen Medien ist die starke staatliche Kontrolle der chinesischen konventionellen Medien. Zwar haben Jahrzehnte der vorsichtigen Reformen die chinesischen Medienstrukturen vom alten, komplett staatlich kontrollierten Modell hin zum aktuellen Konzept der konkurrierenden, marktorientierten Unternehmen verändert. Die Medien sind offener für Publikumsinteressen und –bedürfnisse. Doch der Ein-Parteien-Staat hat nie die ideologische Kontrolle über das Mediengeschäft abgegeben, weshalb die Medienmacher regelmäßig Handlungsanweisungen erhalten, wie sie den staatlichen Ansprüchen und Zielen zu genügen haben. Um Beamte des Propaganda-Apparates von ihren Redaktionen fernzuhalten, scheuen die Medien von vornherein davor zurück, kontroverse oder staatlich zensierte Themen anzugehen. So überrascht es nicht, dass die konventionellen Medieninhalte das Publikum eher langweilen. Daher schreiben viele Chinesen großen nationalen Medienunternehmen nur eine geringe Glaubwürdigkeit zu, die Netzgemeinde ist noch weitaus kritischer mit den Medienangeboten. Informationen der großen Drei, so der Begriff für das Dreigespann China Central Television (CCTV), People’s Daily und der Nachrichtenagentur Xinhua, werden häufig öffentlich ins Lächerliche gezogen.

So etwa erst kürzlich geschehen am 8. Februar 2014, als CCTV ein Rechercheprojekt über ungezügelte Prostitution in der südchinesischen Stadt Dongguan veröffentlichte. Dieses Dossier führte zu einem harten Durchgreifen der lokalen Autoritäten. Als Reaktion darauf bekundeten viele Netzaktivisten in den sozialen Medien ihre Sympathie mit den verfolgten Sexarbeitern und – arbeiterinnen und kritisierten CCTV dafür, ausgerechnet diese Gruppe zu dämonisieren. Indes lasse der Fernsehsender die wahren sozialen Probleme wie Korruption, Umweltverschmutzung und Arbeitslosigkeit bei der Berichterstattung außen vor, um die dafür verantwortlichen Offiziellen nicht zu provozieren.

Zudem bemerken die Netzbürger es sehr wohl, wenn der staatliche Propagandaapparat in die sozialen Medien einzugreifen und gezielt amüsante oder positive Geschichten zu streuen versucht. So muteten etwa die Meldungen über einen Besuch des Präsidenten Xi Jinping im Dezember 2013 in einem ganz normalen Restaurant als PR-Coup an: Sie wurden zwar über einen Microblog geteilt, aber dann all zu schnell von den „großen Drei“ aufgegriffen. Gleichzeitig zeigen Versuche wie dieser, wie hoch die Behörden die Wirkung der sozialen Medien einschätzen.

Inhalte in sozialen Medien spielen aufgrund ihrer nutzerzentrierten Aufmachung für Chinesen eine überaus wichtige Rolle. Chinesen zeigen im internationalen Vergleich eine weitaus größere Neigung, zu Inhalten im Netz etwas beizutragen und sich im Gegenzug auch auf Informationen anderer Nutzer zu verlassen. Sie glauben stärker als andere Nationalitäten an ihre Möglichkeiten, durch Online-Partizipation etwas verändern zu können. Die stark kontrollierten konventionellen Medien und die von ihnen verbreiteten zensierten Informationen tragen dazu bei, dass sich das Nutzerinteresse und die Aktivitäten im Netz in unabhängige Onlineräume verlagern.

Der IT-und Kommunikations-Experte Clay Shirky hat die These aufgestellt, dass die digitalen Medien den Menschen die Möglichkeit eröffnen, sich zu organisieren, ohne dass Organisationen nötig sind („organizing without organizations.”). Dies trifft in besonderem Maße in China und auf den dortigen Aktivismus in sozialen Medien zu. Ein Grund dafür, dass die chinesischen Behörden und politischen Entscheidungskräfte nur noch wenig Kontrolle über die sozialen Medien haben, ist ihre alte Taktik, mit Kritikern umzugehen: Über mehrere Jahrzehnte war die Administration es gewohnt, einzelne Individuen und kleine Gruppen von Protestführern anzugehen und zu isolieren – etwa durch Haft. Dadurch eliminierten sie die Objekte in jungen sozialen und politischen Bewegungen, die ihnen womöglich gefährlich hätten werden können.

Kollektive Aktion durch gemeinsame Recherche vieler Netzaktivisten ohne erkennbare Anführer macht Engagement in den sozialen Medien in China deshalb zu einer besonders lohnenswerten und nachhaltigen Protestform. Die großen Potenziale des Netzaktivismus zeigen sich etwa in großen Protestwellen gegen regionale Regierungsbemühungen, umweltschädliche Kraftwerke und Verbrennungsanlagen in verschiedenen chinesischen Städten durchzusetzen. In den meisten dieser Fälle hat der Protest, der sich durch die Hinweise und Diskussionen in Smartphone-basierten sozialen Medien formierte, dazu geführt, dass die Behörden die Projekte stoppen oder komplett aufgeben mussten.

China wurde auch deshalb zu einem interessanten Pflaster für digitalen Aktivismus, da sich die soziopolitischen Rahmenbedingungen mit dem Erwachen der Marktorientierung des Landes stark verändert haben. Die Unterschiede zwischen verschiedenen Sektoren und sozialen Gruppierungen haben sich in der jüngsten Zeit verstärkt, gleichzeitig herrschen abweichende und häufig gegensätzliche Interessen innerhalb der einzelnen Gruppen – dies alles steigert die Wahrscheinlichkeit, dass sich Massenproteste entwickeln. Das chinesische Regime reagiert zunehmend nachsichtig auf die verschiedenen Formen des digitalen Aktivismus und in vielen Fällen haben selbstorganisierte Netzwerke die Regierenden erfolgreich in Regress genommen und dazu getrieben, Rechenschaft abzulegen.

Es muss jedoch betont werden, dass sich diese Erfolge fast immer auf sehr spezifische Themen bezogen und meist eher auf der lokalen Ebene möglich waren. Einen Anlauf für einen Regimewandel oder einen Angriff auf die zentralen Autoritäten und das Partei-System gab es bisher nicht und diese würden auch nicht toleriert werden. Auch in der nahen Zukunft wird das politische Regime in China gegen solche Versuche vermutlich sehr hart vorgehen. Aktivismus in den sozialen Medien hat also vor allem auf der kleinen und mittleren Ebene Veränderungskraft, dort ist er allerdings nicht mehr wegzudenken.

Übersetzt aus dem Englischen von Karen Grass

Bildquelle: Wikimedia Commons

 

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