Vergesst nicht die jungen Alten

19. Juni 2012 • Digitales, Ressorts • von

Pensionierte Journalisten gründen Online-Medien und werden damit zu Konkurrenten ihrer ehemaligen Arbeitgeber. Die klassischen Medien haben noch nicht gelernt, das Potenzial erfahrener Senioren zu nutzen.

Altgediente Schweizer Journalisten haben in den vergangenen beiden Jahren zwei Online-Informationsplattformen gegründet: Das täglich aktualisierte Journal 21 ging im September 2010 an den Start. Seither wurden mehr als 2400 Artikel aus Politik, Wirtschaft, Kultur und Gesellschaft publiziert. Infosperber folgte ein halbes Jahr später und hat inzwischen über 1100 Beiträge herausgebracht.

Die Philosophie der beiden Web-Angebote ähnelt sich: „Wir werden überflutet mit News und Kurznachrichten. Doch um die News zu verstehen, braucht es vertiefte Analysen, Kommentare und Hintergrundberichte“, heißt es auf der Website von Journal 21, und weiter: „Ganz bewusst betreiben wir keinen reißerischen Journalismus. Wir richten uns an Leserinnen und Leser, die bereit sind, anspruchsvolle Texte zu konsumieren. Wir wollen nicht im Mainstream schwimmen.“

Sehen, was andere übersehen

Inhaltlich wollen auch die Initiatoren von Infosperber gemäß gesellschaftlicher oder politischer Relevanz gewichten und auf ihrer Plattform vergessene Zusammenhänge und vernachlässigte Perspektiven ausleuchten sowie „die PR-getriebene Information anderer Medien“ unterlaufen: „Infosperber sieht, was andere übersehen“, behaupten die Macher kess. Sie wollen die dominierenden Medien nicht konkurrenzieren, sondern ergänzen und pflegen deshalb „auch die vernachlässigte Medienkritik“.

Beide Plattformen liefern tatsächlich vielerlei Belege dafür, dass sie ihren hohen Anspruch einlösen. Politisch und konfessionell geben sie sich neutral. Fraglos sind, wie Infosperber auf seiner Website betont, die pensionierten Macher unabhängiger „von wirtschaftlichen, politischen oder weltanschaulich-religiösen Interessen“ als ihre festangestellten oder freischaffenden Kollegen, die sich mit Journalismus ihren Lebensunterhalt verdienen. Es ist allerdings die Freiheit der Selbstausbeutung: Weder Journal 21 noch Infosperber bezahlen Honorare. Infosperber erwartet von den beteiligten Autoren obendrein, dass sie am Ende ihres Beitrags mögliche Interessenkonflikte zum Thema offenlegen.

Aus Lust und Freude

Zum Team von Journal 21 gehören achtzig erfahrene Journalisten, die in großen schweizerischen und deutschen Medienhäusern gearbeitet haben – oder noch arbeiten. Viele sind oder waren Chefredaktoren, Redaktionsleiter, Ressortleiter, Korrespondenten oder Professoren, sagt der Spiritus Rector der Plattform, der vormalige Chef der Deutschschweizer Tagesschau, Heiner Hug. Alle arbeiten „aus Lust und Freude – und im Bewusstsein, dass der fundierte Journalismus weiterlebt – sofern man ihn pflegt“.

Um Hug haben sich als weitere bekannte Journalisten Stephan Wehowsky, Reinhard Meier, Emil Lehmann sowie Ignaz Staub und Claudia Kühner geschart. Von der Gründungstruppe seien noch alle dabei; etwa zwanzig Neue sind dazu gestoßen, 15 der „anfänglich Neugierigen“ dagegen ausgestiegen. Zum harten Kern, der aus 15 bis 20 Journalisten besteht, sind zwei neu hinzugekommen.

Beim Infosperber ist die Truppe deutlich kleiner. Im Impressum sind vierzig Journalisten aufgeführt; davon liefert ein Dutzend Getreuer „mindestens alle vierzehn Tage einen Beitrag, ein weiteres Dutzend schreibt nur in größeren Zeitabständen“, sagt der Publizist und ehemalige Kassensturz-Fernsehmoderator Urs P. Gasche. Zusammen mit dem Medienberater Christian Müller, der früher als Verlagsmanager und Journalist arbeitete, sowie mit Robert Ruoff, der zuletzt die Bildungsredaktion des Schweizer Fernsehens leitete, gehört er zu den Initiatoren der Plattform.

Stabiler harter Kern

Der Kreis der Mitwirkenden ist ebenfalls erstaunlich stabil. Der harte Kern, sprich: der Stiftungsrat, hat „immer noch die gleiche Zusammensetzung wie bei der Gründung“. Von ursprünglich vierzehn Interessierten seien drei nie aktiv geworden. In der Redaktionsleitung sind fünf Journalisten aktiv. „Einer ist ausgeschieden und wurde ersetzt. Der „harte Kern“, ergänzt Christian Müller, „besteht aus vier Köpfen.“

Wie erfolgt die redaktionelle Koordination? Wöchentlich gibt es bei Journal 21 einen gemeinsamen Telefontermin, monatlich ein Treffen. Ferner kümmert sich ein Leitungsteam ums Tagesgeschäft. Es besteht aus sechs Dienstredaktoren, die sich abwechseln. Sie „redigieren die eingegangenen Texte, weisen sie eventuell zurück, verlangen Änderungen. Die Dienstredaktoren rufen auch die Mitarbeiter an und bitten sie, zu diesem oder jenem Thema etwas zu schreiben.“ Das funktioniere sehr gut.

Ganz ähnlich geht es bei Infosperber zu: Grundsätzliche Fragen zur Publizistik, zur Organisation oder zur Optimierung der Website behandelt die fünfköpfige Redaktionsleitung an rund vier Sitzungsterminen pro Jahr. Ums Alltägliche kümmert sich jeweils ein Mitglied der Redaktionsleitung, das dann diensthabender Redaktor ist. In heiklen Fällen, sagt Gasche, konsultiert dieser die übrigen Mitglieder der Redaktionsleitung. Korrespondiert er mit Autoren oder mit Usern, geht jeweils eine E-Mail-Kopie an die übrigen Mitglieder des Leitungsgremiums, damit alle informiert sind.

Ressorts gibt es keine. Unterschieden wird jedoch zwischen Redaktionsleitung, Redaktoren sowie redaktionell Mitarbeitenden. Wer zur Redaktionsleitung gehört, kann Beiträge Dritter bearbeiten. Redaktoren können ihre eigenen Beiträge selbständig ins System eingeben und entweder „offline“, „offline zum Gegenlesen“ oder „online“ stellen. Mitarbeitende können ihre eigenen Beiträge ebenfalls direkt ins System eingeben. Sie werden jedoch erst nach einer redaktionellen Überprüfung online gestellt.

Träger von Journal 21 ist ein Verein, der im Handelsregister steht. Hinter Infosperber steht die gemeinnützige Schweizerische Stiftung zur Förderung unabhängiger Information. Weder ein Millionär noch ein Konzern könne sie kaufen, heißt es auf der Website, und weiter: „Die Stiftung will einen unabhängigen Journalismus in der ganzen Schweiz fördern, insbesondere journalistische Recherchen von gesellschaftlicher und politischer Relevanz.“

Selbständig bleiben

Wo so viel Kompetenz und Goodwill zusammenfinden, wäre es ja naheliegend, dass etablierte Verlage, die sich allesamt schwer damit tun, online Geld zu verdienen, Kooperationsangebote machen. Solch eine Offerte gab es jedoch für Journal 21 nur von 20 Minuten. Die Initiatoren lehnten ab: „Wir wollen ja genau nicht das 20-Minuten-Label“, begründet Hug.

Infosperber hat sich dagegen mit 20min.ch auf eine Abmachung eingelassen. Die Online-Plattform kann Beiträge übernehmen und promotet als Gegenleistung den Partner. Mit der Basler Tages-Woche wurde ebenfalls vereinbart, gegenseitig Beiträge mit Quellenhinweisen zu verwenden.

Weshalb kooperieren oder fusionieren Journal 21 und Infosperber nicht? „Das publizistische Konzept ist ähnlich“, konzediert Gasche. „Inhaltlich hat Journal 21 seine besondere Stärke in Hintergrundberichten über das Geschehen im Ausland.“ Formal präsentiere sich Journal 21 eher als Blog denn als Informationsplattform. Infosperber habe vor dem Start Journal 21 eine Zusammenarbeit vorgeschlagen – von einer freien gegenseitigen Übernahme von Texten bis hin zu einer Fusion. Heiner Hug habe sich aber nicht interessiert gezeigt. Er wollte Journal 21 als eigenständige Marke profilieren, sagt Gasche. Immerhin hätten sich vier Autoren von Journal 21 bereit erklärt, ihre Artikel und Kommentare auch Infosperber zur Verfügung zu stellen, und umgekehrt könnten auch Infosperber-Autoren ihre Beiträge Journal 21 anbieten.

Eigenbrötelei?

„Wir waren die Ersten. Wir verfügen über einen Stamm aus sehr bekannten, sehr erfahrenen Redaktoren. Wir haben Erfolg und werden so weitermachen“, antwortet Hug auf die Frage nach einer Kooperation. Ein bisschen sieht das nach Schweizer Eigenbrötelei aus – auch zur journalistischen Qualitätssicherung leistet sich das Land ja gleich zwei konkurrierende Initiativen mit sehr ähnlichen Zielen, aber offenbar inkompatiblen Akteuren – den Verein Qualität im Journalismus und den Verein Medienkritik.

Juristische Auseinandersetzungen oder Drohungen gab es bisher weder bei Journal 21 noch bei Infosperber – wohl aber heftige Reaktionen, so Hug. Und zwar insbesondere bei Artikeln über den Nahen Osten. Das kenne er von der Tagesschau. Auch bei Infosperber lieferte ein Beitrag über Israel den Anlass für ein Gegendarstellungs-Begehren. Daraufhin gab man dem Intervenierenden Gelegenheit, seine Sicht der Dinge darzulegen, sagt Gasche.

Journal 21 hat in den ersten eineinhalb Jahren 70.000 Franken (ca. 58.300 Euro) gekostet. Stiftungen haben inzwischen Unterstützung versprochen, und kürzlich haben die Initiatoren auch zum ersten Mal einen Spendenaufruf publiziert. Die Initiatoren von Infosperber haben bis Ende 2011, also in den ersten neun Monaten, 23.000 Franken (ca. 19.150 Euro) ausgegeben – das Geld wurde vor allem für Optimierungen der Website, Werbung, Hosting und Redaktionsspesen ausgegeben. Die Spenden Dritter beliefen sich auf 3000 Franken (ca. 2500 Euro).

Kompetenzverlust

Unabhängig vom Erfolg der beiden Plattformen, der sich nach einem bzw. eineinhalb Jahren Laufzeit noch nicht bewerten lässt, deutet die Existenz von Journal 21 und Infosperber darauf hin, dass die traditionellen Medien einmal mehr versagen: Es ist ihnen nicht gelungen, das Potenzial der jungen Alten zu nutzen und für sich zu erschließen – und damit auch Sichtweisen der Generation 65+ angemessen in ihre Medienprodukte zu integrieren. Auf deren Erfahrung und Lebensweisheit zu verzichten, bedeutet nicht nur für die Gesellschaft einen Verlust an Kompetenz und Wissen. Es ist auch für die betroffenen Redaktionen ein unnötiger, schwer nachvollziehbarer Aderlass, wenn geistig rege 65-Jährige einfach aufs Altenteil geschickt werden.

Je größer der Anteil der Älteren in unserer Gesellschaft wird, desto mehr sollten sich Journalisten und Medienmanager darum kümmern, dass diese auch weiterhin angemessen im Berichterstattungsalltag repräsentiert sind. Dass jahrelang um Quoten von Frauen und Minderheiten gestritten wurde, mag inzwischen ja schon fast wie ein Streit von gestern anmuten, auch wenn in Deutschland Journalistinnen soeben – wohl zu Recht – einen höheren Anteil an redaktionellen Führungspositionen eingefordert haben. Indes wäre es auch an der Zeit, den „grauen Panthern“ ihre Quote zu sichern, sowohl mit Blick auf die öffentliche Wahrnehmung als auch mit Blick auf die Repräsentanz dieser Altersgruppe in den Redaktionen.

Erstveröffentlichung: NZZ vom 19.6.2012

 

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