Die Türkei im präfaktischen Nebel

24. Februar 2017 • Internationales • von

Dass die Beschuldigung der Gülen-Bewegung, solange es keine Beweise gibt, ebenso eine „Verschwörungstheorie“ darstellt wie eine Beschuldigung der Regierung Erdogan, bleibt in der Berichterstattung unbeachtet, kritisiert der Erfurter Theologe Christoph Bultmann. Er bemängelt vor allem Interviews mit und Beiträge von Can Dündar, vormaliger Chefredakteur der Zeitung Cumhuriyet.

Can Dündar bei der Vorstellung seines Buchs “Lebenslang für die Wahrheit” auf der Frankfurter Buchmesse im Oktober 2016. Copyright: Das Blaue Sofa / Bertelsmann.

Die Türkei macht mit einem Transformationsprozess Schlagzeilen, den türkische Journalisten im Land selbst nicht mehr kritisch beobachten und kommentieren können. Präsident Erdoğan wird bei Reporter ohne Grenzen als ein „Feind der Pressefreiheit“ geführt. Detaillierte Angaben zur Unterdrückung der Medien finden sich auch auf der Website „P24: Platform for independent journalism / Bağimsiz gazetecilik platformu“. Was aber zeichnet Berichte über die Türkei aus, wenn Regierungspropaganda das Bild beherrscht?

Seit dem Putschversuch vom 15. Juli 2016 sind in unendlichen Repetitionen und Variationen Feststellungen zu lesen wie „Die türkische Regierung vermutet Gülens Netzwerk hinter dem Putschversuch vom Sommer 2016“ oder „Die türkische Führung macht den in den USA lebenden islamischen Prediger Fethullah Gülen für den Putschversuch vom 15. Juli 2016 verantwortlich und geht gegen mutmaßliche Anhänger sowie Oppositionelle vor“. Interessiert sich der Leser, interessiert sich der Journalist dafür, ob die Regierung relevante Beweise für ihre Position liefert? Der Putschversuch ist ein Faktum, die Position der Regierung ist ein Faktum, aber die Substanz dieser Position selbst ist präfaktischer Nebel. Hat die Gülen-Bewegung die Verantwortung für den Putschversuch oder nicht?

Autorität oder Faszination?

Vor diesem Hintergrund ist der im Exil lebende Journalist und vormalige Chefredakteur der Zeitung Cumhuriyet Can Dündar zu einer bedeutenden Stimme für das Verständnis der Entwicklungen in der Türkei geworden. Die Redaktion der ZEIT hat ihn für eine regelmäßige Kolumne gewonnen.

Ein Interview des Journalisten Daniel Steinvorth mit Dündar in der Neuen Zürcher Zeitung vom 12. Dezember 2016 („‚Die Türkei ist nicht Erdoganistan‘. Der Traum von Europa ist ausgeträumt, sagt der türkische Intellektuelle Can Dündar – preisgeben sollte Europa sein Land aber nicht“) gibt Anlass, das Auftreten von Dündar unter der Frage von Autorität oder Faszination zu betrachten. Für Autorität zählen die unübertroffene Kenntnis eines Themenbereichs und die unbestechliche Kritik bei der Wahrnehmung aller Akteure und Vorgänge, die Faszination einer journalistischen Stimme resultiert aus Präsenz, Entschiedenheit und Einfluss auf Multiplikatoren im Mediensystem.

Im Interview mit der NZZ spielte auch der Putschversuch eines Teils des türkischen Militärs eine Rolle. Steinvorth, durch Kommentarartikel am 19. und 29. Juli 2016 mit der Thematik vertraut, richtet an Dündar die folgende fragende Aussage: „Für viele ist der Putschversuch noch immer ein Rätsel. Die Regierung sieht die Gülen-Bewegung als Drahtzieherin, hat aber bis heute keine Beweise vorgelegt.“

“Das ist eine Verschwörungstheorie”

Zu erwarten sind zwei mögliche Antworten: Entweder: „Sie irren. Die Beweise liegen vor, ich nenne Ihnen die drei, vier wichtigsten.“ Oder: „Sie haben Recht. Es gibt keine Beweise, aber ich biete Ihnen aus den folgenden drei, vier Gründen die folgende Hypothese an.“ Denkbar wäre noch eine dritte Antwort, wie sie der ehemalige türkische Verfassungsrichter Yekta Güngör Özden dem Journalisten Tim Neshitov in einem Interview in der Süddeutschen Zeitung vom 5. August 2016 gegeben hatte: „Bis ich konkrete Beweise sehe, kann ich nur spekulieren, und spekulieren will ich nicht.“

Das Interview mit Dündar läuft anders. Antwort: „Es gibt zwei Theorien. Dass entweder Fethullah Gülen den Putsch orchestriert hat oder dass Erdogan ihn inszeniert haben muss. Meine Zeitung hatte eigentlich immer eine klare Position: Wir haben vor der Gülen-Bewegung gewarnt. Erdogan selber aber hat Gülenisten in den Staatsapparat eingeschleust, in die Bürokratie, in die Justiz, die Polizei. Über viele Jahre waren die Regierungspartei, die AKP, und die Gülen-Bewegung Partner. Das ging so lange gut, bis sich das Frankensteinsche Monster gegen seinen Erschaffer stellte. Der Putschversuch im Juli schlug zum Glück fehl. Aber statt in einem Junta-Staat leben wir heute in einem Polizeistaat.“ Rückfrage: „Also denken Sie auch, dass es die Gülenisten waren?“ Antwort: „Ich glaube, es handelte sich um eine Koalition aus Gülenisten und Erdogan-Gegnern unter den Offizieren.“ Frage: „Und Erdogan?“ Antwort: „Das ist eine Verschwörungstheorie. Ich würde so etwas in einem Roman schreiben, nicht in einer Zeitung. Es mag verlockend klingen, dass Erdogan die Putschisten einfach machen ließ, um den Ausnahmezustand ausrufen zu können und die Macht komplett an sich zu reißen. Aber dafür gibt es keine Beweise.“ Frage: „Haben Sie damit gerechnet, dass sich nach dem 15. Juli alles zum noch Schlechteren entwickelt?“ Antwort: „Erdogan hat schon vorher einen autoritären und antiwestlichen Kurs verfolgt, an dessen Ende eine Art modernes Sultanat steht. Diesen Kurs hat er beschleunigt, er hat den Putsch deswegen als ‚Geschenk Allahs‘ bezeichnet.“ […]

Was klärt der Begriff „Koalition“?

Ist die Leserschaft nun mit faszinierender Entschiedenheit konfrontiert oder mit autoritativer Analyse? Gegenüber seinem Artikel „Blutiger Rosenkrieg in der Türkei. Erdogans rabiater Bruch mit dem alten Partner Fehulla Gülen“ in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 25. Juli 2016 spricht Dündar jetzt neu von einer „Koalition“. Insofern bringt er ein analytisches Element ein. Aber er verliert keinen Satz über die gemeinten Koalitionäre. Wieviele von den 165 Generälen und Admirälen, die seit dem Putschversuch verhaftet wurden, waren ‚Gülenisten‘, wieviele waren andere ‚Koalitionäre‘? (Vgl. Günter Seufert in der SWP-Publikation „Krisenlandschaften“. Konfliktkonstellationen und Problemkomplexe internationaler Politik. Ausblick 2017, 39-42, und Gareth K. Jenkins auf der Website The Turkey Analyst: Post-Putsch Narratives and Turkey’s Curious Coup (22. Juli 2016) und Myths and Mysteries: Six months on from Turkey’s Curious Coup (26. Januar 2017).

Dass die Beschuldigung der Gülen-Bewegung, solange es keine Beweise gibt, ebenso eine „Verschwörungstheorie“ darstellt wie eine Beschuldigung der Regierung Erdogan, bleibt unbeachtet. Auch dass es mehr als nur „zwei Theorien“ gibt, denn das türkische Militär steht in der Tradition des Laizismus. Sevim Dagdelen, MdB, spricht in ihrem Buch Der Fall Erdogan. Wie uns Merkel an einen Autokraten verkauft (Frankfurt/Main 2016) von dem „nach wie vor tendenziell kemalistischen“ Militär (172, mit einem Selbstzitat von 2013) und macht sich bei aller Kritik an der Gülen-Bewegung (Kap. 13) die „offizielle Version der AKP-Regierung, es habe sich um einen Putschversuch der Bewegung um den Prediger Fethullah Gülen gehandelt, in den Teile der Streitkräfte eingebunden gewesen seien“ ausdrücklich nicht zu Eigen (Kap. 6, Zitat 72). Dündar hat zu dem Buch ein Vorwort geschrieben.

Polarisierung statt Argumentation

Die Beurteilung der konkreten Frage nach der Urheberschaft hat keine Basis darin, dass die Zeitung Cumhuriyet bei ihrer Kritik an der Gülen-Bewegung „eigentlich immer eine klare Position“ hatte. Doch das Interview kennt nur die übliche unerbittliche Polarisierung: Der Sprecher hier, die Gegner dort. Da derweil in der Türkei nicht nur um die 150 Journalisten – ohne Aussicht auf eine begründete Anklage und einen fairen Prozess – im Gefängnis sitzen, sondern auch mehr als Zehntausend der ‚Gegner‘, die als Anhänger Gülens gelten, sind weniger evasive Antworten geboten.

Die vehemente Polarisierung erklärt, warum Dündar in seiner Kolumne in der ZEIT bisher nicht auf das geheime Dokument der EU-Geheimdienststelle „Intcen“ vom 24. August 2016 eingegangen ist, über das am 17. Januar 2017 in der Times, in der Presse und auf der Platform euobserver berichtet worden war. Denn in diesem Dokument wird effektiv die von der türkischen Regierung erhobene Beschuldigung der Gülen-Bewegung mit der Verantwortung für den Putschversuch als Unsinn gewertet. Auf der Website der Zeitung Cumhuriyet wurde darauf sogar mit einer Meldung reagiert. Die Polarisierung erklärt ebenso, warum Dündar in seiner Kolumne vom 9. Februar 2017 „sechs klare Botschaften“ aus der Pressekonferenz mit Angela Merkel bei ihrem Türkeibesuch am 2. Februar 2017 aufzählt, aber eine von den Journalisten Michael Martens in der FAZ und Mike Szymanski in der SZ am 3. Februar referierte siebte klare Botschaft, nämlich dass auch bei der Verfolgung mutmaßlicher Putschisten „Schuld immer individuell festgestellt“ werden müsse, unterschlägt. Angesichts der Regierungspolitik und -propaganda in der Türkei gegenüber „FETÖ“ ist die Stoßrichtung dieses Votums unmissverständlich klar.

Die Wahrheit schreiben wollen

Dündar zeichnete im SPIEGEL vom 30. Dezember 2016 die Perspektive für ein „türkisches Exilpresseorgan“ als ein Forum für Journalisten, die „endlich wieder die Wahrheit schreiben wollen“. Einer solchen Initiative wäre jeder Erfolg zu wünschen. Soll es dabei um Wahrheit gehen, sollte Autorität mehr zählen als Faszination. Der gleichfalls im Exil lebende türkische Journalist Yavuz Baydar, zurzeit mit einer regelmäßigen Kolumne in der Süddeutschen Zeitung beauftragt, hielt Ende September in einem Artikel „How the failed Putsch in Turkey evolved into a counter-coup“ in den Südosteuropa-Mitteilungen fest: „As the AKP propaganda singles out Gülenists as ‚the one and only‘ culprit, as some sort of ‚mother of all evil‘, this demonization inevitably brought Turkish media’s pro-government, militarist and opportunist segments together in a chorus; and this large block still keeps avoiding to ask the hard questions.“ (Jg. 56, Heft 4, 2016, 6-15, Zitat 11) Die geplante Exilzeitung muss diese Fragen stellen, um auf Fakten zu stoßen.

Zum Thema: War es Gülen? – Journalisten und Erdogans Narrativ

Bildquelle: Blaues Sofa / Flickr CC:Can Dündar auf dem Blauen Sofa #FBM16; Lizenzbedingungen: https://creativecommons.org/licenses/by-nd/2.0/

 

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