Pressefreiheit in der Ukraine: zwiespältige Bilanz

15. Juni 2016 • Internationales, Pressefreiheit • von

Reporter ohne Grenzen (ROG) hat kürzlich einen neuen Bericht über die Lage von Journalisten und Medien in der Ukraine herausgegeben. Zwei Jahre nach der Maidan-Revolution fällt das Fazit der NGO gemischt aus. Wie die Autorin Gemma Pörzgen schreibt, sei die Ukraine zwar „ein Land in der Krise“, aber „trotz tiefgreifender Probleme auf einem guten Weg”.

EuromaidanDie Journalistin Gemma Pörzgen ist im Januar und Februar 2016 nach Kiew, Lemberg und Odessa gereist, um mit 30 Journalisten und Medienexperten über die Herausforderungen zu sprechen, denen der ukrainische Medienmarkt derzeit gegenüber steht. Wie die Interviews für den ROG-Bericht „Ernüchterung nach dem Euromaidan“ zeigen, sind es vor allem drei Dinge, die es den Journalisten und Medien schwer machen, sich neu zu positionieren: der Krieg im Osten des Landes, die schlechte Wirtschaftslage und eine politische Entwicklung, die von vielen als stagnierend empfunden wird.

Zwar können Journalisten in der Ukraine inzwischen frei berichten, investigativ arbeiten und Medienprojekte frei von staatlicher Einmischung entwickeln, dennoch gibt es den Interviewpartnern zufolge weiterhin Politiker, die immer noch zu stark „sowjetisch“ denken und der Ansicht sind, auf „traditionelle Weise“ mit Journalisten umgehen zu können. So erzählt der Nachrichtenchef des TV-Senders 1+1, Serhij Popov, von den Schwierigkeiten, ein Interview mit dem ukrainischen Präsidenten Poroschenkozu führen. Wie zur Janukowytsch-Zeit dürfe die Redaktion nicht selbst das Interview führen, sondern müsse alle Fragen vorher zuschicken und abstimmen. Dann zeichne nicht die Redaktion, sondern das Kamerateam des Präsidialapparats das Interview auf, erledige den Schnitt und schicke das fertige Interview zur Ausstrahlung. 1+1 sei dazu aber nicht mehr bereit – und bekomme seitdem kein Interview mehr, so Popov.

Euromaidan beförderte Online-Medien

Die Maidan-Revolution organisierte sich hauptsächlich über soziale Netzwerke und etablierte Online-Medien als wichtige Informationsquelle. Wie es im ROG-Bericht heißt, nutzten im vergangenen Jahr mehr als 20 Millionen Ukrainer das Internet, um mit Freunden zu kommunizieren, sich zu informieren oder Unterhaltungsangebote abzurufen. Wie eine Umfrage des Gorschenin-Instituts in Kiew ergab, informieren sich 29,9 Prozent der Ukrainer vor allem über ukrainische Online-Nachrichtenseiten.

Die Aufbruchsstimmung während der Revolution begünstigte viele neue Medienprojekte, zwei Jahre später aber folgte die Ernüchterung, wie Gemma Pörzgen am Beispiel des Internet-Portals Hromadske TV aufzeigt. Der Sender wurde kurz vor dem Euromaidan von Journalisten gegründet, die nicht mehr länger in den von Oligarchen kontrollierten privaten TV-Sendern arbeiten wollten, und entwickelte sich zu einem der wichtigsten und beliebtesten Medien der Revolution, weil er live und ungeschnitten vom Unabhängigkeitsplatz sendete. Inzwischen aber hat der Sender deutlich an Nutzern verloren. (mehr dazu im EJO-Beitrag Gegen den Oligarchen-Mainstream)

In Zeitungen informieren sich der genannten Umfrage des Gorschenin-Instituts zufolge nur noch 12,5 Prozent der Ukrainer. „Die Presse ist im freien Fall“, sagt Oksana Romanjuk vom Institut für Massenmedien im Gespräch mit Pörzgen. Durch die andauernde Wirtschaftskrise haben auch Zeitungskunden kein Geld mehr, Anzeigen zu schalten. Pörzgens Interviewpartner kritisieren zudem, dass es keine seriöse überregionale Tageszeitung mehr in der Ukraine gebe, die den öffentlichen Diskurs präge und politisch meinungsbildend wirke. Als „Lichtblick“ gelte die Wochenzeitung ZerkaloNedeli. Sie sei als einzige Zeitung unabhängig, kritisch und gut informiert. Alle anderen Zeitungen würden von Eigentümerinteressen gelenkt, betonen die ukrainischen Medienexperten.

Öffentlich-rechtlicher Rundfunk als Gegengewicht zu Oligarchen-Sendern

Die wichtigste Informationsquelle in der Ukraine ist nach wie vor das Fernsehen. 88 Prozent der Ukrainer informieren sich laut der Umfrage des Gorschenin-Instituts vor allem im TV. Die Sender aber sind im Besitz von Oligarchen, die sie vor allem für politische Zwecke und ihre eigenen Geschäftsinteressen benutzen und sich für die Entwicklung des Medienmarkts nur wenig interessieren. Der ROG-Bericht zitiert die Geschäftsführerin von Hromadske TV, Katja Gortschinskaja, die in den „Oligarchen-Medien“ einen Teufelskreis sieht. Einerseits benötigten die Oligarchen ihre Medien als Teil ihres Machtsystems, andererseits könnten die Medien ohne die Oligarchen nicht existieren. Lobbyinteressen und Werbeeinahmen seien „in einer ungesunden Weise“ verquickt. Über die moderne Ausstattung vieler Sender sagt Gortschinskaja: „Die einzelnen TV-Sender sehen hochprofessionell aus, um hohe Einschaltquoten zu erzielen. Sie sehen so aus, wie ein moderner Sender aussehen muss, sie sind aber im Kern verdorben.“

Auch der ukrainische Präsident Poroschenko besitzt mit Kanal Fünf einen eigenen Fernsehsender – obwohl er vor seiner Präsidentschaft versprochen hatte, sich von seinem Unternehmen zu trennen. Die Einschaltquoten seines Senders sind allerdings sehr viel geringer als die der Sender der anderen Oligarchen, heißt es in dem Bericht.

Ein neues Gesetz soll nun für mehr Transparenz der Eigentumsverhältnisse sorgen: Alle TV-Sender sollen auf ihrer Website angeben, wem sie gehören. Bisher haben Medienunternehmen diese Regelung aber nur vereinzelt umgesetzt.

Es gibt in der Ukraine bislang auch keinen öffentlich-rechtlichen Rundfunk als Gegengewicht zu den Oligarchen-Sendern. Zwar wurden im vergangenen Jahr nach jahrzehntelanger Diskussion die Voraussetzungen dafür geschaffen, aber die Umwandlung der bisherigen staatlichen Rundfunksender in einen öffentlich-rechtlichen Sender verläuft schleppend, wie Pörzgen aufzeigt. Damit der neue Sender in Form einer öffentlichen Aktiengesellschaft seine Arbeit aufnehmen kann, müssen die bisherigen staatlichen Sender zunächst fusionieren. Angesichts ungeklärter Eigentumsverhältnisse und anderer Strukturprobleme ist die Umwandlung in eine Aktiengesellschaft aber ein schwieriger juristischer Prozess. Die Reform steckt in dieser Phase fest.

Bedenklich: „Jeansa“ und der Propagandakrieg zwischen Russland und der Ukraine

Bedenklich ist auch die weit verbreitete Praxis der ukrainischen Medien, bezahlte Medienbeiträge, die nicht als PR-Aufträge gekennzeichnet werden, die sogenannten „Jeansa“, zu veröffentlichen. Wie Pörzgen erklärt, stammt der Ausdruck „Jeansa“ noch aus sowjetischer Zeit. Er sei aufgekommen, weil eine westliche Jeansfirma damals keine Werbung platzieren durfte und sich deshalb Artikel erkaufte, die angeblich sogar mit Jeans bezahlt worden seien. Die von Pörzgen befragten Journalisten gaben an, dass es sich heute nur dank dieser bezahlten Berichterstattung überleben lasse. Es handelt sich dabei nicht nur um Werbung, sondern auch oft um politische Artikel, die von verschiedenen Interessengruppen platziert werden. Die wichtigste Zeit für „Jeansa“ sei deshalb die Zeit vor den Wahlen, bemerken die Journalisten. Dann dienten sie dazu, politische Gegner durch regelrechte Desinformationskampagnen gezielt zu diskreditieren.

Auch der Krieg im Osten des Landes und der damit einhergehende Propagandakrieg zwischen Russland und der Ukraine beeinflusst stark die ukrainische Medienpolitik. Nachdem die ukrainische Regierung im August 2014 den Empfang von 15 TV-Sendern aus Russland verboten hatte, sprach sie im April 2015 auch ein Verbot der Ausstrahlung zahlreicher russischer Filme und Fernsehserien aus. Einige Monate später folgte das Einfuhrverbot von 38 russischen Büchern. Zur Begründung hieß es: Die Einfuhr werde verboten, um die Bürger der Ukraine vor „Methoden des Informationskrieges und der Desinformation, vor der Verbreitung menschenverachtender, faschistischer, rassistischer und separatistischer Ideologienzu schützen und Angriffe auf die territoriale Integrität und die staatliche Verfassungder Ukraine abzuwehren“. Im Herbst 2015 verhängte die ukrainische Regierung zahlreiche Einreiseverbote für ausländische Journalisten. Erst nach massiven internationalen Protesten wurde diese Regelung für mehrere Journalisten wieder aufgehoben.

Dieses Vorgehen mache deutlich, so Pörzgen, „wie vorauseilend Teile der politischen Elite in Kiew dazu bereit sind, die in der Ukraine errungene Medienfreiheit leichtfertig einzuschränken“.

Forderungen und Empfehlungen

Am Ende des Berichts erhebt Reporter ohne Grenzen einige Forderungen an die ukrainische Regierung und spricht Empfehlungen an ukrainische Journalisten, internationale Geberorganisationen und an die EU aus. So fordert die NGO von der ukrainischen Regierung unter anderem eine entschlossenere Umwandlung des Staatssenders in einen öffentlich-rechtlichen Rundfunk und von Präsident Poroschenko, dass er die Kontrolle über seinen Sender Kanal Fünf aufgibt. Sie empfiehlt der ukrainischen Regierung zudem, auf die Verbote russischer Bücher und Filme zu verzichten und alle Einreiseverbote für Journalisten in die Ukraine aufzuheben.

Den ukrainischen Medienhäusern legt Reporter ohne Grenzen nahe, eine kritische Debatte über den allzuselbstverständlichen Umgang mitbezahlten Inhalten zu führen. Internationalen Geberorganisationen empfiehlt die NGO eine nachhaltige Unterstützung ukrainischer Medienprojekte. Sie spricht sich auch für dieFörderung von Medienprojekten, die eine Begegnung russischer und ukrainischer Journalisten ermöglichen, aus. Gerade wegen des Krieges in der Ostukraine und nachder Annexion der Krim bleibe dieser Dialog wichtig.

Zudem sollte die Annäherung der Ukraine an die EU auch Forderungen an die ukrainische Regierung enthalten, die Entwicklung einer pluralistischen Medienlandschaft nicht zu behindern und Medienfreiheit zu garantieren.

Zum ROG-Bericht „Ernüchterung nach dem Euromaidan“ geht es hier.

Bildquelle: Ivan Bandura / Flickr Cc, Lizenzbedingungen: https://creativecommons.org/licenses/by/2.0/

 

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