Journalismus mit Nutzwert: Verkannte Hilfe

28. Januar 2011 • Qualität & Ethik, Ressorts • von

Ratgeber- oder Service-Journalismus ist wissenschaftlich wenig untersucht und unter Praktikern unbeliebt. Dabei ist er aus dem publizistischen Angebot kaum wegzudenken und erbringt wichtige Leistungen für die Menschen und die Gesellschaft.

Die „Super Nanny“ Katia Saalfrank bringt verzogenen Nachwuchs und dessen Eltern zur Vernunft, TV-Schuldnerberater Peter Zwegat rechnet die Haushaltspläne hoch Verschuldeter durch, und Restauranttester Christian Rach möbelt abgewirtschaftete Gastrobetriebe wieder auf.

Help-Formate im Fernsehen markieren eine Ecke des Ratgeber-, Service- oder Nutzwertjournalismus – eines Journalismustyps, der vom technisch akkuraten Waschmaschinentest der Stiftung Warentest bis zur Checkliste für das Bewerbungsgespräch, von der Hilfe bei der Diagnose von Depression bis zu den Apothekenöffnungszeiten in der Lokalzeitung reicht. Er nimmt Funktionen für die Menschen und die Gesellschaft wahr, die bisher wenig beachtet wurden. Welche Leistungen aber erbringt der Nutzwertjournalismus? Und wie kann er von anderen Journalismustypen unterschieden werden? Das hat der Verfasser dieser Zeilen in einer wissenschaftlichen Arbeit an der Universität Leipzig untersucht.

Ziel illegitimer PR-Aktivitäten

Blickt man auf den Journalismus als tragende Säule demokratisch verfasster, pluralistischer Gesellschaften, stehen seine Informationsleistung und sein Beitrag zur politischen Meinungsbildung meist im Fokus des Interesses. Doch eine der Leistungen des Journalismus besteht seit jeher darin, den Lesern, Hörern, Zuschauern und Online-Nutzern Medienangebote zu machen, die diese als unterstützend im eigenen praktischen Alltag ansehen können. Er greift ihre Probleme auf, ob als „Wehwehchen der Menschen“ abgetan, wie es manch ein Medienwissenschaftler tut, oder als deren existenzielle Nöte und Krisen ernst genommen.

Weil viele der Themen die Menschen als Käufer und Nutzer von Konsumprodukten ansprechen, steht der Nutzwertjournalismus in einem starken Spannungsverhältnis zu den interessengeleiteten PR-Aktivitäten der Konsumgüterindustrie, der Finanzdienstleistungsbranche und der Pharmaindustrie. Die PR-Seite professionalisiert sich und rüstet auch quantitativ auf. Den Journalisten und Redaktionen stehen immer weniger Ressourcen zur Verfügung, so ist Schleichwerbung häufig zu beobachten. Dem Nutzwertjournalismus wird daher gelegentlich mangelnde Kritik und Konsumklimaschaffung vorgeworfen. Das liegt auch daran, dass die Journalisten bei Produkttests und Ratschlägen Bewertungen vor- und einen eigenen Standpunkt einnehmen müssen – die strikte Trennung von Meinung und Information, die wir aus dem Angelsächsischen übernommen haben, gibt es hier nicht. Redaktionen und Journalisten müssen daher besonders resistent gegen illegitime PR-Einflüsse sein.

Fehler wirken sich direkt aufs Leben der Menschen aus

Auch weitere handwerkliche Anforderungen an die Journalisten sind besonders hoch: Neben der grundsätzlichen Haltung, dass der Beitrag den Leser unterstützen können soll, muss der eingenommene Standpunkt gut begründet sein. Die Recherche ist meist wesentlich tiefer als im Informationsjournalismus. Die Sorgfaltspflichten müssen die Journalisten deshalb besonders beachten, weil sich Fehler direkt auf das Leben der Rezipienten auswirken können: Ein falscher Gesundheitstipp hat ganz lebenspraktische Relevanz, eine falsch berichtete Tatsache etwa in einem Unfallsbericht nicht. Schließlich müssen die praktischen Themen sprachlich und für die praktische Umsetzung hoch verständlich präsentiert werden. Bedauerlich ist daher, dass die Bearbeitung von Ratgeber- und Service-Themen in der journalistischen Ausbildung kaum vorkommen.

Neun Funktionen

Der Nutzwertjournalismus liefert ein Set von insgesamt neun exklusiven Funktionen, die ausgerichtet sind auf das praktische Leben des Lesers, Hörers, Zuschauers oder Online-Nutzers. Die ersten fünf sind direkt an den journalistischen Beitrag gekoppelt und überschneiden sich kaum miteinander, die weiteren vier Funktionen bilden sich übergreifend aus mehreren der Primärfunktionen. Diese treten in den Beiträgen erstens zutage als Anleitungsfunktion, um praktische (Beispiel: Reparatur), kommunikative (Widerspruch einlegen) oder geistige Handlungen (so kommen Sie zur inneren Ruhe) bewältigen zu helfen. Zweitens fasst die Appellfunktion die Aufforderung, das Gebot und die Einladung zum Handeln zusammen (Bewerbungsleitfaden) und umfasst als negative Variante das Verbot.

Wenn Journalisten drittens Probleme in der Welt der Leser erkennen und benennen, ist die (Problem-)Diagnosefunktion angesprochen – so zeigt Super Nanny beispielhaft an einzelnen Familien, worin die Schwierigkeiten bestimmter Erziehungsmethoden bestehen. Die Journalisten veröffentlichen aber viertens auch Problemlösungen (Welche Versicherung passt zu mir?) und stellen den gefundenen Lösungsweg oder den besten mehrerer von ihnen erarbeiteter Lösungswege für den Rezipienten so dar, dass dieser zuverlässig ans Ziel gelangen kann (Rezept). Fünftens wird mit einer Warnung ein kommender Schaden vorhergesagt, der aber noch gelindert oder verhindert werden kann, oder es wird eine Gefahr ausdrücklich benannt (Abofalle).

Nutzwertjournalismus beobachtet die Umwelt der Menschen

Die vier übergeordneten Funktionen des Nutzwertjournalismus ergeben sich aus dem Zusammenspiel mehrerer Primärfunktionen. Die Beratung stellt allgemein eine Handlung dar, die von einer Asymmetrie der Wissensverteilung zwischen Berater und Ratsuchendem charakterisiert und von der Vermittlung von Information geprägt ist. Typischerweise behandelt eine Beratung Entscheidungsprobleme des Ratsuchenden. Verbunden ist sie häufig mit Anleitungen des Ratgebers. Die klassischen Themenbereiche der Verbraucherschutzfunktion sind Marktberichte, Produkt- und Dienstleistungsinformationen sowie Fragen des Verbraucherrechts mit Gerichtsentscheidungen.

Die Surveillance-Funktion ermöglicht es dem einzelnen Leser, vergleichsweise die eigene Position in der Umwelt zu bestimmen und die eigenen Handlungen darauf abzustimmen. Surveillance muss als ein hochkomplexes Geschehen angesehen werden, bei dem im Einzelnen der aktuelle Wissensvorrat, diverse Kompetenzen, Emotionen, Einstellungen, Stimmungen, physiologische Zustände sowie die Bereitschaft zur Informationsaufnahme eine Rolle spielen. Der Nutzwertjournalismus bezieht seine Surveillance-Funktion auf alle Bereiche des Alltags, Berufs, der Familie und der Freizeit.

Die Medieninformationen dienen aber auch dazu, das Wirtschafts- und das politische Geschehen aus der Rezipienten- und Konsumentenperspektive einzuordnen. Selbst wenn die Publikationen diese Einordnung nicht explizit vornehmen und benennen, interpretieren diese die einlaufende Information stetig in dieser Weise. Damit haben nutzwertjournalistische Beiträge einen relevanten Anteil an der allgemeinen Meinungs- und Willensbildung in der Gesellschaft. Die Servicefunktion schließlich ist die vierte übergreifende Leistung im redaktionellen Teil einer Publikation, die dem Rezipienten umsetzbare, nützliche Informationen liefert. Zuweilen wird Service als Synonym für den Nutzwertjournalismus allgemein verwendet. Dagegen kennzeichnen gerade Tageszeitungsredakteure nur die kurzen Darstellungs- oder Präsentationsformen nutzwertjournalistischer Berichterstattung als Service. Diese sind Bestandteile des redaktionellen Angebots einer Publikation und können alle anderen nutzwertjournalistischen Funktionen erfüllen.

Ein eigener Journalismustyp

Damit liegt der maßgebliche Unterschied des Nutzwertjournalismus gegenüber anderen journalistischen Formen in seiner dominierenden Kommunikationsabsicht: Der Leser, Zuhörer, Zuschauer oder Online-Nutzer soll in die Lage versetzt werden, in seinem praktischen Leben individuelle Vorteile zu erhalten. Die Themenauswahl im Nutzwertjournalismus bezieht sich auf den Rezipienten, ist stets handlungsorientiert, umsetzungsorientiert oder ergebnisorientiert: Was kann der Leser tun, wie und mit welchem Ziel? Damit unterscheiden sich Themenangebot und Umsetzung von anderen, ereignisorientierten Kommunikationsabsichten, die fragen: Was ist passiert?

Der Rezipient wird nicht nur als Verbraucher von Wirtschaftsgütern oder Dienstleistungen angesprochen, sondern auch in seiner Rolle als Privatperson im intimen, familiären, sozialen Bereich, in seiner Berufsrolle und als Bürger etwa im Verhältnis zu Behörden. Typische Darstellungsformen sind Kaufberatungen, vergleichender Warentest, Schritt-für-Schritt-Anleitung, Fragen und Antworten sowie Regeln und Gebote. Als „Service“ können kurze Formen wie Stauhinweise, Veranstaltungstipps oder Tariftabellen bezeichnet werden.

Neue Sendetypen wie „Super-Nanny“ und „Raus aus den Schulden“ mit Peter Zwegat zeigen, dass die Medienmacher nutzwertjournalistische Funktionen und Elemente mit leichter Hand mit klassischen Formaten verknüpfen und damit beim Publikum durchaus erfolgreich sind. Der Nutzwertjournalismus ist vielfältig wie nie. Grund genug für die Profession, ihn wertzuschätzen und auch in der Ausbildung von Journalisten zu berücksichtigen, und für die Wissenschaft, diesen Journalismustyp weiter zu beobachten und zu untersuchen.

Im Frühjahr 2011 wird die Dissertation als Buch erscheinen: Der Nutzwertjournalismus. Herkunft, Funktionalität und Praxis eines Journalismustyps

Mehr Informationen zum Nutzwert-Journalismus gibt es auf dem Online-Angebot von Andreas Eickelkamp  www.nutzwertjournalismus.de

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