Der alltägliche Irrsinn der Medienforschung

30. Dezember 2014 • Qualität & Ethik, Ressorts • von

Beginnen wir mit einer Vorwarnung: Es folgt kein Jahresrückblick auf die ausufernde Journalismus- und Medienforschung. Eher schon eine Zehnjahresrückschau, und ein Lamento über die zunehmend vergeblichen Versuche der Wissenschaftler, mit dem realen medialen Veränderungstempo mitzuhalten. Uns Forschern geht es wie dem Hasen mit dem Igel: Wir können uns mit unseren Analysen noch so sehr sputen, wann immer wir mit etwas fertig werden, ist im Wettlauf mit der Realität letztere schon eine Runde weiter.

Ein aktuelles Beispiel: Soeben wurde von Marc-Christian Ollrog der Band „Regionalzeitungen 2015“ veröffentlicht. Es ist eine Doktorarbeit, die durchaus hält, was sie in ihrem Untertitel verheisst: Es geht um „Geschäftsmodelle für die Medienkonvergenz“ – eine solide Analyse, die sich mit der Zukunftsfähigkeit der Zeitungsbranche befasst. Dazu nimmt der Autor über 382 Seiten hinweg unter die Lupe, wie die Branche mit rapide sinkenden Abo- und Werbeerlösen klar zu kommen versucht. Trotz aller sichtlichen und anerkennenswerten Bemühungen des Autors, sein Buch so aktuell wie nur irgend möglich zu präsentieren, basiert seine Untersuchung auf Interviews mit Verlagsexperten, einer sogenannten Delphi-Analyse, die bereits 2011 durchgeführt wurde. Kaum jemand hatte damals damit gerechnet, dass sich die Erlös-Situation für Tageszeitungen weiter so dramatisch verschlechtern würde, wie es inzwischen tatsächlich der Fall ist – und so ist leider davon auszugehen, dass Szenarien, die auf Befragungsergebnissen von 2011 beruhen, ihre Halbwertszeit bereits hinter sich haben. Letztlich erfahren wir so etwas darüber, wie gesprächsbereite Verlagsexperten sich im Jahr 2011 die Zeitungszukunft 2015 „ausgemalt“ haben, und wir können von nächster Woche an die so entstandene Synthese mit der realen Welt abgleichen.

In die totale Irrelevanz verfällt die Medienforschung als Begleiterin des Medienbetriebs und seiner Windmaschinen deshalb noch längst nicht, aber je atemloser wir Forscher uns abstrampeln, desto seltener bleibt – wie jetzt zwischen den Jahren – Gelegenheit zum Nachdenken über das eigene Tun. Zwei Kollegen immerhin haben das jüngst geschafft, und ihre Einsichten seien hier kurz referiert. Die amerikanische Journalismus-Expertin Jane B. Singer, die an der City University in London lehrt, erinnert in Journalism Studies daran, dass „vor zehn Jahren Online-Journalismus noch ziemlich genauso aussah wie Offline-Journalismus“ – er sei von einer Redaktion erstellt worden, Text dominierte, das Publikum habe die Inhalte „konsumiert, aber nicht kreiert“. Es habe seinerzeit nur rudimentär Mobil-Technologie und noch keine sozialen Netzwerke gegeben.

Seither habe „ein Hurrikan“ die Medienwelt erfasst, und so gut wie nichts sei mehr wie zuvor. Die Forscher hätten alle Mühe damit, sich auf die neuen Realitäten einzustellen – sie würden sich schwer damit tun, ausserhalb „der Komfort-Zone ihrer altbewährten Theorien“ zu operieren, um die „Natur des Wandels“ zu verstehen. Aber auch die Journalismus- und Medienforschung selbst hat sich innerhalb eines Jahrzehnts dramatisch verändert: 2004 sei es noch möglich gewesen, den Überblick über das eigene Forschungsfeld zu behalten – bereits schwierig, aber machbar. Das sei unter den heutigen Bedingungen vollkommen unmöglich geworden.

Ergänzend hierzu hat erfreulicherweise Thomas Hanitzsch auf den ganz alltäglichen Irrsinn aufmerksam gemacht, dem vor allem Nachwuchswissenschaftler ausgesetzt sind: Auf die Publikationszwänge, denen sie unterliegen, und auf den heftigen Wettbewerb, dem sie sich stellen müssen. Hanitzsch lehrt an der Universität München und leitet ein grossangelegtes Projekt, in dem er zusammen mit Fachkollegen die Journalismuskulturen in 21 Ländern dieser Welt vergleicht. Er ist also einer der produktiven Nachwuchsforscher, die mit spannenden Erkenntnissen aufwarten. In einem Essay, der ebenfalls in Journalism Studies veröffentlicht wurde, beklagt er, zu welch absurden Resultaten der „Goldstandard“ führe, mit dem wir inzwischen allenthalben Forschungsproduktivität messen.

4800 Fachartikel seien allein 2012 in kommunikationswissenschaftlichen Fachzeitschriften publiziert worden, 1999 seien es noch 980 gewesen. Niemand wird behaupten wollen, seither habe sich der Erkenntnisgewinn nahezu verfünffacht. Dramatisch vervielfacht hat sich indes der Aufwand, um im „Peer review“, also mit Hilfe der ehrenamtlichen Begutachtung der eingereichten Arbeiten durch Fachkolleginnen und -kollegen, diese Publikationsflut zu kanalisieren und die Spreu vom Weizen zu scheiden. Denn bei weitem nicht alle Aufsätze, die zur Veröffentlichung eingereicht werden, werden ja tatsächlich publiziert.

Hanitzsch, der selbst die Fachzeitschrift Communication Theory betreut, spricht ausserdem aus, was viele Fachkollegen sonst eher hinter vorgehaltener Hand bestätigen: Dass die Auswahlverfahren keineswegs zuverlässig funktionieren. Leider wird so nicht nur über die Publikation von Aufsätzen, sondern auch über die Besetzung von Professuren und über die Vergabe staatlicher Forschungsgelder entschieden. Allein im deutschsprachigen Raum geht es dabei für die Kommunikations- und Medienwissenschaft jeweils um viele Millionen Euro. Bei der Beurteilung von Forschungsleistungen hantieren wir immer mehr mit sogenannten Impact-Faktoren und Zitations-Häufigkeiten, die eigentlich nichts, aber auch gar nichts über die wissenschaftliche Qualität eines Forschungsbeitrags aussagen. Keiner hat mehr die Zeit, all die Veröffentlichungen, die zum Beispiel in einem Berufungsverfahren eingereicht werden, zu lesen, geschweige denn, sie fachkundig zu evaluieren.

Nur in einem Punkt irrt Hanitzsch. Er schreibt, der Wissenschaftsbetrieb werde zunehmend von „ökonomischer Logik“ bestimmt. Dieser leidet aber eher am Gegenteil: an zu viel Hochschulbürokratie, an einem ausufernden Peer reviewing, das oftmals in organisierte Unverantwortlichkeit mündet, an intransparenten Entscheidungsgremien, und nicht zuletzt an fehlgeleitetem Wettbewerb. Mit „ökonomischer Logik“ hat das wenig zu tun, denn Ökonomen sollten sich ja gerade um einen möglichst effektive und effiziente Verwendung kostbarer Ressourcen kümmern. Hoffen wir mal, dass 2015 auch andere Medien- und Sozialforscher beginnen, diesen kleinen, feinen und wichtigen Unterschied erkennen.

Quellen:

Marc-Christian Ollrog: Regionalzeitungen 2015. Geschäftsmodelle für die Medienkonvergenz, Baden-Baden: Nomos Verlag

Jane B. Singer: Trajectories in Digital Journalism. Embracing Complexity, in: Journalism Studies, Vol.15/2014

Thomas Hanitzsch: Trajectories in Research. Rethinking – and resisting – the logic of scholarly productivity, in: Journalism Studies, Vol.15/2014

Worlds of Journalism: http://www.worldsofjournalism.org/)

 

Erstveröffentlichung: Der Standard am 29.12.2014

Bildquelle: Sascha Kohlmann/flickr.com

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