Der blockierte Wissenstransfer

3. November 2008 • Qualität & Ethik • von

Erstveröffentlichung: Message 4 / 2008

Journalisten und Kommunikationsforscher könnten viel voneinander lernen, doch sie ignorieren sich gegenseitig. In Deutschland ist das nicht anders als in den USA. Ergebnisse einer explorativen Studie.

Stellen Sie sich vor, Sie haben Schmerzen, gehen zu ihrem Hausarzt – und der erklärt ihnen erstmal unaufgefordert: „Was die Mediziner so an den Universitäten forschen, ist für meine Arbeit als Arzt irrelevant. Wissenschaftliche Fachzeitschriften lese ich deshalb nicht.“ Hand aufs Herz: Würden Sie diesem Arzt weiterhin vertrauen?
Versichert dagegen in der Redaktionskonferenz ein Kollege, was die Medien- und Journalismusforscher im Elfenbeinturm so treiben, sei praxisfern und zeuge von Ahnungslosigkeit, heimst er zustimmendes Kopfnicken ein. Er hat auch nicht ganz unrecht – die Mehrheit der an deutschen Universitäten tätigen Kommunikationswissenschafler hat vermutlich noch nie einen Zweispalter geschrieben. Andererseits brauchen aber bekanntlich auch Journalisten, die über Forschungsergebnisse oder Opernaufführungen berichten, keine Qualifikationsnachweise als Wissenschaftler oder Tenöre.
Beschäftigen wir uns also etwas intensiver mit dem (Nicht-)Verhältnis von Journalismus und Kommunikationswissenschaft – statt die spannendere Frage klären, ob Ärzte tatsächlich sehr viel „professioneller“ als Journalisten mit Forschungsergebnissen umgehen, und ob sie sich so beflissen und kontinuierlich wissenschaftlich weiterbilden, wie wir als Patienten uns das wünschen mögen. Wie ist es um die Präsenz von Kommunikationsforschern in den Medien und – damit einhergehend – um den Transfer kommunikationswissenschaftlicher Ergebnisse in die Praxis und in die Öffentlichkeit bestellt?
Leoni Klump hat dieser Frage in ihrer Magisterarbeit nachgespürt. Die „Medienprofessoren“ hat sie ihr Werk betitelt – und sich aus Hunderten von Kommunikationsforschern im deutschsprachigen Raum die Handvoll herausgepickt, die relativ häufig in den Medien präsent sind.* Ihre erwartbare Erkenntnis: Die Medien- und Kommunikationswissenschaft hat ein „hochgradig gespaltenes Verhältnis zur massenmedialen Öffentlichkeit“. Wissenschaftler, die ihre Forschungsergebnisse so aufbereiten und den Medien zugänglich machen, dass Journalisten oder gar interessierte Laien daraus Honig saugen könnten, sind so rar wie Sternschnuppen. Aber auch die Nachfrage nach kommunikationswissenschaftlicher Erkenntnis seitens der Journalisten hält sich in engen Grenzen.
Warum ist das so? Ist es naiv, anzunehmen, dass Journalisten, wenn sie sich nur mit etwas mehr Aufgeschlossenheit auf das „Abenteuer Wissenschaft“ einliessen, Nützliches für ihren beruflichen Alltag lernen könnten? Würden umgekehrt Medien- und Journalismus-Forscher nicht sehr viel mehr Freude an ihrem Erkenntnisgewinn haben, wenn das, was sie herausfinden, von der Praxis aufgenommen oder in der Öffentlichkeit diskutiert würde – statt nur im kleinen Kollegenkreis?
US-Medien unter stärkerem Druck
Um erste Antworten auf derlei Fragen zu finden, schien es hilfreich, sich umzusehen, ob die Dinge anderswo besser „laufen“: Einmal mehr war es naheliegend, den Blick auf die USA zu richten. Sie sind das einzige Land der Welt, in dem es ein paar hundert Studiengänge zu Journalismus und Massenkommunikation sowie Tausende von Kommunikationsforschern und Journalistik-Dozenten gibt. Zugleich sind die „alten“ Medien, insbesondere Zeitungen und Fernsehen, nirgendwo mehr als in den USA in Bedrängnis geraten, so dass sie eigentlich allen greifbaren wissenschaftlichen Sachverstand mobilisieren sollten, um aus der Krise herauszufinden. Klappt also unter solch deutlich günstigeren Bedingungen der Forschungstransfer?
Eine Umfrage, an der sich rund 30 amerikanische Medienexperten – Kommunikationswissenschaftler und Journalistik-Dozenten, Verlagsmanager, Verbandsfunktionäre und Journalisten – beteiligt haben, gibt erste Anhaltspunkte (s. Methodenkasten) Gefragt wurde, welche Zeitungen und welche Forscher bzw. Forschungsarbeiten sie als „innovativ“ wahrnehmen, und welche Forschungsinstitutionen sich besonders intensiv um den Forschungstransfer kümmern.
Grosse Skepsis gegenüber dem Fach
Die Ausgangspositionen sind in beiden Ländern ähnlich: Auch in Amerika sind Kommunikationswissenschaftler nicht eben bekannt dafür, dass sie ihre Forschungsergebnisse aktiv an die Praxis oder die Öffentlichkeit vermitteln. Umgekehrt besteht im Journalismus ebenfalls geringes Interesse an Kommunikationswissenschaft und grosse Skepsis gegenüber dem Fach. Nur wenige Zeitungen und Publikumszeitschriften berichten kontinuierlich über Journalismus und Medien, darunter die New York Times und die Washington Post.
Es gibt allerdings mehr und auflagenstärkere Fachzeitschriften als bei uns , die zumindest gelegentlich Forschungsergebnisse aufgreifen: Der American Journalism Review (AJR) und der Columbia Journalism Review (CJR) würdigen – wie Message – regelmässig und ausführlich neuerschienene Bücher. In CJR publiziert Michael Schudson, einer der angesehensten US-Journalismus-Forscher, regelmässig eine Kolumne, die Forschungsergebnisse aufgreift.
Stärker ausgeprägt als in Deutschland sind zwei konkurrierende Traditionsstränge an den Hochschulen: Der eine betont die handwerklich-journalistische Ausbildung – es gibt an den Colleges und Universitäten viele Journalism Schools, an denen vornehmlich ehemalige journalistische Praktiker als Professoren lehren. Der zweite Strang akzentuiert dagegen stärker die empirische Kommunikationswissenschaft und die Journalismus- und Medienforschung.
In den letzten Jahren sind die J-Schools geradezu zum Auffangbecken geworden: Chefredakteure und andere herausragende Journalisten, die gefeuert wurden oder aus Protest gegen drastische Kürzungsrunden das Handtuch geworfen haben, bevölkern mehr denn je die Universitäten.
Eine spannende Frage ist somit, ob solche zu Dozenten mutierten Journalisten Innovationen im Journalismus und in der Forschung anders wahrnehmen als einerseits ihre Forscherkollegen und andererseits Medienexperten, die weiterhin in der Praxis beheimatet sind.
Unter den Bedingungen der Aufmerksamkeitsökonomie, so haben wir vermutet, würde sich bei den von uns befragten Medienexperten die Wahrnehmung jeweils auf eine Handvoll Persönlichkeiten und Institutionen verdichten, welche die Schwelle fachöffentlicher Aufmerksamkeit durchbrechen. Das meiste, was in mehreren hundert Studiengängen von mehreren tausend Kommunikationsforschern erforscht wird, würde dagegen selbst dann unterhalb der Wahrnehmungsschwelle bleiben, wenn es sich um relevante und innovative Forschung handelt.
Da jeder der 30 Befragten die Chance hatte, je drei innovative Forscher, Forschungsstätten oder Zeitungen zu benennen, hätten insgesamt maximal 90 Innovatoren gelistet werden können. Die Befragung kann also nur einen ersten Aufschluss darüber geben, ob Medienexperten „immer dieselben“ oder sehr verschiedene Akteure als Innovatoren wahrnehmen.
Uns schien die Annahme plausibel, dass die Aufmerksamkeitsschwelle mit Erfolg durchdringt, wer von mindestens zwanzig Prozent (= sechs) der Befragten genannt wird. Wer von zehn Prozent (= drei) der Befragten gelistet wird, erfreut sich dagegen immerhin einer „Basiswahrnehmung“.
Wir vermuteten, dass nur ganz wenige Forscher, Forschungsinstitutionen und Zeitungen diese „Aufmerksamkeitsschwelle“ überwinden würden.
Die Ergebnisse überraschten. Anders als erwartet, ist es keinem einzigen Forscher oder Forschungsprojekt geglückt, die Aufmerksamkeitsschwelle zu durchbrechen und von mindestens 20 Prozent der Befragten gelistet zu werden. Immerhin zwei Forscher haben es geschafft, sich eine „Basiswahrnehmung“ als Innovatoren zu sichern: Tom Rosenstiel, der federführend das Project for Excellence in Journalism verantwortet, konnte vier Nennungen auf sich vereinen, Kathleen Hall Jamieson, die als Expertin für politische Kommunikation an der Annenberg School der Pennsylvania University wirkt, ist von drei befragten Medienexperten nominiert worden.
Poynter Institute liegt vorn
Sehr viel eindeutiger ist das Ergebnis bei den Forschungs- und Transferinstitutionen ausgefallen. Mit grossem Abstand landete das Poynter Institute in Florida mit insgesamt 13 Nennungen in der „Hall of Fame“. Die Weiterbildungseinrichtung betreibt selbst Medienforschung – zum Beispiel hat der Zeitungs-Designer Mario Garcia seine Analysen des Leseverhaltens mit Blickauffang-Geräten am Poynter Institut durchgeführt. Das Zentrum geniesst aber auch dank seiner Seminare und Online-Angebote, zum Beispiel des Blogs von Jim Romenesko, in der Medienbranche hohes Ansehen. Den zweiten Platz belegt sich mit sechs Nennungen das Project for Excellence in Journalism der Pew Foundation.
Auch bei den Zeitungen gelingt es zwei Titeln, die Aufmerksamkeits-Schwelle zu durchstossen: Der St. Petersburg Times aus Florida und dem Lawrence Journal World aus Kansas (jeweils sechs Nennungen). Eine Basiswahrnehmung als innovatives Zeitungsprojekt erreichen der Bakersfield Californian (fünf Nennungen) und der Oregonian in Portland (vier Nennungen). Hinzuzufügen ist hier, dass die Befragten aufgefordert worden waren, die grossen Qualitätstitel New York Times, Washington Post, Los Angeles Times und Wall Street Journal nicht zu benennen.
Fachmedien kanalisieren Aufmerksamkeit
Unsere zweite Hypothese besagte, dass es Bündelungs-Effekte geben würde; Medienpraktiker und Journalistik-Dozenten würden die Forschungslandschaft ähnlich perzipieren. Die Kommunikationsforscher würden dagegen die Szene differenzierter entsprechend ihren jeweiligen eigenen Forschungs-Schwerpunkten wahrnehmen.
Diese Vermutung hat sich bestätigt: An zwei Stellen haben sich solche Cluster herausgebildet. Sowohl das Poynter-Institute als auch das Pew Center verdanken ihre Spitzen-Positionen im Ranking zu gleichen Teilen den Nennungen der Journalistik-Dozenten und der Medienpraktiker.
Aber wie lassen sich solche Bündelungseffekte erklären? Mit hoher Wahrscheinlichkeit tragen Fachmedien wie American Journalism Review, Columbia Journalism Review und Editor & Publisher, aber auch Blogs wie der von Romenesko dazu bei, dass Institute wie Poynter und Pew so herausragend wahrgenommen werden. Den Fachmedien wäre dann allerdings nicht nur der Bündelungseffekt zuzuschreiben, sondern auch die betrübliche Tatsache, dass die meisten anderen Forschungsarbeiten kaum ihre Aufmerksamkeit finden.
Eine zweite Erklärung kommt hinzu: Angesichts ausgedünnter Redaktionen verstärkt sich in Amerika noch mehr als bei uns die Tendenz, Medieninhalte durch professionelle Öffentlichkeitsarbeit zu lancieren. Poynter und das Project for Excellence dürften deshalb ihre branchenöffentliche Sichtbarkeit nicht allein ihren bemerkenswerten Forschungsergebnissen, sondern auch ihrer exzellenten PR-Arbeit verdanken.
Bekannte Institute und innovative Blätter:
Die Spitzenreiter der Umfrage


Poynter Institute
Das Zentrum (http://www.poynter.org) geniesst dank seiner Seminare und Online-Angebote in der Medienbranche hohes Ansehen. Es ist eine Aus- und Weiterbildungsstätte für Journalisten und solche, die es werden möchten – aber auch für Journalistik-Dozenten. Ausserdem ist es ein praxisnahes Forschungsinstitut.
Das Poynter Institute wurde von Nelson Poynter, dem Verleger der St. Petersburg Times gegründet. Er hat seine Zeitung an das Institut vererbt, das seine Arbeit aus den Dividenden des Verlagshauses bestreitet. Poynter fühlte sich mehr als andere Verleger dem „public service“ verpflichtet, journalistische Qualitätssicherung und -steigerung war ihm ein Herzensanliegen. Auch seine Zeitung  rangiert seit Jahrzehnten in der Spitzengruppe der US-Regionalzeitungen – nicht zuletzt bei unserem Ranking.
Besonders bekannt ist der Blog von Jim Romenesko  – ein Online-Newsletter, der Klatsch ebenso wie seriöse News bereitstellt, oftmals in Form von Links zu anderen Websites. Romenesko ist „must read“ für alle Insider. „Während die meisten seiner Leser noch schlafen, ist James Romenesko jeden Wochentag um 5 Uhr auf den Beinen und surft wie ein Wilder durch das Web“, so die New York Times.
Project for Excellence in Journalism
Beim Project for Excellence in Journalism (http://www.journalism.org) steht die empirische Journalismus-Forschung im Vordergrund. Vor allem mit ihrem Bericht „The State of the News Media“ sorgen die Wissenschaftler seit 2004 jährlich einmal für Aufsehen und machen auf bedrohliche Trends im Journalismus aufmerksam – zuletzt beispielsweise auf das Schwinden der Auslandsberichterstattung, aber auch auf die bröckelnde Finanzierungsbasis für Qualitätsjournalismus, weil Werbung und Kleinanzeigen auf Nimmerwiedersehen ins Internet abwandern.
Gefördert wird das Projekt seit 2006 vom Pew Charitable Trust in Washington. Die Stiftung ist nicht parteigebunden, engagiert sich unter anderem in der Politikberatung und im Mediensektor und ist auf Initiative der Kinder und Erben des Ölmagnaten Joseph N. Pew gegründet worden. Mit ihrem Einstieg konnten die Forschungsaktivitäten spürbar ausgeweitet werden. Die Stiftung hatte sich zuvor bereits über viele Jahre hinweg auch als Förderer von „Civic Journalism“ einen Namen gemacht – also von Initiativen, die Bürgerinnen und Bürger mit Hilfe der Medien zu einem stärkeren Engagement im öffentlichen Leben bewegen sollten.
St. Petersburg Times/Lawrence Journal World
Beide Blätter fallen durch originelle und interaktive Angebote ihrer Online-Ausgaben auf. Die St. Petersberg Times (im Besitz des Poynter-Instituts und damit die Ausnahme von der kommerziellen Regel) offeriert auf ihrer Website http://www.tampabay.com/ zahlreiche Blogs und bietet auch kleineren Gruppen, zum Beispiel Müttern, eine Plattform zum Informations- und Erfahrungs-Austausch. Das Lawrence Journal World http://www2.ljworld.com/ ist bemerkenswert multimedial – aber auch, um ein Modewort aus der US-Zeitungsbranche zu gebrauchen „hyperlocal“.

Zur Methodik
Die Studie hat lediglich explorativen Charakter. Die erzielten Umfrage-Ergebnisse sind nicht repräsentativ, sie beruhen auf einem sehr schmalen Untersuchungssample (n = 30), das sich in drei Untergruppen mit jeweils zehn Befragten aufsplittet: Kommunikationsforscher, Dozenten der Journalistik sowie Medienpraktiker, darunter ein hoher Anteil von fünf Medienjournalisten.
Die Befragten wurden aufgefordert, a) drei Forscher oder Forschungsprojekte (der letzten fünf Jahre,
ausserhalb ihrer eigenen Forschungsinsitution) zu benennen, über die Zeitungs-Journalisten oder Verlagsmanager Bescheid wissen sollten; b) drei Forschungsinstitute aufzulisten, welche die Kluft zwischen Medienforschung und Zeitungs-Praktikern überwinden helfen; c) drei Zeitungen zu nennen, die auf bemerkenswert innovative Weise hochwertigen Journalismus offerieren.
Insgesamt wurden rund 60 Medienexperten per e-mail oder im persönlichen Gespräch um eine Antwort gebeten. Durch Nachhaken ist es gelungen, ungefähr zwei Drittel der insgesamt adressierten Forscher- und Dozentenkollegen an Hochschulen sowie ein Drittel der Praktiker zu einer Antwort zu bewegen.
Die geringe Antwort-Bereitschaft insbesondere von Praktikern ist inzwischen generell zu einem Problem der empirischen Journalismus-Forschung geworden. In unserem Fall kam eine spezifische Hürde hinzu: Für einige der Adressaten war es wohl peinlich, zugeben zu müssen, dass sie sich mit den Antworten schwer tun würden. Ein leitender Redakteur einer grossen Regionalzeitung hat dies immerhin nach der zweiten Anfrage eingeräumt:  „Es tut mir leid, dass mir Ihre erste E-Mail ‚durchgerutscht‘ ist. Ich bin mir nicht sicher, ob ich erste Wahl bin, um auf Ihre Fragen zu antworten. Ich weiss nicht, ob wir überhaupt irgendjemand in unserer Zeitung haben, der präzise antworten könnte.“
In der Gruppe der Medienpraktiker hat ausserdem der hohe Anteil von Medienjournalisten mit Sicherheit zu Verzerrungen geführt. Ursprünglich war vorgesehen, drei Praktiker-Gruppen separat zu befragen: (1) Verleger, Verlagsmanager und Consultants; (2) Journalisten sowie (3) Medienjournalisten und Medien-Ombudsleute – doch das ist am zögerlichen Rücklauf gescheitert.
Quellen:
Leoni Klump, Die Medienprofessoren. Die Wissenschaftler der massenmedialen Öffentlichkeit – und ihr Verhältnis zur massenmedialen Öffentlichkeit, Magisterarbeit, Universität Münster 2008
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