Der Hund von Tante Nelly

20. Dezember 2010 • Qualität & Ethik • von

Der Auswurf von Wikileaks erinnert uns daran, was echter Journalismus ist.

Für Daniel Ellsberg war das damals noch richtig harte Arbeit. Die 7000 Seiten der „Pentagon Papers“ vervielfältigte er Blatt für Blatt auf einem alten Xerox-Fotokopierer. Das dauerte wochenlang. Seine Kinder halfen ihm dabei.

Die Pentagon-Papiere, die 1971 von der New York Times und der Washington Post publiziert wurden, sind noch immer das größte leak der Mediengeschichte. Die 7000 Seiten des vertraulichen Berichts zeigten die hässlichen Seiten des Vietnamkriegs auf, welche die US-Regierung lieber unter dem Deckel gehalten hätte. Ellsberg, ein Mitarbeiter des Think-Tanks Rand Corporation, wurde nie verurteilt. Er ist bis heute als gutbezahlter Vortragsredner unterwegs.

Die Pentagon-Papiere sind darum erwähnenswert, weil sie die aktuelle Hysterie um Wikileaks relativieren. Wikileaks hat bis heute kaum Dokumente publiziert, die von aktuellem oder historischem Interesse wären. Es sind nur Zeugnisse des vergänglichen und aufgeregten Zeitgeistes. Die Hysterie ist künstlich und auch darin begründet, dass jeweils im Dezember die übliche saisonale Nachrichtenbaisse aufzieht.

„Ich glaube, Wikileaks trägt zum investigativen Journalismus bei“, sagte letzte Woche der isländische Journalist Kristinn E. Hrafnsson, einer der Sprecher der Organisation. Ich glaube, bisher hat es wenig dazu beigetragen.
Es ist darum angebracht, einmal auf die Trennlinie zwischen investigativem Journalismus und den Praktiken von Wikileaks hinzuweisen. Wikileaks ist nichts anderes als eine elektronische Postfachadresse für Abrechnungen des Alltags.

Enttäuschte, Gutmeinende und Durchgeknallte aller Art können die Postfachadresse als Frust-Deponie nutzen. Sie brauchen, anders als noch Daniel Ellsberg, keine dicken Ordner mehr einzureichen. Ein chiffriertes Mail genügt.
Man möchte nicht wissen, was zuletzt in den anonymen drop boxes von Wikileaks eingegangen ist. Ich bin aber ziemlich sicher, dass der Name des Hundes meiner Tante Nelly darunter war. Denn der Hund von Tante Nelly hat den Pöstler in den Unterschenkel gebissen. Die Post schickte darauf eine Rechnung. Dieses investigative Dokument gehört veröffentlicht, im Interesse der mondialen Aufklärung.

Investigativer Journalismus hat mit den Endlagern der Enttäuschten, Gutmeinenden und Durchgeknallten wenig zu tun. Investigative Journalisten wollen den Dingen auf den Grund gehen. Sie wollen herausfinden, wie es ist und wie es war. Sie arbeiten dafür. Sie reden mit Dutzenden von Informanten. Sie machen sich eine Meinung. Sie halten es nicht für eine journalistische Leistung, die Denunziationen der Enttäuschten, Gutmeinenden und Durchgeknallten ohne eigenes Zutun und ohne kritische Sicht einfach abzudrucken.

Macht euren Job!

Wir müssen nicht immer die Watergate-Affäre und Bob Woodward und Carl Bernstein zitieren. Wir müssen nicht auf die „Pentagon Papers“ zurückkommen, wo rund um das Leck noch intensive und hinterfragende Zusatzrecherche und nicht, wie heute üblich, nur noch Copy/Paste die publizistische Maxime war. Auch im deutschsprachigen Raum haben Burschen wie Max Winter, Egon Erwin Kisch, Hans Leyendecker, Günter Wallraff, Alfred Worm, Urs Paul Engeler und Niklaus Meienberg die investigative Kunst gepflegt. Sie zeigten auf, wo es in unserer Gesellschaft Bruchstellen und Sollbruchstellen gibt. Sie taten es tatsächlich im öffentlichen Interesse.

Genannt haben wir alles ältere Herren, zugegeben. Wir wollen darum unseren Journalisten, vor allem den jüngeren Journalisten, dringlich raten: Macht euren Job – und lasst die Finger von diesen Faszinationen der Enttäuschten, Gutmeinenden und Durchgeknallten.

Erstveröffentlichung: Weltwoche Nr. 50/2010

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One Response to Der Hund von Tante Nelly

  1. Ob die Familien der beiden Reuters-Mitarbeiter und der anderen Opfer (siehe collateralmurder.com) auch dieser Meinung sind?

    Hier eine Antwort darauf: http://blog.ronniegrob.com/2010/12/20/die-journalisten-und-das-herrschaftswissen/

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