Ein Elite-Problem

8. Oktober 2013 • Qualität & Ethik • von

Alle vermissen sie. Allen fehlt sie. Alle sehnen sich nach ihr. Nichts auf dieser Welt wird so sehr vermisst wie die Medienvielfalt.

Die Rechten vermissen sie sehr. „Einheitskost” beklagt SVP-Bundesrat Ueli Maurer in seinem neusten Referat und wünscht sich die Medienvielfalt zurück. Die Linken vermissen sie sehr. „Mehr vom Gleichen” beweint die SP Schweiz in ihrem neusten Positionspapier und wünscht sich die Medienvielfalt zurück.

Die Mediengurus vermissen sie sehr. „Inhaltliche Konformität” bejammert FAZ-Herausgeber Frank Schirrmacher in seinem neusten Statement und wünscht sich die Medienvielfalt zurück. Die Wissenschaftler vermissen sie sehr. „Qualitätsverlust” betrauert der Soziologe Kurt Imhof in seinem neusten Medien-Jahrbuch und wünscht sich die Medienvielfalt zurück. Die Einzigen, denen die Medienvielfalt völlig schnuppe ist, sind seltsamerweise die Medienkonsumenten.

Letzte Woche wurden die neusten Leserzahlen der Schweizer Blätter bekannt. Den meisten Zeitungen und Zeitschriften liefen auch diesmal wieder die Leser davon. Das ist nicht weiter bemerkenswert, daran hat man sich seit fünfzehn Jahren gewöhnt. Interessanter als der Niedergang ist der Quervergleich. Wie viele Leser, so die Frage, lesen neben ihrem Stammblatt eine zweite Zeitung?

Nehmen wir Zürich zum Beispiel. Es ist die einzige Deutschschweizer Stadt, wo die Medienvielfalt noch richtig funktioniert. Die Leser des linksliberalen Tages-Anzeigers etwa können als ideale Ergänzung die rechtsliberale Neue Zürcher Zeitung nutzen. Wie viele Tagi-Leser lesen also die NZZ, um sich eine echte Meinung zu bilden? Es sind genau 16,5 Prozent. Dem großen Rest ist die angebotene Meinungsvielfalt völlig egal.

Noch klarer ist die Situation in Basel. Hier beklagen sich die Leser der Basler Zeitung seit Jahren über den konservativen Kurs ihres Blatts. Ideal als Gegenposition wäre für sie der fortschrittliche Tages-Anzeiger. Wie viele Leser der Basler Zeitung lesen also den Tages-Anzeiger? Es sind genau 4,7 Prozent. Mehr als 95 Prozent des Publikums wollen keine geistige Alternative. In der Westschweiz sieht das Bild genau so aus. Nur 11 Prozent der Genfer Le Temps-Leser lesen gleichzeitig die Tribune de Genève. Nur 11 Prozent der Leser der Freiburger Nachrichten lesen gleichzeitig die regionale Alternative La Liberté.

Ausnahmefall Sonntag

Der einzige Markt, wo sich das Publikum so etwas wie Medienvielfalt wünscht, ist der des Sonntags. Man hat mehr Zeit. Genau ein Drittel der Sonntagsleser konsumiert darum mehr als eine Zeitung. Die häufigste Kombination ist jene von Sonntagsblick und Sonntagszeitung. 154000 Leser lesen beide Blätter.

An zweiter Stelle steht die Kombination von NZZ am Sonntag und Sonntagszeitung. 143000 Leser nutzen gleichzeitig die beiden Titel. Das sind jeweils Überschneidungen von rund 22 Prozent der Leserschaft. Dennoch: Selbst im Ausnahmefall Sonntag wollen 67 Prozent der Schweizer nicht mehr als ein gedrucktes Produkt und nicht mehr als eine Meinung.

Das war etwas viel Statistik, zugegeben. Die Statistik war nötig, um das politische und wissenschaftliche Geschrei um die Meinungsvielfalt etwas zu relativieren. Eindeutig ist: Die Bevölkerung will nicht mehr Medienvielfalt. Sie liest eine einzige Zeitung, nutzt daneben Radio, TV und Internet und ist mit diesem Mix absolut zufrieden. Medienvielfalt ist also ein reines Elite-Problem.

Erstveröffentlichung: Die Weltwoche Nr. 39 / 2013

Bildquelle: BirgitH  / pixelio.de

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