Regionalzeitungen: Fels in der Brandung des Alltagslebens

25. Juli 2003 • Qualität & Ethik • von

Badisches Tagblatt, 25. Juli 2003

Ist der Qualitäts-Journalismus am Ende?
Man höre und staune: Unter Eingeweihten, also unter Journalisten und Medienexperten, wird zusehends intensiver über Qualität im Journalismus debattiert. Anlässe dafür gab es genug: Regierungen und Militärs instrumentalisieren die Medien schamlos und betreiben Desinformation – wie gerade vor kurzem wieder im zweiten Golfkrieg. Um Regionalzeitungen geht es in der Qualitäts-Diskussion bislang aber eher selten.

Journalisten wie Michael Born oder Tom Kummer haben als Fälscher angesehenen Redaktionen und damit auch dem Publikum jahrelang erfundene Beiträge angedreht. Bill Clintons Sex-Affäre mit einer Praktikantin wurde über Wochen und Monate hinweg weltweit zur Top News aufgeblasen, die ganze restliche Amerika-Berichterstattung kam zum Erliegen. Die Angst vor Anthrax und BSE haben die Medien ebenfalls viel zu lang und exzessiv geschürt. Mit der Lungenkrankheit SARS verhält es sich vermutlich nicht viel anders.

Wissenschaftler wie Hans Mathias Kepplinger aus Mainz konnten nachweisen, dass im Journalismus auch dort die Wahrheit oft auf der Strecke bleibt, wo Redaktionen Skandale und Korruption aufdecken und somit eigentlich als «vierte Gewalt» der Demokratie dienen.

Im Ergebnis ist die Berichterstattung mitunter falsch, einseitig übertrieben oder zumindest fragwürdig. Dass etwa im Konflikt um die Bohrinsel Brent Spar nicht Greenpeace, sondern Shell «Recht» hatte, haben wir, nachdem das Thema wochenlang die Medien beherrscht hatte, in vielen Zeitungen nur im Kleingedruckten erfahren.

Um Regionalzeitungen ging es in der Qualitäts-Diskussion bislang eher selten. Entweder wurde mit dem Finger auf Boulevardblätter und Illustrierte, Schmuddelfernsehen und Zeitgeist-Magazine gezeigt. Oder die Sorge galt den großen überregionalen Zeitungen, die es in den letzten beiden Jahren besonders bös erwischt hat. Ihnen brechen die Anzeigen-Erlöse weg, von denen sie lange Zeit über ihre Verhältnisse gelebt haben. Sie sind deshalb mehr als andere Medien zu rigiden Sparmaßnahmen gezwungen. So wurden in kurzer Zeit bei diesen Zeitungen nicht nur Korrespondenten und Fachredakteure wegrationalisiert, sondern auch Umfänge drastisch reduziert.

Indes sind Regionalblätter wie das «Badische Tagblatt» («BT») für die meisten von uns die «eigentliche» und wichtigste Informationsquelle – jedenfalls, wenn wir mehr wissen wollen, als uns das Fernsehen bietet, und vor allem, wenn wir erfahren wollen, was in unserer unmittelbaren Umgebung passiert. Lassen sich Boulevardblätter und überregionale Titel jeweils an einer Hand abzählen, so ist die Zahl der in Deutschland verbreiteten Regionalzeitungen immer noch dreistellig.

Genau besehen, sind selbst die großen Blätter, die so gerne das Qualitäts-Attribut für sich ganz alleine in Anspruch nehmen, Regionalzeitungen geblieben: Die «Süddeutsche Zeitung» wird eben in München und Bayern gelesen, und ihr Versuch, sich in Nordrhein-Westfalen auszubreiten, ist vor kurzem kläglich gescheitert. Aber auch «Frankfurter Rundschau» und «Frankfurter Allgemeine» finden ihr Publikum eher in Hessen als in Hamburg oder in Hilpoltstein.

Die einzige Ausnahme scheint «Die Welt» zu sein, die zumindest in weiten Teilen Norddeutschlands verbreitet ist. Aber sie ist seit Jahren vor allem deshalb Not leidend, weil ihr die lokale Basis fehlt und sie an ihrem Redaktionssitz in Berlin nur wenige Leser findet. Ihr Vorstoß nach Bayern war ebenfalls nur von erbärmlich kurzer Dauer.

Die meisten Regionalzeitungen informieren und unterhalten ihr Publikum ebenso zuverlässig wie unspektakulär: Sie liefern täglich neu die wichtigsten Nachrichten, Orientierung, Service – ausführlicher und stärker auf die Region bezogen als das Fernsehen – und für deutlich weniger Geld, als eine Tasse Kaffee oder ein Glas Bier im Wirtshaus kosten. Sie sind so etwas wie der Fels in der Brandung des Alltagslebens, und dennoch (oder auch deshalb?) machen sie wenig Aufhebens von sich selbst.

Täglich aufs Neue vor den Lesern bestehen

Viele Blätter haben – anders als das «BT» – ihre Unabhängigkeit verloren. Große Konzerne wie die Springer AG, die Holtzbrinck- oder die WAZ-Gruppe haben sie sich einverleibt. Damit sie künftig weiter (oder wieder) rentabel arbeiten, versuchen Medienmanager Synergien zu realisieren und Mindeststandards durchzusetzen, vor allem in puncto Servicefreundlichkeit. Wegrationalisiert werden dabei oftmals nicht nur Redakteure, sondern auch Ecken, Kanten und Schrullen, der Eigensinn und die Originalität – das, was eine Zeitung einmalig macht und der Verleger Karl Bringmann einmal ihre «Persönlichkeit» genannt hat.

Die Macht-Konzentration, die so entsteht, ist gefährlich. Der Hamburger Medienforscher und frühere Vorsitzende des Deutschen Journalistenverbands, Siegfried Weischenberg, führt das Beispiel Wuppertals an. Weil die dortige Zeitung Monopolist ist und es jahrelang keinen Wettbewerb mehr gab, hätten Journalisten mit zum Klüngel gehört und geschwiegen, als die Stadtverwaltung immer mehr im Korruptionssumpf versank.

Diese Gefahr besteht beim «BT» nicht. Denn sein Erscheinungsgebiet gehört zu den immer seltener werdenden Regionen, in denen es noch zwei unabhängige Tageszeitungen gibt. Der gesunde Konkurrenzkampf ist Garant dafür, dass die Redakteure sich hier nicht wie bei Monopolzeitungen gemütlich zurücklehnen oder gemeinsame Sache mit den Mächtigen machen können. Sie müssen täglich aufs Neue mit ihrem Produkt vor ihren Leserinnen und Lesern bestehen.

Krassere Exempel für Fehlentwicklungen sind die Medienmogule Murdoch und Berlusconi: Der eine gebietet weltweit über 150 Zeitungen sowie in den USA über den sehr erfolgreichen, populistischen TV-Nachrichtenkanal Fox. Allesamt haben sie, wie der britische «Guardian» berichtete, im Irak-Konflikt eingeschwenkt auf Pro-Bush-Kurs. Der andere ist inzwischen Herr über die sechs größten italienischen Fernseh-Kanäle. Drei davon gehören ihm, die drei öffentlich-rechtlichen kontrolliert seine Regierung. Er nutzt seine Medienmacht ebenso schamlos, um als Premierminister zu überleben, wie er seine politische Macht einsetzt, um sein Medienimperium zu sichern und weiter auszubauen.

Sage keiner, dass es in Deutschland nicht ähnlich kommen könnte: Einer der Erben des größten Medienkonzerns Bertelsmann hat bereits öffentlich kundgetan, dass er sich Berlusconi zum Vorbild auserkoren hat. Und auch der Machtpoker zwischen Holtzbrinck und Springer um die Vorherrschaft auf dem Berliner Zeitungsmarkt lässt zumindest ahnen, dass diejenigen, die Medienmacht haben, sie auch nutzen, um ihre Interessen durchzusetzen.

Doch nicht nur Machtkonzentration in der Medienbranche gefährdet journalistische Unabhängigkeit und Qualität. Nicht minder problematisch ist der wachsende, von der Öffentlichkeit kaum registrierte Einfluss von Public Relations. Für Unternehmen ebenso wie für Regierungs-Apparate und Nonprofit-Organisationen ist es überlebensnotwendig geworden, im Rampenlicht der Medien gut dazustehen. Das lassen sie sich eine Menge kosten. So haben sie sich mit Pressesprechern und Stäben für Öffentlichkeitsarbeit hochgerüstet.

In großen Konzernen arbeiten in den Abteilungen für Unternehmenskommunikation längst mehr Mitarbeiter als in den Redaktionen gut ausgestatteter Zeitungen. Tagtäglich konkurrieren Hundertschaften von PR-Experten um öffentliche Aufmerksamkeit – und überfluten die Redaktionen mit Medienevents und Pressemeldungen. Schon vor Jahrzehnten argwöhnte der Vater der Zeitungswissenschaft in Deutschland, Emil Dovifat, dass dies zu einem Nachlassen des journalistischen Recherche-Eifers führen würde.

Inzwischen wird in vielen Redaktionen drakonisch Personal eingespart. Für eigene Berichterstattung bleibt immer weniger Zeit, und die Redakteure sind häufiger denn je gezwungen, auf Angeliefertes zurückzugreifen. So schleicht sich durchs Hintertürchen und inzwischen auch durch den Vordereingang PR-Material in die redaktionellen Angebote ein – das ist bei Zeitungen nicht viel anders als im Fernsehen oder beim Radio. Und je mehr Gratis-Material verfügbar ist, desto größer ist die Versuchung fürs Verlagsmanagement, auch die nächste frei werdende Redakteursstelle weg zu rationalisieren.

Glaubwürdigkeit das größte Kapital

Das «BT» ist hier eine rühmliche Ausnahme, wie die seit Jahren konstante Zahl der Redakteursstellen zeigt. Der Verlag weiß, dass Glaubwürdigkeit das größte Kapital der Zeitung ist. Dieses Kapital kann nur mit einer gut ausgestatteten, unabhängigen Redaktion erhalten werden.

Doch nicht allein deren Größe und Kompetenz zählt. Um der Glaubwürdigkeit willen nennt die «BT»-Redaktion ebenso akribisch die Quelle, auf der eine Nachricht basiert, wie sie PR-Mitteilungen hinterfragt. Fehler, die nun einmal passieren können, werden umgehend berichtigt – für das BT inzwischen eine Selbstverständlichkeit, ganz im Gegensatz zu den großen Zeitungen, die sich damit offenbar viel schwerer tun. Dabei sind gerade solche freiwilligen Berichtigungen das klarste Signal an den Leser, dass er sich auf seine Zeitung verlassen kann.

Paradoxerweise ist in Zeiten der Globalisierung von Kürzungen ganz besonders die Auslandsberichterstattung bedroht. Früher saßen einmal so genannte Bauchladen-Korrespondenten in den wichtigsten Hauptstädten der Welt. Sie beherrschten die Landessprache, kannten sich in der fremden Kultur aus und belieferten mehrere Regionalblätter mit Nachrichten. Vielen Zeitungshäusern und Sendern sind sie inzwischen zu teuer. Stattdessen fallen heute die Reporter wie die Heuschrecken über die Krisenregionen der Welt her – und sind schon mangels Sprachkenntnissen auf die Informationshäppchen angewiesen, mit denen sie «vor Ort» auf Englisch von den PR-Profis abgefüttert werden. Die Qualität der auf diese Weise vermittelten Informationen ist allemal nicht mit dem zu vergleichen, was ein Korrespondent recherchieren könnte, der sich im jeweiligen Land auskennt und eigene Quellen anzapfen kann.

Über Qualitätsverluste im Journalismus wird wenig öffentlich diskutiert. Woran es in Deutschland ebenso wie in den meisten anderen Demokratien fehlt, ist eine fünfte Gewalt, die die vierte im Zaum hält, ohne deshalb die Pressefreiheit zu gefährden.

Diese fünfte Macht könnte der Medienjournalismus sein – die Berichterstattung der Medien über Medien und Journalismus. Doch die ohnehin recht zaghaften Versuche, den Medienjournalismus auszuweiten, werden in Deutschland bereits wieder rückgängig gemacht. So fehlt der Seismograph, der Fehlentwicklungen registriert und in die Redaktionen zurückmeldet. Und es fehlt beim Publikum an Verständnis, warum Journalismus und Medien so funktionieren, wie sie funktionieren.

Solcherlei Aufklärung tut not. Sie ist nicht minder wichtig als die Berichterstattung über Politik und Theater, Sport und Aktienkurse. Und gewiss nicht weniger unterhaltsam, wenn die entsprechenden Beiträge nur journalistisch gut gemacht sind. Den raffiniertesten und zukunftsweisenden Kürzungsvorschlag in Zeiten Not leidender Redaktionen hat im Übrigen der Journalist und Sprachkritiker Wolf Schneider unterbreitet: «Halbieren Sie die Langeweile», hat er seine Kollegen aufgefordert. Das könnte nicht zuletzt gelingen, indem Journalisten mehr Einblick in den Journalismus gewähren, und Sie, liebe Leserinnen und Leser, noch mehr an all dem teilhaben lassen, was wir Medienexperten selber tagtäglich aufs Neue spannend finden.

Der größte Umbruch, der im Zeitungsjournalismus bevorsteht, wird allerdings einmal mehr durch neue Technologie ausgelöst werden: In ein paar Jahren werden wir so selbstverständlich mit einem faltbaren Display herumlaufen, das kürzlich auf der Computermesse Cebit vorgestellt wurde, wie wir heute in unserer Jackentasche ein Handy stecken haben. Es wird die immer noch klobigen und schlecht transportablen Laptop-Bildschirme ersetzen – und eben auch das bedruckte Papier.

Aber Sie werden sich dann hoffentlich weiterhin tagtäglich mit Hilfe des «Badischen Tagblatts» auf dem Laufenden halten. Nur wird es Ihnen eben per Knopfdruck jederzeit und allerorten elektronisch zugestellt werden – und Sie wird en voraussichtlich sogar weniger dafür bezahlen. Denn die Redaktion ist im Budget eines Zeitungsverlags nur ein «kleiner» Kostenfaktor. Rund 80 Prozent der Ausgaben entstehen durch Papierverbrauch, Druck und Vertrieb. Sie lassen sich drastisch reduzieren, wenn jeder von uns zu Hause und unterwegs sein elektronisches Lesegerät parat hat. Und vielleicht bleiben dann ja auch wieder ein paar Euro mehr im Redaktionsetat hängen, um Sie, liebe Leserinnen und Leser, wie bisher unabhängig und gründlich zu informieren.

Mit diesem Zugewinn an Lebensqualität wird allerdings unwiederbringlich ein Qualitätsverlust verbunden sein: Ihre Marktfrau kann Ihnen den Fisch nicht mehr in Zeitungspapier verpacken. Und dieses wird nicht mehr am Frühstückstisch oder einem anderen heiligen Örtchen rascheln.

 

Badisches Tagblatt (Sonderbeilage 200 Jahre BT), 25. Juli 2003

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