Russland entschlüsseln

12. April 2017 • Internationales, Qualität & Ethik • von

Russland ist sehr präsent in der tagesaktuellen Berichterstattung deutscher Medien. Dennoch kennen die meisten das Land nach wie vor nur wenig. EJO stellt ein Projekt vor, das sich vorgenommen hat, Russland zu entschlüsseln – das Onlineportal dekoder.

Die Startseite des Onlineportals dekoder

EJO: Warum wurde dekoder ins Leben gerufen? 

Tamina Kutscher: Martin Krohs, Gründer und Herausgeber von dekoder, hatte die Idee im Jahr 2014. Spätestens seit der Annexion der Krim gab es in Deutschland ja heftige Debatten zwischen den vermeintlichen „Russlandverstehern“ und „Russlandgegnern”. Martin Krohs hat damals eine Diskussion im russischen unabhängigen Fernsehsender „Doshd“ gesehen. An der haben ganz unterschiedliche Leute teilgenommen, mit unterschiedlichen Meinungen, und miteinander diskutiert. Da hat er sich gedacht, das ist genau was hier fehlt: Ein Blick in die Diskurse und Debatten in Russland. Und so kam ihm die Idee so etwas zu machen wie Dekoder. 2015 ging unser Portal dann online.

Im Gespräch mit Tamina Kutscher, Chefredakteurin von “dekoder”

Warum kam die Idee erst auf, als es bereits einen Konflikt gab?

Der Konflikt war einfach der letzte Auslöser. Aber dekoder kam natürlich in einem wichtigen Moment: Lange Zeit war man sich im Westen zu sicher gewesen, dass in Russland schon alles irgendwie laufe. Man hat die Entwicklung auch nicht mehr genau beobachtet. Das sieht man zum Beispiel daran, dass manche großen deutschen Verlage ihre Redaktionsbüros in Moskau geschlossen hatten, wie die Zeit oder das Handelsblatt.

Vor kurzem haben wir ein Interview mit Arkady Ostrovsky übersetzt und veröffentlicht, er ist Russland-Redakteur beim Economist. 2016 hat er ein Buch geschrieben, „The Invention of Russia“, über das postsowjetische Russland. Ostrovsky sagt, dass man lange dachte, die Entwicklung in Russland betreffe uns nicht und habe mit uns nichts zu tun. Und jetzt wird auf einmal allen klar, gerade wenn man nach Polen oder Ungarn schaut, aber auch in die USA oder zu Le Pen in Frankreich, dass es uns doch alle angeht. Ostrovsky spricht von einer „Vorreiterrolle“ Russlands.

Was macht dekoder genau?

Unser Ziel ist, sowohl das Wissen aus Forschungsinstituten als auch die Diskurse aus dem Land selbst in die deutschsprachige Öffentlichkeit zu bringen. Wir beobachten unabhängige russische Medien, wählen einzelne Artikel daraus aus und übersetzen sie ins Deutsche. Das ist also eine kuratierende Arbeit. Beim Übersetzen bleiben aber immer gewisse Leerstellen. Die füllen wir, indem wir einzelne Begriffe oder Phänomenen in populärwissenschaftlichen Texten genauer erklären. Diese sogenannten Gnosen – von griechsch gnosis, Wissen – werden von Wissenschaftlern aus deutschsprachigen Instituten für uns geschrieben, aber in einem journalistischen Format.

Wer sind die Leser von dekoder?

Natürlich werden wir von der professionellen Community wahrgenommen, die sich tagtäglich mit Russland beschäftigt: Experten, Journalisten, viele Auslandskorrespondenten und Redakteure, die uns lesen und mitunter auch Themenideen bei dekoder bekommen. Diese Multiplikatoren sind eine wichtige Zielgruppe für uns. Aber im Grunde sind wir für jeden da, der sich für Russland interessiert oder darüber informieren will.
Und natürlich spüren wir Medienhypes. Zum Beispiel hatten wir einen Artikel zum berühmten „Fall Lisa“. Das war eine riesige Medienblase. Und wenn wir so was bringen – , Themen, über die generell gerade viel berichtet wird –  dann merken wir schon, dass die Leserzahl rasant nach oben steigt. Und dann nimmt sie wieder ab.

Zu welchen Medien in Russland hat dekoder Kontakte?

Lizenzvereinbarungen haben wir nur mit unabhängigen Medien in Russland. In unserer Debattenschau übersetzen wir auch Artikel aus staatsnahen Medien. Ansonsten achten wir auf inhaltliche Unabhängigkeit. Wir bringen Artikel aus Medien wie Colta, Republic, Kommersant, Vedomosti. Diese Medien haben ja ganz unterschiedliche Zielgruppen: Colta oder Republic wenden sich eher an ein junges, urbanes Publikum, jeweils mit einem Kultur- bzw. Politikschwerpunkt, Kommersant dagegen wird auch von der Wirtschafts- und Politikelite Russlands gelesen.

Was ist die größte Herausforderung und was macht dekoder so einzigartig?

Wir sind sicher die einzigen, die Content aus russischen Medien regelmäßig auf Deutsch übersetzen. Und außerdem die einzigen, die das an der Schnittstelle zwischen Journalismus und Wissenschaft machen. Die Herausforderung ist möglichst viele Leute zu erreichen. Wir wollen für alle da sein. Nicht nur für Russland-Experten, sondern auch für diejenigen, die etwas über Russland gehört haben und ihre Kenntnisse über ein bestimmtes Thema vertiefen wollen.

Wie finanziert sich dekoder?

Wir hatten eine Anschubfinanzierung von Martin Krohs und die läuft erstmal noch. Für einzelne Projekte bekamen wir auch Förderung von verschiedenen Stiftungen: der Robert Bosch Stiftung und der Zeit-Stiftung, und wir sind weiter auf der Suche nach Kooperation mit Stiftungen oder einzelnen Förderern. Und natürlich wollen wir dabei inhaltlich komplett unabhängig bleiben. Deswegen arbeiten wir zum Beispiel nicht mit politischen Stiftungen zusammen.

Welches Feedback haben Sie schon gekriegt?

Bislang sehr viel positives. Viele loben unser Konzept. 2016 haben wir auch den Grimme Online Award gewonnen für Konzept und Redaktion.

Und was sind Ihre Pläne für die Zukunft?

Wir haben vieles vor. Wir entwickeln weitere Formate. Wir haben schon jetzt Bildstrecken, nicht nur Texte. Wir zeigen auch Kinofilme. Aber wir wollen verstärkt in Richtung Video gehen und auch Podcasts machen. Auch ein Debattenformat ist angedacht. Also wird alles noch interaktiver und multimedialer.

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