“Unser Ziel ist es, Machtmissbrauch aufzudecken”

29. Juli 2008 • Qualität & Ethik • von

Erstveröffentlichung: Neue Zürcher Zeitung

Vor einem halben Jahr nahm das Redaktionsbüro Pro Publica in New York seinen Betrieb auf. Das von einer Stiftung getragene Büro will den Recherchierjournalismus fördern. Zehn Millionen Dollar stehen pro Jahr zur Verfügung. Der Chef, Paul E. Steiger, zieht in einem Interview eine erste Bilanz.

Paul E. Steiger, bereits zum Start des Recherche-Büros Pro Publica überraschten Sie die US-Medienbranche. Zusammen mit der CBS-Sendung «60 Minutes» berichteten Ihre Reporter Ende Juni, dass es bei dem von den USA finanzierten arabischsprachigen Nachrichtensender al-Hurra Missmanagement, Korruption und antisemitische Äusserungen gab. Wie waren die ersten Reaktionen?
Paul E. Steiger: Es gab eine enorme Resonanz. Bereits zwei Tage nach der Ausstrahlung von «60 Minutes» publizierten unsere Reporter Dafna Linzer und Paul Kiel eine längere Geschichte auf unserer Website. Darin geht es insbesondere um einen Al-Hurra-Journalisten, der in einem Bericht über die Holocaust-Leugner-Konferenz in Teheran erklärt hatte, dass diejenigen, die behaupteten, es habe den Holocaust gegeben, keine guten Beweise vorgelegt hätten. Als der US-Kongress davon erfuhr, forderte er die Entlassung des Journalisten – was al-Hurra zusicherte. Wir fanden heraus, dass der Mann immer noch dort arbeitete. Erst als wir nachhakten, wurde er gefeuert. Ausserdem spielte man uns kürzlich eine Liste mit Namen von Leuten zu, die von al-Hurra geschmiert wurden. Neben Lobbyisten und früheren Mitgliedern der Bush- und der Clinton-Administration waren auch Journalisten auf der Liste.
Wie viele Journalisten arbeiteten an dieser Story?
Im Wesentlichen unsere Reporterin Dafna Linzer und ein Praktikant, später kam Paul Kiel hinzu. Für «60 Minutes» stellte CBS ein exzellentes Redaktionsteam zusammen.
Die Idee kam von Pro Publica?
Genau.
Grössere Wirkung dank Partnern
Ist das der Weg, den Pro Publica künftig gehen will: Geschichten anstossen und sie gemeinsam mit anderen Medien weiterbearbeiten?
Unsere Absicht ist es, Machtmissbrauch aufzudecken. Wenn wir etwas finden, versuchen wir einen möglichst grossen Effekt zu erzielen. Daher arbeiten wir mit Medienpartnern zusammen. Um Millionen von Menschen zu erreichen, bieten sich Fernsehsender wie CBS oder ABC an, aber auch die «New York Times», das «Wall Street Journal», «Business Week», «Fortune» oder «Time» – es hängt auch von der Art des Publikums ab, für welche Kooperation wir uns entscheiden. Unsere Recherchen stellen wir einem Partner für eine bestimmte Zeit exklusiv und kostenlos zur Verfügung. Anschliessend publizieren wir alles auf unserer Website und recherchieren weiter. Unser Hauptziel ist es, Veränderungen zu bewirken. Das erreichen wir nur, indem wir eine Geschichte kontinuierlich weiterverfolgen.
Wird «60 Minutes» im Al-Hurra-Skandal auch weiterrecherchieren?
In Bezug auf al-Hurra werden wir die Anschlussberichte selber anfertigen. Diese Geschichte ist zu klein für «60 Minutes». Aber bisher wurde alles, was wir veröffentlichten, auf bemerkenswerte Weise im Internet aufgegriffen. Die Story mit den Journalisten, die Geld von al-Hurra annahmen, wurde zum Beispiel prominent bei «Romenesko» behandelt . . .
. . . dem Blog des Poynter-Instituts, einer Organisation in Florida, die sich mit der Qualität im Journalismus befasst.
Der Autor von «Romenesko» sammelt alles, was die Medienbranche umtreibt. Häufig werden ihm interne Papiere zugespielt. Jeder amerikanische Journalist liest morgens «Romenesko», um beim Branchenklatsch mitreden zu können. Dass dort sowohl über die «60 Minutes»-Sendung als auch über unsere Journalistenliste berichtet wurde, hat uns sehr geehrt.
Zu wenige nachhaltige Recherchen
Sie selbst betreiben ja auch eine Art Blog auf der Website von Pro Publica . . .
Genau. Neben unserer Kernaufgabe, der Recherche, fassen wir in einer Art Blog, den wir «scandal watch» nennen, investigative Berichte anderer Medien zusammen, stellen sie in einen Zusammenhang, schlagen daran anschliessende Recherchen vor oder führen diese selber durch. In den Vereinigten Staaten gibt es einen enormen Mangel an weiterführender Berichterstattung. Häufig decken Rechercheteams eine Geschichte auf und gehen dann zum nächsten Thema über. Journalisten anderer Medien wollen wiederum lieber ihre eigenen Storys verfolgen, als über die Recherchen ihrer Kollegen zu berichten. Dadurch verläuft vieles im Sande.
Konzentrieren Sie sich auf gewisse Bereiche?
Wir konzentrieren uns vor allem auf Regierung und Wirtschaft, wo naturgemäss die mächtigsten Personen und Organisationen zu finden sind. Wir richten unser Augenmerk aber auch auf Gewerkschaften, das Schul- und Universitätssystem, die Gerichte, den Gesundheitssektor, Non-Profit-Organisationen und die Medien. Also überall dorthin, wo es Machtmissbrauch gibt. Thematisch naheliegend sind dabei sicherlich Korruption, Energie- und Umweltfragen sowie die Reaktion auf terroristische Bedrohungen, die dazu führt, dass amerikanische Institutionen amerikanisches und internationales Recht verletzen.
Angst vor Verwässerung der Marke
Halten Sie es für möglich, dass manche Medien Ihre Kooperationsangebote ausschlagen?
Das halte ich durchaus für möglich, und ich würde das auch verstehen. Besonders mit Blick auf die Presse. Das liegt daran, dass Zeitungen gegenüber ihren Kunden den investigativen Journalismus als wichtigen Teil des Auftrags verkaufen. Ausserdem haben viele Blätter spezialisierte Reporter. Es ist also unerheblich, mit welchen Themen man auf sie zugeht, immer wird sich mindestens eine Person auf den Schlips getreten fühlen. Ausserdem besteht die Sorge, die eigene Marke werde verwässert, wenn man Geschichten von Dritten bringt. Allerdings könnte ich die betreffende Story ja auch der Konkurrenz anbieten. Die Dynamik wirkt also in beide Richtungen, und wenn sich jemand entscheidet, aus Rücksicht auf seine Mitarbeiter nicht mit uns zusammenzuarbeiten, ist das okay. Ich sehe jedenfalls keine Probleme, Kooperationspartner zu finden.
Pro Publica startete ungefähr vor einem halben Jahr. Wie reagierten Ihre Journalistenkollegen?
Es gab durchweg sehr positive Rückmeldungen. Bisher konnten wir ja noch gar keine Fehler machen. Die werden aber möglicherweise passieren. Man muss ausserdem berücksichtigen, dass wir personell noch nicht voll besetzt sind. Es wird bis Mitte August dauern, bis alle angeheuert sind. Wir werden dann 26 Journalisten beschäftigen, davon 17 Reporter.
1300 Bewerber für 26 Stellen
Sie sagten, es hätten sich für die 26 Stellen über 1300 Bewerber gemeldet . . .
Ja, unglaublich, nicht? Wir hätten unseren Newsroom ausschliesslich mit Pulitzerpreisträgern besetzen können. Aber das wäre nicht in meinem Sinne gewesen. Nicht jeder im Team kann Stürmer sein, sonst brauchte man elf Bälle. Man braucht auch Verteidiger und Aufbauer. Wir stellten daher ein Team von Personen zusammen, die alle sehr talentiert sind, aber unterschiedliche Fähigkeiten mitbringen. Der älteste Reporter ist 61, der jüngste 24. Ein halbes Dutzend hat bereits einen Pulitzerpreis, aber ich würde tippen, dass eines Tages weitere sechs bis zehn unserer Reporter einen bekommen werden. Wir wollten Leute aus dem ganzen Land zusammenbringen, damit sie voneinander lernen. Sie sollen nicht nur wissen, wie man eine gute Story schreibt, sondern auch in Theorie und Praxis das weiterentwickeln, was wir als unsere Mission erachten. Dazu braucht man Teamspieler.
Was entgegnen Sie jenen, die das gemeinnützige Geschäftsmodell von Pro Publica kritisieren?
Zunächst einmal, dass das Ehepaar Sandler sich entschied, Recherchejournalismus mit jährlich zehn Millionen Dollar zu unterstützen. Mit dieser Entscheidung haben sie Weitblick bewiesen, denn sie wurde bereits 2006 getroffen, als die Lage noch nicht so düster war wie heute. Man muss sich die Lücke ansehen, die Pro Publica schliessen will: Da geht es gar nicht um die «super big media» wie ABC, CBS oder die «New York Times». Die werden weiterhin investigative Teams aufrechterhalten. Es geht um mittelgrosse Zeitungen wie «Des Moines Register», «Denver Post», «Miami Herald» oder «Philadelphia Inquirer». Diese Blätter hatten sich seit den 1960er Jahren um den investigativen Journalismus verdient gemacht, und sie verfügtenüber ein weltweites Korrespondentennetz. In genau diesen beiden Bereichen wurde massiv gespart.

Das Internet ändert die Koordinaten
Werden diese Einschnitte auch auf uns Europäer zukommen?
Der Grund für die jetzigen Probleme liegt in der Konkurrenz durch das Internet. Daher denke ich, dass dieser Trend auch auf die eine oder andere Weise Europa erreicht. Der Strukturwandel ist schon jetzt deutlich spürbar. Vor dem Internet war die Tageszeitung das einzige Medium, das uns mit Nachrichten versorgte und über ein oberflächliches Niveau hinausging. Wer an Finanzwirtschaft interessiert ist, hat aus der Zeitung mehr Informationen erhalten, als wenn er den ganzen Tag lang Wirtschaftsfernsehen geschaut hätte. Zeitunglesen war unabdingbar. Heute kann man im Internet von morgens bis Mitternacht alle möglichen Finanzinformationen recherchieren, ohne zweimal auf das gleiche Dokument zu klicken. Dasselbe gilt für Sport, Politik oder Wetter. Entsprechend entwickelt sich die Zeitung von etwas Notwendigem zu etwas, dessen Vorteil darin liegt, Nachrichten einfach nur in einem praktischen Format anzubieten.
Welche Geschichten können wir in den kommenden Wochen von Pro Publica erwarten?
Wir arbeiten derzeit an einer Handvoll vielversprechender Themen, die im August oder September veröffentlicht werden, eines davon voraussichtlich in Zusammenarbeit mit ABC.

Die Autoren sind Mitarbeiter des Instituts für Medien- und Kommunikationspolitik. Sie führten das Interview in New York.
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