Vom Kritisieren, Unterlassen und vom WaWiWi

27. Dezember 2016 • Qualität & Ethik • von

Germanwings-Katastrophe in den Alpen, Paris, Nizza, München, jetzt Berlin – Amokläufe und Anschläge verleiten immer aufs Neue sowohl Medien als auch Publikum, über die Stränge zu schlagen, Voyeurismus zu bedienen, Halbwahrheiten zu streuen, Panik zu schüren. Aber nicht alle. Drei Beispiele, wie es anders geht – und warum wir alle einen ethischen Kompass brauchen.

breitscheidplatz1. Beschwerden – Beispiel, wie man Kritikkultur weiterentwickelt

Nach dem Anschlag in Berlin am Montag vor Weihnachten trafen rasch Beschwerden beim Deutschen Presserat ein. Das ist sehr gut: Die Beschwerden sind erstens ein Hinweis darauf, dass dem Publikum zum Glück nicht egal ist, wie Medien berichten, und zweitens lehren sie uns durch die Art, wie Presseratsmitglieder in ihren Beschwerde-Stellungnahmen argumentieren, auch die Unterscheidung: Was sind die Maßstäbe, die Redaktionen anlegen? Wo liegen sie richtig, wo nicht? Inwiefern unterscheiden sich die Redaktionen? Denn freilich gibt es weder DIE Medien noch DIE Journalisten noch DIE Polizisten und so fort, sondern es bedarf stets einer differenzierten Betrachtung. Drittens belegen die Beschwerden ein weiteres Mal, wie wichtig es ist, wenn ein Publikum selbst einen ethischen Kompass hat, also eine Vorstellung davon, was öffentlich gemacht werden und welchen Kurs Berichterstattung haben sollte, also wenn es sich an sensationalisierender Berichterstattung stößt; dies ist eigentlich auch ein Anlass für Redaktionen zu begreifen, dass ihr Publikum nicht aus Voyeuren besteht, denen man einfach alles vorsetzen kann. Kritisiert an der Berichterstattung über den Anschlag in Berlin wurden nach Angaben der Presserats-Sprecherin die unverpixelte Darstellung des getöteten polnischen LKW-Fahrers auf Pressefotos und die Darstellung verletzter und getöteter Opfer in einem Video, das live vom Tatort gestreamt wurde. Die Kritik adressiere die Empfehlungen von Ziffer 11 des Pressekodexes, eine „unangemessen sensationelle Darstellung von Gewalt, Brutalität und Leid“ zu unterlassen, sowie von Ziffer 8, die Persönlichkeit zu schützen, besonders auch jene von Gewaltopfern. Über die Beschwerden entscheiden die Ausschüsse des Presserats voraussichtlich im März 2017. Der Presserat ist ein Selbstregulierungsorgan der Medienbranche, das sich mit publizistischen Printmedien (also mit Zeitungen und Zeitschriften), mit deren Onlineplattformen und mit sich selbst verpflichtenden Onlinenachrichtenmedien befasst. Noch besser wäre, die Beschwerdekultur würde deutlich reger und stärker ausgeweitet auf weitere Beschwerdestellen und auf eine systematische konstruktive Medienkritikkultur.

2. Differenzierung, Verlässlichkeit, Unterlassen, Glashaus – Beispiele für mehr Sachgerechtigkeit

Unter #ichbinberlin haben Berliner Muslime gegen Terrorismus und den Missbrauch des Korans demonstriert, eine Aktion, die über 14.000-mal auf Facebook geteilt wurde und – laut Ranking des Social Media-Dienstes „10.000 Flies“ – in den vergangenen Tagen unter den 25 am häufigsten geteilten Inhalten war. Auf Platz 6 und über 27.000fach geteilt wurde Frank Janssens Tagesspiegel-Kommentar „Wer jetzt Hass schürt, macht sich zum Komplizen der Terroristen“, in dem er für eine „besonnene Demokratie“ plädierte. Öffentlich-rechtliche Medien, wieder einmal gescholten, sie würden zu spät berichten, erklärten, weshalb es sinnvoll sein kann zu warten. Sie machten damit ein Stück weit endlich ihre Redaktionskonferenzen gläsern und das, was dort diskutiert wird. Solche Transparenz macht auch für das Publikum Vieles besser nachvollziehbar. Zum Beispiel, warum es keine Alternative ist, einfach drauf zu halten wie es manche Privatmedien getan haben, die stundenlang dasselbe zeigten oder „vor Ort“ nichtssagende Fragen stellen. Der „Tagesspiegel“ zitiert ZDF-Intendant Thomas Bellut, man habe entschieden, das Programm erst zu unterbrechen, wenn man ein Bild von der Lage und Fakten gesammelt habe. Eine Herangehensweise, die Kern eines soliden Informationsjournalismus ist, und zwar für alle Medienkanäle.

3. WaWiWi – ein Beispiel für das „Making-of“ von Wissenskultur

Die ersten Male war ich beeindruckt, dass immer mehr Onlinemedien dazu übergingen zu unterscheiden, was sie wissen und was nicht gesichert ist. Denn gerade bei Anschlägen und Amokläufen ist ja typisch, dass zunächst die Nachrichtenlage dünn ist: Alle – Ermittler, Journalisten, Politiker – sind dann zwar sehr gefragt, sie haben aber noch wenig Antworten und tragen zudem die Verantwortung dafür, die Antworten erst zu dem Zeitpunkt zu geben, an dem sie frühestens vertretbar sind. Das heißt oft eben: nicht sofort. Denn sofort hieße mitunter, falsche Spuren zu legen oder Täter über Polizeistrategien zu informieren. Die Einteilung in „Was wir wissen“ und was nicht, erschien als guter Weg, um Spekulationen, Gerüchte einzudämmen und glaubwürdig aufzutreten. Doch die Berichterstattung nach dem Anschlag in Berlin belegt, dass diese Einteilung gar nicht wirklich umgesetzt wird: Unter dem Titel „Was wir wissen“ tauchen wiederum Spekulationen auf, leicht zu entlarven an Wörtern wie „vermutlich“, „wohl“, „könnte“, „angeblich“. Aber: Spekulation ist nicht Wissen, ein Gerücht ist kein Fakt. Nicht nur, weil dieses Jahr mit Grund „postfaktisch“ zum Wort des Jahres gewählt wurde, müssen seriöse Onlineredaktionen extra-sensibel vorgehen und sich als zuverlässige Informations- und Nachrichtenplattformen profilieren. Wenn man nicht weiß, welche Herkunft eine in Untersuchungshaft genommene Person hat, gehört dies unter „Was wir nicht wissen“; es mit zwei Spekulationen (könnte ein Pakistaner oder ein Afghane sein) versehen als Wissen auszugeben, wie das die Deutsche Presseagentur angeboten hat, ist eine Farce – oder zumindest ein Beleg dafür, dass eine Handreichung nützlich scheint, wie man „sicheres Wissen“ von ungesichertem unterscheiden kann.

Ein Beispiel liefert Zeit Online. Karsten Polke-Majewski legte vergangen Woche in einem neuen „Glashaus-Blog“ offen, welche vier Kriterien die Redaktion an eine Information stellt, damit diese als „WaWiWi“, das interne Kürzel für „Was wir wissen“, notiert wird: Erstens eine sichere Quellenlage – also Fakten, die die Redaktion selbst verifiziert hat oder die ihr von zwei unabhängigen, vertrauenswürdigen Quellen bestätigt wurde. Konkret bezogen auf den Anschlag in Berlin: Weil es widersprüchliche Informationen gab zu dem in der Nacht des Anschlags gefassten Tatverdächtigen, habe man ihn ausdrücklich nicht als Fahrer des LKW bezeichnet (wie in manchen anderen Medien), und es sei dadurch auch nicht peinlich für die Journalisten gewesen, dass sich der Verdacht als tote Spur entpuppte und die Polizei keine Verbindung zwischen der Person und der Tat fand. Zweites WaWiWi-Kriterium ist: kein Konjunktiv (also kein „könnte“, „soll“…), drittes keine Wertungen (also keine Spekulationen über Folgen, keine Einschätzungen von Politikern…), viertes möglichst viel Transparenz. Die Redaktion mache auch kenntlich, was sie nicht sicher wisse, allerdings nur dann, wenn diese Informationen potenziell wichtig seien zum Verständnis des Ereignisses. Ein WaWiWi sei „ein lebender Text“, der sich an der Relevanz ausrichte und sich daher immer wieder ändere.

Gerade in einem solchen Format kann im Übrigen der Onlinejournalismus eine besondere Stärke ausspielen: Rasch streichen, was für den Fall nicht mehr relevant ist, neue Informationen hinzufügen – und schweigen, wenn es nichts Neues zu berichten gibt. Verbunden mit einer systematischen Publikumsorientierung entsteht eine Haltung, die jener umsichtiger Kapitäne entspricht: die Orientierung behalten, den Kompass justieren, lieber richtig als nur schnell navigieren, auch in stürmischen Lagen – und erklären, wie und wohin gefahren wird.

Bildquelle: Andreas Trojak / Flickr CC: Terroranschlag-Berlin-Breitscheidplatz-2016 (9); Lizenzbedingungen: https://creativecommons.org/licenses/by/2.0/

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