Im digitalen Höhenflug

10. August 2016 • Digitales, Redaktion & Ökonomie • von

Mit Amazon-Gründer Jeff Bezos sind Stolz und Selbstbewusstsein in die Redaktion der Washington Post zurückgekehrt. Wird sie nun die US-„Newssite of record“?

Washington PostGünstigere Ausgangsbedingungen, um im digitalen Haifischbecken zu überleben, hat derzeit wohl kaum ein Nachrichtenmedium in der westlichen Welt: Die Washington Post (WaPo) hat mit dem Amazon-Gründer Jeff Bezos, dem inzwischen drittreichsten Mann der Welt, einen weitsichtigen Investor. Allein schon seine Anteile am Internet-Versandhändler Amazon sind 46 Milliarden Dollar wert. Und mit Martin Baron verfügt sie über einen erfahrenen und mit allen digitalen Wassern gewaschenen Chefredakteur. Barons Arbeit hat ihm schon in seiner vorangehenden Position als Redaktionschef des Boston Globe nicht nur einen Pulitzer-Preis für seine Recherchen über pädophile Priester eingebracht, sondern spätestens mit dem Film „Spotlight“ auch Hollywood-Lorbeer und Weltruhm. Obendrein ist die WaPo nicht irgendwo in einer Metropole beheimatet, sondern in der Schaltzentrale der westlichen Welt und in fußläufiger Distanz zum Weißen Haus. An Stoff für die Berichterstattung herrscht also kein Mangel.

So ist es mehr als naheliegend, wenn Forscher wie Dan Kennedy (School of Journalism, Northeastern University, Boston, und bis vor kurzem Joan Shorenstein Fellow in Harvard), aber auch Medienjournalisten wie Gabriel Sherman (New York Magazine) sich für die Digital-Strategie der Washington Post interessieren. Kennedy konnte Baron und mehrere leitende WaPo-Mitarbeiter, nicht aber Bezos selbst interviewen. Der Forscher betont, dass viele strategische Entscheide auch auf andere größere Redaktionen anwendbar seien: Es gelte, in Journalismus und Technologie zu investieren, ein breites Publikum ebenso wie elitäre, spezialisierte Zielgruppen im Visier zu haben und, vor allem, die digitale Reichweite über möglichst viele Plattformen hinweg auszubauen.

Sherman liefert dazu die Zahlen: Seit Bezos Einstieg sei die Redaktion um 140 Mitarbeiter aufgestockt worden. Außerdem wurden 35 Ingenieure neu eingestellt, so dass inzwischen 80 IT-Spezialisten im Newsroom arbeiten. Sie sind in eine Vielzahl von Projekten involviert, von der Entwicklung neuer Apps über Tools, um Infografiken zu gestalten, bis hin zum Datenjournalismus, zum Content Management und zu einem Dashboard, mit dem sich das Nutzerverhalten zeitnah beobachten und auswerten lässt. Nach Jahren, in denen Entlassungen, Frühpensionierungen und die Angst um den Arbeitsplatz das Betriebsklima bestimmt hätten, sei jetzt der „swagger“ zurück, sprich: eine Mischung aus Stolz und  Selbstbewusstsein.

Das Engagement zahlt sich zumindest in Ansehens- und Reichweiten-Zugewinn aus: Die WaPo  hat jüngst zwei Pulitzer-Preise bekommen, und mit ihrer aggressiven Berichterstattung über den Vorwahlkampf hat sie so viel Aufmerksamkeit erzielt, dass Donald Trump wutschnaubend WaPo-Reporter aus dem Begleittross seiner Kampagne ausschloss. Washingtonpost.com konnte seit 2013 die Clicks verdoppeln und hat im Oktober 2015 erstmals die New York Times beim Web Traffic überrundet. Im Februar 2016, so gerät Kennedy ins Schwärmen, habe die WaPo mit 890 Millionen Seitenaufrufen nicht nur die New York Times (721 Millionen), sondern auch das „Traffic-Monster“ BuzzFeed (884 Millionen) geschlagen. Nur CNN.com (1,4 Millionen Aufrufe) habe in Amerika weiterhin die Nase vorn.

Nicht aufgehalten werden konnte indes der schwindelerregende Auflagenschwund bei der Print-Ausgabe. Im Vergleich zu 1993, als mit 832.000 Exemplaren der Gipfelpunkt erreicht war, ist heute noch nicht einmal die Hälfte übrig geblieben. Trotzdem ist die Printversion noch immer einträglicher als das viel üppigere Online-Angebot der WaPo.

700 Journalisten generieren bei der WaPo 500 Stories täglich – bei der New York Times sind es mit 1300 Mitarbeitern im Newsroom „nur“ 230 Postings, so Kennedy unter Berufung auf eine nicht näher benannte, neuere Studie. Die WaPo sei bislang das einzige große Zeitungshaus, das all seine Inhalte direkt auf Facebook als Instant Articles publiziere. Mit diesem Schritt zögert die New York Times Kennedy zufolge noch, weil sie ihre vorzeigbaren Erfolge beim Verkauf digitaler Abos nicht kannibalisieren möchte.

Als Erfolgsgeheimnis verriet Chefredakteur Baron: „Wir sind auf die digitale Umwelt eingestellt und betrachten das Netz als eigenständiges Medium.” Als Beispiele nannte er Kennedy, er habe junge „Digital Natives“ als Redakteure eingestellt. Sie träten mit einer „erkennbar eigenen Stimme” auf und interessierten sich „gar nicht dafür, ob ihre Geschichten auch in der Print-Ausgabe erscheinen”. Sie arbeiteten mit Multimedia-Tools, indem sie zum Beispiel Videos produzierten, Original-Dokumente an ihre Postings anhängten oder Texte mit Annotationen und Kommentaren versähen, was bei Print an den Grenzen des Mediums scheitere.

Das alles klingt dann freilich doch nicht so weltbewegend, als würden Baron und Bezos soeben das Rad neu erfinden. Spannender ist wohl die Frage, warum Bezos die Washington Post erworben hat. Ganz offensichtlich sind Synergieeffekte im Spiel, die nur er realisieren kann, indem er etwa die WaPo digital über Amazon Prime und auf seinem Lesegerät Kindle Fire zugänglich macht. Der Medienanalyst Ken Doctor traut Bezos zu, mit Hilfe der WaPo sogar einen Wettbewerbsvorteil für Amazon gegenüber anderen Tech-Giganten wie Facebook, Apple und Google herausschlagen zu  können.

Medienkritiker befürchten dagegen, Bezos habe sich ein Machtinstrument zur politischen Einflussnahme  verschafft, um insbesondere industriepolitische Entscheidungen, die den Hightech-Sektor betreffen, mitsteuern zu können. Der Chefredakteur versichert indes durchaus glaubhaft, dass es solche Beeinflussungsversuche bisher nicht gegeben habe und diese mit ihm auch nicht zu machen wären.

Kann also die WaPo mit hinreichender Unabhängigkeit auch über Amazon berichten? Anlässe dafür gäbe es fraglos, denn der Internetgigant hat nicht nur weltweit den Buchhandel und die Buchverlage auf den Kopf gestellt und inzwischen auch andere Handelsunternehmen in Bedrängnis gebracht. Er fällt auch immer mal wieder dadurch auf, dass er mit seinen Angestellten ruppig umgeht. Obendrein ist Amazon Web Services ein Geschäftspartner der CIA.

Bezos hat, als er sich als neuer Eigentümer der Redaktion vorstellte, diese ermuntert, über „Amazon und Jeff Bezos“ zu publizieren, was sie wolle. Das freilich schließt vorauseilenden Gehorsam und die „Schere im Kopf“ nicht aus, denn in jedem Medienunternehmen gibt es Machtstrukturen – und damit einhergehend „blinde Flecken“ der Berichterstattung. Somit werden wir wohl auch in Zukunft investigative Beiträge über Amazon und Bezos eher in der New York Times, im Wall Street Journal oder im Guardian erwarten dürfen als in der WaPo – ebenso wie sich kritische Stimmen über die Tagesspiegel-Eigentümer Sebastian Turner und Dieter von Holtzbrinck wohl eher im Spiegel oder der FAZ als im Tagesspiegel finden.

Bezos hat seiner Redaktion einen Leitspruch mit auf den Weg gegeben, der es verdient, in jedem Journalismus-Lehrbuch eingerahmt zu werden: „Auf den Leser fokussieren, nicht auf die Wettbewerber.“ Ganz neu ist freilich auch diese Devise  nicht. Just Focus-Gründer und Print-Veteran Helmut Markwort hatte ja seinem Redaktionsteam schon vor Jahren eingeimpft: „Und immer an den Leser denken…“.

Lesetipps:

Dan Kennedy (2016): The Bezos Effect: How Amazon’s Founder Is Reinventing The Washington Post – and What Lessons It Might Hold for the Beleaguered Newspaper Business, Shorenstein Center on Media, Politics and Public Policy http://shorensteincenter.org/bezos-effect-washington-post/

Gabriel Sherman (2016): Good News at the Washington, New York Magazine, June 2016 Post http://nymag.com/daily/intelligencer/2016/06/washington-post-jeff-bezos-donald-trump.html

Zwei vorangehende Beiträge des Autors zum Thema sind im Schweizer Journalist (Nr. 8/9, 2016) und im Tagesspiegel (v. 9.8.2016) erschienen. Der vorliegende Text ist ein Zusammenschnitt aus beiden.

Bildquelle: Esther Vargas / Flickr CC: The Washington Post; Lizenzbedingungen: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/2.0/

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