Aus dem Archiv: Der Mauerfall und die Medien

9. November 2014 • Medienökonomie, Pressefreiheit • von

„Vor 25 Jahren, am 9. November 1989, fiel in Berlin die Mauer.“ So ist es schon seit Tagen vielerorts nachzulesen – und dieser Satz belegt einmal mehr, dass sich um historische Ereignisse stets auch Legenden bilden. Denn das Ungetüm, das die Stadt auseinander dividierte, ist an diesem Tag keineswegs eingestürzt, es hat sich auch nicht in Luft aufgelöst.

Zu den Legenden, die sich um den 9. November ranken, gehört auch, dass die friedliche Revolution in der DDR ein Werk des West-Fernsehens gewesen sei. Unser Beitrag, vor 15 Jahren erstpubliziert im Tages-Anzeiger, spürt dieser Legende nach:

80 Prozent der DDR-Bürger konnten schon lange vor dem „Fall“ der Mauer West-Programme empfangen. Nur in einem kleinen Winkel in der Nähe von Dresden, der im Volksmund das „Tal der Ahnungslosen“ genannt wurde, waren die Empfangsbedingungen so schlecht, dass ARD und ZDF, Sat.1 und RTL keine Verbreitungschance hatten.

Im Rückblick ist es unter Experten nahezu unstrittig, dass das Fernsehen und auch die anderen Medien tatsächlich eine wesentliche Rolle im Transformationsprozess gespielt haben. „Der Klassenfeind schlich sich Abend für Abend in die Wohnzimmer ein“, beklagten die sozialistischen Partei-Funktionäre. Und dieser Klassenfeind vermittelte mit seinen Werbespots und Seifenopern ganz ungehemmt ein Zerrbild davon, wie viel bunter, schöner und sorgenfreier das Leben in der Warenwelt des Westens im Vergleich zum sozialistischen Arbeiterparadies sein würde.

Das Fernsehen hatte – ebenso wie andere moderne Techniken, zum Beispiel Kopierer und Fax-Geräte – seinen Anteil daran, dass sich die Revolution im Ostblock ausbreiten konnte. Mit der Berichterstattung über Protest-Aktivitäten trug es dazu bei, dass der Funke von der einen in die andere Region übersprang. Und weil überall Kameras dabei waren, wo sich Protest regte, wirkten diese auch als Schutzschild. In Gegenwart des Fernsehens wurden Brutalitäten und Ausschreitungen von seiten der Polizei oder der Militärs unwahrscheinlicher.

Trotzdem sollten wir mit monokausalen Erklärungen vorsichtig sein. Wenn das westdeutsche Fernsehen tatsächlich jene tragende Rolle gespielt hätte, die ihm manche heute noch immer zuschreiben, dann ließe sich kaum erklären, warum sich revolutionäre Aktivitäten viel früher in den anderen sozialistischen Ländern entfalteten als in der DDR. In Polen, der Tschechoslowakei, in Ungarn – ja selbst in Russland waren die Betonköpfe ja längst davongejagt, bevor Erich Honecker, Günter Mittag und Egon Krenz das Handtuch warfen.

Auf jeden Fall ist die Rolle weitaus weniger rühmlich, welche die Medien in den Folgejahren der deutschen Vereinigung gespielt haben. Das Fernsehen in West-Deutschland befand sich ja gerade selbst mitten in einem Prozess „revolutionärer“ Umwandlung. 1989 war es seit etwa vier Jahren auf dem Weg der Kommerzialisierung. Weil private Anbieter sich in atemberaubendem Tempo Marktanteile eroberten, gerieten ARD und ZDF Anfang der neunziger Jahre unter Anpassungs-Druck. Sie offerierten immer mehr Unterhaltung und „Sound bites“, immer weniger Hintergrundinformation und Analyse. Manche Medienbeobachter – darunter der Branchendienst Medien-Tenor, der die Berichterstattung der Hauptnachrichtensendungen des Fernsehens und der wichtigsten Tageszeitungen systematisch auswertete – kamen zu dem Schluss, dass das Fernsehen die dramatischen wirtschaftlichen Entwicklungen in Ostdeutschland nach 1989 geradezu negiert habe.

Zumindest die „guten“ Nachrichten, die bis zum Mauerfall die Sendeplätze und Spalten der Ost-Medien im Übermaß füllten, waren den Medien jetzt offenbar kaum noch eine Meldung wert. War es nicht – trotz der andauernd hohen Arbeitslosen-Quoten – ein zweites „Wirtschaftswunder“, das sich in der ehemaligen DDR ereignete? Blühten nicht die Landschaften tatsächlich auf, so wie es Bundeskanzler Kohl euphorisch im Wahlkampf versprochen hatte? Konnte man nicht geradezu zugucken, wie fast über Nacht ein ganzes Land mit funktionierender Infrastruktur ausstaffiert wurde – wie Straßen neu gepflastert, die Autobahnen verbreitert, Stadtviertel um Stadtviertel verkabelt und mit funktionierenden Telefonhäuschen ausgestattet, wie verfallene Gebäude renoviert und am Stadtrand Einkaufszentren hochgezogen wurden?

In den Medien, in deren Schaltzentralen kaum ein Ostdeutscher saß, war davon wenig zu erfahren. Die spektakulären Ereignisse des Herbstes von 1989 hatten ihre Aufmerksamkeit völlig absorbiert – doch danach wendeten sie sich ebenso schnell wieder anderen Themen zu, statt sich mit den heiklen Detailproblemen der deutschen Vereinigung angemessen auseinanderzusetzen. So entstand ein Vakuum, das die Nachfolgeorganisation der SED, die PDS, geschickt zu nutzen verstand. Ihre heutigen Erfolge lassen sich zumindest partiell der Ignoranz des Fernsehens zuschreiben.

Immerhin haben die Medien ihre neue Kundschaft nicht völlig im Regen stehen lassen, sondern sie mit (oftmals wohlfeilen) Ratschlägen geradezu überschüttet. Es ist nach dem Fall der Mauer regelrecht ein neues publizistisches Genre entstanden: der Ratgeberjournalismus blühte in Ostdeutschland auf. Die Medien haben ihr Scherflein dazu beigesteuert, dass die Ostdeutschen sich in der Konsumwelt des Westens zurechtgefunden und sich – ebenfalls quasi über Nacht – den „Jargon“ von Demokratie und Marktwirtschaft angeeignet haben. Dann freilich dauerte es doch erheblich länger, bis sie begannen, ihr Alltagsleben nach den neuen Spielregeln von Selbstverantwortung unter Wettbewerbs-Bedingungen „einzurichten“.

Der Ratgeber-Journalismus ist allerdings eine Domäne der Printmedien geblieben. Und zu den Absonderlichkeiten der deutschen Vereinigung gehört auch, dass bis heute westdeutsche Zeitungen, Illustrierte und Nachrichtenmagazine es nicht geschafft haben, in nennenswerter Weise den Ostmarkt zu erobern. Ostdeutsche lesen weiterhin Blätter, die in Ostdeutschland gemacht werden. Immerhin gibt es ein Blatt, das von einem westdeutschen Verlag nach dem Mauerfall gegründet wurde und das erfolgreich in hoher Auflage im Osten verbreitet wird: die Super-Illu. Der Chefredakteur des Massenblatts, Jochen Wolff, ist wohl die beste Referenzperson, wenn man nach dem Patentrezept sucht, um auf den ostdeutschen Medienmarkt vorzudringen. Sein Erfolgsgeheimnis hat er schon 1991 verraten: „Denke Ost und handle West“. Mag sein, dass sich mit dieser Devise in Halle, Dresden, Leipzig und Cottbus sogar noch im Jahr 2021 gewinnträchtig Mediengeschäfte betreiben lassen.

Erstveröffentlichung, geringfügig modifiziert: Tages-Anzeiger v. 9.11.1999

Bildquelle: Raphaël Thiémard/flickr.com

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