Entbündelung der Presse

21. April 2008 • Medienökonomie • von

Neue Zürcher Zeitung, 18. April 2008

Was die amerikanischen Verleger und Chefredaktoren planen
Die US-Zeitungen sind im Sinkflug. Die Redaktionsstellen, die Auflagen und die Werbeeinnahmen schrumpfen. Die Verleger setzen auf Online- und «Entbündelungs»-Strategien. Zur Jahrestagung der Verleger und Chefredaktoren kamen auch die Präsidentschaftskandidaten.

Angesichts der öffentlichen Aufmerksamkeit, die der Vorwahlkampf in den USA absorbiert, war es wohl unvermeidlich: Alle drei Präsidentschaftskandidaten hatten bei der diesjährigen gemeinsamen Jahrestagung der US-Verleger und -Chefredaktoren in Washington ihren Auftritt – und sie lenkten zumindest temporär von den gravierenden Problemen ab, mit denen sich die Zeitungsbranche auseinandersetzen muss. John McCain, der 71-jährige republikanische Anwärter auf das Präsidentenamt, überraschte nicht nur mit dem lockersten Auftritt, sondern auch mit der Ankündigung, die Initiative für ein «shield law» zu unterstützen – ein überparteiliches Gesetzesvorhaben, das es Journalisten ermöglichen soll, ihre anonymen Quellen besser zu schützen, und das die Regierung Bush entschieden ablehnt.

Angespannter Barack Obama
Demgegenüber wirkte Barack Obama, sonst als grosser Kommunikator gefeiert, eher angespannt: Wie ein Musterschüler hielt er eine eher konventionelle Rede. Die Chance, in irgendeiner Weise auf das einzugehen, was die führenden Zeitungsleute des Landes bewegt, liess er ungenutzt verstreichen. Er und Hillary Clinton schlossen sich in puncto «shield law» immerhin noch während der Tagung McCains Vorstoss an. Alle drei Kandidaten distanzierten sich zudem von der gegenwärtigen Administration und versprachen mehr Transparenz und Offenheit im Umgang mit den Medien – McCain und Obama betonten, dass sie über die Parteigrenzen hinweg regieren möchten.

Wie die Veranstalter – die Newspaper Association of America und die American Society of Newspaper Editors – bekanntgaben, hat sich die Zahl der vollbeschäftigten Journalisten im letzten Jahr um 4,4 Prozent reduziert. Es handelt sich dabei um den stärksten Einschnitt in den letzten dreissig Jahren. Die Auflagen vor allem der Grossstadtblätter sind im Sinkflug begriffen, einige Zeitungen haben in wenigen Jahren 20 bis 30 Prozent verloren. Nicht minder drastisch sind die Einbussen im Anzeigengeschäft, aus dem sich die im Einzelverkauf billigen amerikanischen Zeitungen überwiegend finanzieren: minus 9 Prozent im Vorjahr, im laufenden Jahr sagen Experten weitere minus 8 Prozent vorher.

Statt Untergangsszenarien zu präsentieren, haben die Veranstalter ihre zweite gemeinsame Jahrestagung indes genutzt, um Aufbruchstimmung zu verbreiten. Die klare Botschaft: Die Zeitungszukunft ist digital und online. Tom Rosenstiel vom Project for Excellence in Journalism wies darauf hin, dass Zeitungshäuser inzwischen über verschiedene Distributionskanäle «ein grösseres Publikum denn je» erreichten und dass auch ein Grossteil der Journalisten es als bereichernd empfinde, multimedial zu arbeiten.

Als Herausforderung wird gesehen, die Inhalte, die auf den Servern der Zeitungshäuser gespeichert sind, stärker verfügbar zu machen. «Bis jetzt nutzen wir nur 25 bis 30 Prozent des Materials, das wir haben», sagte John Kelly von der «Palm Beach Post» in Florida. Am Beispiel des «Rockford Register Star» (www.rrstar.com) in Illinois wurde vorgeführt, wie das geschehen könnte: mit einem Portfolio von Nischen-Publikationen, die – sei es gedruckt, sei es online – um die Tageszeitung herum produziert werden, um alle möglichen Zielgruppen zu erreichen: die hispanische Minderheit mit einer wöchentlichen spanischsprachigen Ausgabe der Zeitung, die Afroamerikaner und die Frauen mit eigenen Zeitschriften, welche – regional fokussiert – alle zwei Monate erscheinen, die jungen Leser sowie die Geschäftsleute mit je einer eigenen Website (www.go.rrstar.com; www.businessrockford.com) sowie alle möglichen Gruppen mit Blogs und weiteren Dienstleistungen, etwa für Golfspieler, für Tierfreunde oder zur Gesundheitsvorsorge.

«Google im Auge behalten»
So gewinnt – wohl eher notgedrungen, um der Werbewirtschaft Insertionsmöglichkeiten ohne Streuverluste zu ermöglichen – eine Vision Gestalt, die schon vor vielen Jahren der Medienforscher Bill Blankenburg propagiert hat: Die Zeitung wird «entbündelt». Das Patentrezept, wie das Geschäftsmodell in einer Welt aussehen soll, in der sich das Publikum zunehmend daran gewöhnt hat, für Nachrichten und auch für hochwertige journalistische Leistungen nichts bezahlen zu müssen, wurde allerdings in Washington, noch nicht gefunden, trotz fieberhaftem Suchen und neuen klangvollen Managementfunktionen wie etwa dem «Director of culture and change» beim «Atlanta Journal-Constitution» oder dem «Director of Innovation» bei E.W. Scripps in Knoxville, Tennessee. Vivian Schiller, die sich bei der «New York Times» um die vielfältigen Online-Aktivitäten kümmert, empfiehlt, Google im Auge zu behalten: «Google hat inzwischen so viel Macht, dass das jeden von uns in der Branche berührt.»

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