Gelebte Interdisziplinarität ist eine Herausforderung

28. Januar 2013 • Medienökonomie, Ressorts • von

Stephan Russ-Mohl, Direktor des EJO, berichtet von seinen Erfahrungen aus dem Grenzbereich von Journalismusforschung und Ökonomik.

Viele Schriftsteller und Journalisten sprechen und schreiben mehr oder minder fließend zwei oder drei Sprachen. Rar sind dagegen Publizisten, die zwei oder mehr Sprachen wirklich beherrschen, also virtuos mit ihnen umgehen können. Ähnlich verhält es sich mit Wissenschaftlern, die interdisziplinär arbeiten wollen. Angesichts der Expansion des Wissenschaftsbetriebs und der zunehmenden Konkurrenz ist es ja schwer genug, im eigenen Fach wahrgenommen zu werden. Man kennt die Fachsprache, beherrscht mehr oder minder die üblichen Methoden, hat Drittmittel eingeworben, Denkanstöße gegeben, sich Reputation erarbeitet – und schließlich einen Namen zu verlieren. Seltenheitswert haben dagegen Forscher, die in zwei Disziplinen so heimisch geworden sind, dass all dies für beide Fächer gilt, in denen sie sich tummeln.

Ich selbst habe Interdisziplinarität als Anspruch sozusagen mit der wissenschaftlichen „Muttermilch“ eingesogen. Jedenfalls wurde an meiner Alma Mater, der neugegründeten, „interdisziplinär“ ausgerichteten Universität Konstanz, die sich seinerzeit gerne „Klein-Harvard am Bodensee“ nennen ließ, während der ersten Studiensemester in den frühen 70er Jahren Interdisziplinarität von allen Beteiligten als Hohelied intoniert.

Aber schon damals führten die Versuche, sie an der Universität, konkret: im verwaltungswissenschaftlichen Studium, das Ökonomie und Organisationssoziologie, Politikwissenschaft, öffentliches Recht und Managementlehre zu amalgamieren suchte, zu „leben“, alsbald zu mehr Bescheidenheit: Getragen von Aufbruchsstimmung,  gab es zwar wiederholt Seminare, die Ökonomen und Politologen oder auch Stadtforscher und Juristen gemeinsam veranstalteten. Aber selbst wenn Jung-Stars wie der Ökonom Bruno Frey und der Politik- und Verwaltungsforscher Fritz W. Scharpf aufeinander trafen, dienten diese Exerzitien oftmals eher der Abgrenzung als der disziplinübergreifenden wechselseitigen Verständigung. Ein paar Jahre später war dann immer öfter von Multi- statt von Interdisziplinarität die Rede.

Danach der zweite Anlauf, der eigene Versuch. 1985 wurde ich als Quereinsteiger – dank meiner Vorerfahrungen als Journalist, Journalismusförderer und Journalismusforscher, die ich mir als Verwaltungs- und Sozialwissenschaftler erworben hatte – an die FU Berlin auf den Lehrstuhl des Gründervaters der Publizistikwissenschaft, Emil Dovifat, berufen. Damit einhergehend, ererbte ich die Leitung des Studiengangs Journalisten-Weiterbildung  – eines ambitionierten „Modellversuchs“, der  in ein „Regelstudienangebot“ überführt werden sollte, wie es so schön im damaligen bildungspolitischen Bürokratendeutsch hieß. Der Studiengang  verhalf berufserfahrenen Journalisten zu einem praxisnahen akademischen Abschluss und war seinem Anspruch nach ebenfalls „interdisziplinär“. Im Blick auf die Zielgruppe Journalisten war es auch innovativ und sinnvoll, Studieninhalte aus verschiedenen Fächern – in diesem Fall der Geschichts-, Politik-, Wirtschafts-, Rechts- und Kommunikationswissenschaften – zu kombinieren. Aber die Gefahr war  groß, dass bei einem Berufsstand, der ohnehin zur Überfliegerei neigt, diese nun auch noch mit akademischem Lorbeer lizensiert werden würde.

Im Rückblick war das Glas allenfalls halbvoll – gelebt wurde auch hier eher Multi-, selten Interdisziplinarität. Immerhin: Die wenigen wirklich engagierten Teilnehmer, die sich in die Materie hineingekniet haben, konnten für ihren weiteren beruflichen Weg aus dem Fernstudienmaterial vermutlich mehr mitnehmen, als ihnen ein herkömmliches Magisterstudium geboten hätte. Und zumindest während der Seminare in Berlin, die ein multidisziplinäres Dozenten-Team – darunter geschäftsführend Otfried Jarren, Gerhard Vowe und zuletzt Hartmut Wessler – mit Ehrgeiz und mit vielen  externen Gesprächspartnern und Referenten gestaltete, gab es immer wieder Runden, in denen Wissenschaftler und Experten aus verschiedenen Fächern sich mit uns austauschten. So durften nicht nur die Teilnehmer, sondern auch wir Dozenten „interdisziplinär“ voneinander und miteinander lernen.

Für den akademischen Normalbetrieb waren damit wohl zu viele Grenzüberschreitungen verbunden: Der Studiengang überlebte zwar die unmittelbaren Strudel der deutschen Vereinigung, wurde aber, wie so vieles andere Vorzeigbare auch, abgewickelt, als der bereits ausgebluteten Freien Universität zur Jahrtausendwende von einer kurzsichtigen Politik immer neue Kürzungsrunden aufgebürdet wurden. Als ich von einem (interdisziplinären !) Sabbatical in Stanford zurückkam, war der bis dato zumindest von den Teilnehmern und der Fachszene als „erfolgreich“ eingestufte  Studiengang bereits todgeweiht:  Missgünstige Kollegen hatten die Chance gewittert, das Fell des Bären zu verteilen, bevor er erlegt war. Alle Mittelbau- und Sekretariats Stellen, die zum Studiengang gehörten, waren während meiner Abwesenheit mit einem „k.w.“-Vermerk versehen worden – „kann wegfallen“, sobald die Stelle frei wird, was zumindest bei befristeten Verträgen recht bald der Fall war.

Es fügte sich, dass genau zu diesem Zeitpunkt der Geschäftsführer des Studiengangs und ich Rufe erhielten – aber meine Hoffnungen, über Bleibeverhandlungen den Studiengang retten zu können, zerschlugen sich ebenso schnell wie jene der Kollegen, die „Beute“ des bis dato recht gut ausgestatteten Modellstudiengangs unter sich verteilen zu können. Die Universitätsleitung ließ uns ziehen und kassierte beide Stellen samt Ausstattung. Meine Professur – immerhin die von Dovifat sowie von seinen zwei ebenfalls prominenten Nachfolgern Fritz Eberhardt und Harry Pross, und inzwischen per definitionem „interdisziplinär“ , da für Journalismus und Medienmanagement zuständig  – wurde jahrelang nicht wiederbesetzt und dann in eine Junior-Professur verwandelt. Dabei war Berlin inzwischen längst Hauptstadt und wollte auch Medienstadt sein, und die FU lockte weiterhin eher Tausend- als Hundertschaften Studierender an, die sich für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft interessierten. Soviel zur „Interdisziplinarität“ der Berliner Hochschulpolitik.

Zuvor waren bereits zwei Versuche, Ökonomen als wissenschaftliche Mitarbeiter einzustellen, um sie für Forschungsarbeit an einer Ökonomik des Journalismus zu gewinnen,  grandios gescheitert. Die jungen Leute nahmen zwar dankbar den Job an und verstanden es als Dozenten immerhin,  Journalisten für Ökonomie zu interessieren. Aber in ihrer eigenen wissenschaftlichen Arbeit ließen sie sich nicht auf die vereinbarte Vorgabe ein, an einer Ökonomik des Journalismus mitzuarbeiten.

Das Vorhaben, selbst nicht nur interdisziplinär zu lehren, sondern auch zu forschen, gelangte dann erst Jahre später über allererste Ansätze (Russ-Mohl 1997) hinaus. Die wissenschaftlichen Mitstreiterinnen, die sich auf das Abenteuer der Interdisziplinarität  wirklich einließen, waren „Eigengewächse“. Zusammen mit den beiden FU-Absolventinnen Susanne Fengler und Andrea Höhne ist es unter günstigeren Arbeitsbedingungen an der Università della Svizzera italiana in Lugano sukzessive gelungen, eine „Ökonomik des Journalismus“ zu entwickeln. Basierend auf den Denkmodellen der Ökonomie – speziell unter Bezug auf deren wohl „interdisziplinärste“ Ableger, der politischen Ökonomie/Institutionenökonomik und der  Verhaltensökonomie, entstand ein für die Journalistik innovativer Theorieansatz (Fengler/Russ-Mohl 2005, 2008, 2008a; Höhne/Russ-Mohl 2004, 2004a, 2005). Er hilft, Entwicklungen im Journalismus sowie redaktionelle Entscheidungsprozesse besser zu verstehen, als das zuvor mit den im Fach üblichen systemtheoretischen, struktur-funktionalistischen und konstruktivistischen Ansätzen gelungen war.

Das hat uns nicht nur Freude bereitet und Freunde eingebracht: Auf kommunikationswissenschaftlichen Kongressen wurden wir mehrfach als „neoliberal“ verschubladisiert (wohl, weil für Nicht-Ökonomen alles Ökonomische „neoliberal“ ist) – und manchmal auch von Fachkollegen angegiftet, die ihre eigenen Paradigmen attackiert sahen und offenbar um ihr Lebenswerk fürchteten. Kaum vorstellbar: Koryphäen der Kommunikationswissenschaft engagierten sich im Fußnotenkleinkrieg. Und natürlich war es nahezu unmöglich, für solche Forschungsarbeiten Geld von den etablierten Forschungsförderungs-Institutionen zu bekommen. Im Begutachtungsverfahren genügt ja inzwischen meist schon ein anonymer Heckenschütze als Peer Reviewer, um ein Projekt abzuschießen.

Schon innerhalb des eigenen Fachs ist es zum zeitaufwendigen und undankbaren Lotteriespiel geworden, Forschungsanträge zu stellen. Sie in alle Himmelsrichtungen im Blick auf denkbare Gutachter abzusichern, ist weitaus wichtiger, als provokative, neue Forschungsfragen zu entwickeln. Das Verfahren ist nicht unähnlich den „Briefings“ durch die hauseigenen Kommunikationsexperten, mit denen sich inzwischen Politiker oder Vorstandsvorsitzende auf eine wichtige Pressekonferenz vorbereiten. Die Sprechblasen, die danach von den Medien verbreitet werden, fallen entsprechend nichtssagend aus. Geht man das Risiko interdisziplinären Arbeitens ein, erhöhen sich die Hürden drastisch, den Gutachter-Parcours unbeschadet zu durchlaufen. Dabei wollten wir eigentlich nur eine zusätzliche Sichtweise auf den Journalismus und den Medienbetrieb etablieren. Es war uns von vornherein klar, dass wir auch im „anderen“ Fach, in der Ökonomie, Außenseiter, bleiben würden – schon weil sich keiner von uns auf deren mathematischen Formelkram oder gar auf die ökonometrischen Modelle einlassen wollte und konnte, mit denen Ökonomen ihrerseits ihr Herrschaftswissen vom Rest der Welt abschirmen.

Auch ohne diesen Zugriff kann Ökonomik allerdings sehr inspirierend sein. Von Joseph Schumpeter (1993, 7. Aufl.) bis hin zu Bruno Frey (1990, 2004) und Gebhard Kirchgässner (1991), von Anthony Downs (1967, 1972) über James T. Hamilton (2004) bis zu Dan Ariely (2008) gab und gibt es erfreulicherweise immer wieder Ökonomen, die Nicht-Ökonomen ihr Wissen zugänglich machen und damit interdisziplinäres Arbeiten ermöglichen, weil und indem sie selbst sich um Interdisziplinarität bemüht haben.

Interdisziplinarität  ist eine Herausforderung geblieben – und ein Faszinosum dazu. Hochrangige Repräsentanten des Wissenschaftsbetriebs propagieren  sie ja weiterhin zumindest in Sonntagsreden. Auch in Exzellenzinitiativen zur Wissenschaftsförderung wird sie da und dort eingefordert. Solange allerdings die meisten Forscher innerhalb ihrer Disziplingrenzen sich an bereits vorhandenen Paradigmen abarbeiten (Kuhn 1981, 5.Aufl.), wird sich im Alltag wenig ändern – es sei denn, die Forschungsförderungs-Einrichtungen setzten selbst Anreize zu vermehrtem interdisziplinären Forschen und überdächten ihre innovationshemmenden Verfahrensweisen beim Peer Review.

Der Präsident der Stanford University hat vorgemacht, wie es gehen könnte. Seine Universität fördert gezielt die disziplinübergreifende Entwicklung von Forschungsprojekten. Dann bräuchte es allerdings (nicht nur bei Exzellenzclusters, Forschungsgruppen und Graduiertenkollegs, sondern auch bei Einzelprojekten im normalen Antragsverfahren) auch noch entsprechende Begutachtungsprozesse, in denen Forscher sitzen, die selbst nachweislich interdisziplinär gearbeitet haben. Das sollte eigentlich nicht so schwer umzusetzen sein – wäre da nicht der „built-in conservatism“ in Bürokratien  und die Tendenzen zum Groupthink in Gremien, die Institutionenökonomiker, Verhaltensökonomen und Sozialpsychologen seit langem anprangern (Downs 1967). Leider sind auch Gutachter und Forschungsförderungs-Institutionen davon infiziert und hindern so Forscher immer wieder daran, noch nicht ausgelatschte Pfade zu betreten, die in die grünen – und manchmal noch grüner erscheinenden – Schrebergärten der Nachbardisziplinen und somit in die wissenschaftliche Zweisprachigkeit führen könnten.

Eine leicht modifizierte Version dieses Beitrags ist in Gegenworte, 28. Heft, Herbst 2012, der Zeitschrift der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften erschienen.

Literatur

Ariely, Dan (2008): Predictably irrational. The Hidden Forces That Shape Our Decisions, New York: Harper Collins

Buchloh, Stephan/Ruß-Mohl, Stephan (1993): Securing Quality: European and American Perspectives of Continuing Education in Journalism, Berlin: FU Berlin

Downs, Anthony (1967): Inside Bureaucracy. Boston: Little, Brown & Co

Downs, Anthony (1972): Up and down with ecology – the “issue-attention cycle”, Public Interest. 28, 38. (http://www.anthonydowns.com/upanddown.htm)

Fengler, Susanne/ Ruß-Mohl, Stephan (2005):  Der Journalist als „Homo oeconomicus“, Konstanz: UVK

Fengler, Susanne/ Russ-Mohl, Stephan (2008): The Crumbling Hidden Wall: towards an Economic Theory of Journalism, in:  Hidden Wall: Towards an Economic Theory of Journalism, in: Kyklos, Vol. 61, Nr. 4, 2008, 520-542

Fengler, Susanne/ Ruß-Mohl, Stephan (2008a): Journalists and the Information-Attention-Markets. Towards an Economic Theory of Journalism, in: Journalism Vol. 9/Nr. 6, 667–690

Frey, Bruno S. (1990): Ökonomie ist Sozialwissenschaft. Die Anwendung der Ökonomie auf neue Gebiete. München: Verlag Franz Vahlen

Hamilton, James T. (2004). All The News That’s Fit to Sell: How the Market Transforms Information Into News. Princeton, New Jersey: Princeton University Press.

Höhne, Andrea/Ruß-Mohl, Stephan (2004): Zur Ökonomik und Ethik der Kriegsberichterstattung, in: Zeitschrift für Kommunikationsökologie, Ausgabe 1, 11-23

Höhne, Andrea/Ruß-Mohl, Stephan (2004a): Zur Ökonomik von Wirtschaftsjournalismus und Corporate Communication: Finanzberichterstattung und Risiko-Kommunikation als Beispiele, in: Medienwissenschaft Schweiz, Sonderheft „Probleme der Wirtschaftskommunikation“, Nr. 2, 90-101

Höhne, Andrea/Ruß-Mohl, Stephan (2005): Der „Homo oeconomicus“ im Feuilleton. Zur Ökonomik der Kulturberichterstattung, in: Wegmann, Thomas (Hrsg.): Markt. Literarisch, Publikationen zur Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge, Band 12, Bern u.a.: Verlag Peter Lang, 229-248

Kirchgässner, Gebhard (1991): Homo oeconomicus. Tübingen: Mohr (Siebeck)

Kuhn, Thomas S. (1981, 5. Aufl.): Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, Frankfurt: Suhrkamp (Originalausgabe 1962)

Ruß-Mohl, Stephan (1997): Arrivederci Luhmann? Vorwärts zu Schumpeter! Transparenz und Selbstreflexivität: Überlegungen zum Medienjournalismus und zur PR-Arbeit von Medienunternehmen, in: Hermann Fünfgeld/Claudia Mast (Hrsg.): Massenkommunikation. Ergebnisse und Perspektiven. Gerhard Maletzke zum 75. Geburtstag, Opladen: Westdeutscher Verlag, 193-212

Ruß-Mohl, Stephan (2009): Kreative Zerstörung. Niedergang und Neuerfindung des Zeitungsjournalismus in den USA, Konstanz: UVK

Ruß-Mohl, Stephan (2012): Opfer der Medienkonvergenz? Wissenschaftskommunikation und Wissenschaftsjournalismus im Internet-Zeitalter, in: Füssel, Stephan (Hrsg.) (2012): Medienkonvergenz – transdisziplinär, hrausgegeben im Auftrag des Forschungsschwerpunkts Medienkonvergenz der Universität Mainz, Berlin: de Gruyter, 81-108

Schumpeter, Joseph A. (1993, 7. Aufl.): Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie. Tübingen: Francke.

Bildquelle: Thomas Siepmann  / pixelio.de

 

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