Mehr Kundennähe als Erfolgsrezept

5. März 2004 • Medienökonomie, Qualität & Ethik • von

Neue Zürcher Zeitung, 5. März 2004

Erkenntnis einer umfangreichen US-Studie zur Presse
Das Ganze klingt nach einem Eintrag ins «Guinness Book of World Records»: Insgesamt 37'000 Personen aus 100 verschiedenen Zeitungsmärkten in den USA hat das Readership Institute an der Northwestern University bisher befragt, um herauszufinden, wie sich der schwindelerregende Rückgang der US-Zeitungsleserschaft aufhalten oder gar in einen Zuwachs verwandeln lässt.

Die «American Journalism Review» (Dez./ Jan. 2003/04) berichtet, was die Forscher dabei herausgefunden haben. Vieles ist eher naheliegend als sensationell – und doch tut sich die Zeitungsbranche offenbar jenseits wie diesseits des Atlantiks noch immer schwer damit, die nötigen Folgerungen zu ziehen.

Mehr Farbe, mehr Info-Grafiken

Die vier Eckpfeiler, um ein Wachstum der Leserschaft zu induzieren, sind ein exzellenter Kundendienst, ein besseres inhaltliches Angebot (unter Einschluss des Anzeigenteils), stärkere Anstrengungen bei der Markenpflege und eine Veränderung der Management- und Redaktionskultur. Verbesserungen im redaktionellen Teil sollten – wohl vor allem bei den Regionalzeitungen, denn wirklich überregionale Blätter gibt es in den USA nur drei – auf noch mehr Lesernähe zielen: Der durchschnittliche Amerikaner will sich in seiner Zeitung wiederfinden. Durch noch mehr Farbe, noch mehr Info-Grafiken, noch mehr Selbstpromotion und noch mehr Leserführung soll die Zeitung attraktiver werden – offenbar auch für Leser, die sonst kaum etwas lesen.

Eher schon überraschend ist, dass sich die US-Leser längere Stücke aus der Wissenschaft und stattdessen weniger Wetterberichte wünschen (der in den meisten amerikanischen Blättern inzwischen, dem Vorbild «USA Today» folgend, über eine ganze Seite hinweg ausgebreitet wird). Aber auch weniger Storys über Kriminalität und mehr Politik wurden eingefordert – angefangen bei den Gemeindeangelegenheiten in der amerikanischen Graswurzel-Demokratie bis hin zu den Globalisierungsprozessen, die von den US- Medien wie der gesamte Bereich der Aussenpolitik und der Weltwirtschaft seit eh und je kläglich vernachlässigt werden.

Redaktoren als Ratgeber für Redaktoren

Einige Zeitungen in den USA, zum Beispiel der «Bakersfield Californian» (Auflage: 70 000 Exemplare) oder das «Atlanta Journal-Constitution» (420 000 Exemplare) haben inzwischen eigene «readership editors» berufen, die ihren Redaktionskollegen dabei helfen sollen, das zu tun, was Helmut Markwort seinen «Focus»-Redaktoren ständig predigt: immer an den Leser denken – und Texte und Illustrationen so appetitanregend aufbereiten, dass Zeitungslektüre auch für die Jüngeren das wird, was sie für die Älteren ist: ein unverzichtbares, allmorgendliches Ritual und Kult-Erlebnis.

Das Readership Institute wird vom amerikanischen Verlegerverband (Newspaper Association of America) und vom Verband der Chefredaktoren (American Society of Newspaper Editors) gesponsert. Bisher wurden 8 Millionen Dollar ausgegeben, in den nächsten beiden Jahren stehen weitere 4 Millionen zur Verfügung. In Dutzenden von Seminaren werden inzwischen die Forschungserkenntnisse landauf, landab an die Praktiker in den Redaktionen transferiert. Da die Zeitungen auch in vielen Ländern Europas notleidend sind, wäre es ja vielleicht an der Zeit, eine entsprechende europäische Initiative auf den Weg zu bringen.

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