Schwarze Schafe in medialen Grauzonen

24. März 2005 • Medienökonomie • von

Neue Zürcher Zeitung, 24. März 2005

Ökonomische Analyse journalistischen Fehlverhaltens
Gefälschte Berichte haben in jüngster Zeit der Glaubwürdigkeit der Medien geschadet. Schwarze Schafe werden zwar aus dem Informationsverkehr gezogen, doch es gibt auch eine Grauzone, wo sich Fehlverhalten auszuzahlen scheint. Im folgenden Artikel wird die Sachlage unter einem ökonomisch orientierten Blickwinkel analysiert.

Während Soziologen, Psychologen und auch Kommunikationswissenschafter nach den sozialen Ursachen individuellen Fehlverhaltens in der Gesellschaft fragen, hat der Ökonom dazu einen andern Zugang: Er versetzt sich in die Rolle desjenigen, der sich abweichend verhält, und fragt, ob und wann sich dieses Fehlverhalten lohnt. Die Wahrscheinlichkeit von Fehlverhalten wird also von den Gewinnchancen des Täters bestimmt. Wie hoch ist sein Ertrag an Aufmerksamkeits- oder Machtzuwachs als Folge des Fehlverhaltens? Kann ein materieller oder immaterieller Zugewinn erzielt werden? Mit welchen Sanktionen hat er zu rechnen, wenn er erwischt wird – und wie gross ist die Wahrscheinlichkeit, dass er ungeschoren davonkommt?

Der Entscheid eines Individuums für oder gegen Fehlverhalten lässt sich als «rationales Entscheidungskalkül unter Unsicherheit» auffassen. Unter diesem Blickwinkel wird im Folgenden der Journalismus betrachtet. Drei mögliche Ursachen journalistischen Fehlverhaltens liegen nahe: grössere Lohndifferenzen, Mangel an wirksamen innerredaktionellen Kontrollen und nur selektiv wirkende Sanktionen.

Grössere Lohndifferenzen als Ursache …

Grössere Lohndifferenzen schaffen einen höheren Anreiz zu Grenzüberschreitungen und kriminellem Verhalten. Der Ökonom Isaac Ehrlich brachte solche Überlegungen bereits 1973 ins Spiel. Von den Medien werden sie indes verständlicherweise, zumindest was den Journalismus anbelangt, tabuisiert. Dabei ist die Kluft zwischen den Stargagen der journalistischen TV-Prominenz und dem Fussvolk, das von mickrigen Zeilenhonoraren leben muss, astronomisch gross. Insbesondere ist für freie Journalisten der Druck gestiegen, sich zusätzliche Einkommensquellen zu erschliessen – und damit auch die Versuchung, den Journalistenausweis, Beziehungen und andere berufsbedingte Privilegien zu missbrauchen, um sich geldwerte Vorteile zu verschaffen und sich gegebenenfalls auch auf «kreative» Weise Recherchen zu finanzieren.

Das Ausnutzen von Insiderinformationen durch manchen Finanzjournalisten zeugt ebenso wie der schwunghafte Handel einiger Kulturjournalisten mit Rezensionsexemplaren bei Ebay davon, wie Grauzonen entstehen, in denen Normverletzungen zum Normalfall zu werden drohen. Ökonomisch betrachtet, werden Journalisten, die kein gesichertes Einkommen haben, leichter korrumpierbar, vor allem dann, wenn für sie kaum Gefahr besteht, dass rechtliche oder ethische Verstösse entdeckt und geahndet werden.

… Mangel an wirksamen Kontrollen …

Diese Gefahr ist in der Tat nicht sehr gross – wie wir inzwischen aus einer ganzen Serie von Fälschungsskandalen wissen, in die auch hochangesehene Medien involviert waren. Vor allem im tagesaktuellen Journalismus herrscht aufgrund des Zeit- und Konkurrenzdrucks Mangel an wirksamen innerredaktionellen Kontrollen. Sie wären mit zusätzlichen Kosten, das heisst Zeit- und Arbeitsaufwand für die ohnehin meist unterbesetzten Redaktionen verbunden. Es gilt daher unter Berufskollegen weithin das Prinzip Vertrauen – ein Aspekt, der bei jeder ökonomischen Tauschbeziehung mit im Spiel ist und der besonders wichtig ist, weil er bei Tauschgeschäften die Transaktionskosten reduziert. Doch gerade diese Vertrauensbasis ist bei genauerem Hinsehen im Journalismus löchrig geworden wie ein Emmentalerkäse.

Plumpe Fälschungen sind allerdings nur die Spitze des Eisbergs. Die Hauptprobleme sind vielmehr der Gefälligkeitsjournalismus und die verdeckte PR-Arbeit auf Seiten der Journalisten sowie umgekehrt deren – von den Journalisten selbst oftmals unbemerkte oder verdrängte – Instrumentalisierung durch PR-Leute.

Zum Aufbau einer Vertrauensbeziehung setzen Firmen und PR-Leute gerne Aufmerksamkeiten und kleine Geschenke ein, mitunter auch grosszügige Reiseeinladungen und Rabatte (siehe www.journalistenrabatte.de). Und so kommt es immer wieder zu Überschreitungen im «kleinen Grenzverkehr», die zwar keinen handfest-strafbaren Bestechungstatbestand und auch keine plumpen Fälschungen darstellen, aber doch die journalistische Unabhängigkeit untergraben können. Sie breiten sich schleichend aus wie Infektionskrankheiten. Aus einer Vielzahl einzelner ungeahndeter Grenzverletzungen entsteht allmählich «Gewohnheitsrecht» – und gerade durch die ständige Wiederholung wird die Glaubwürdigkeit des Journalismus langfristig unterminiert.

Ein Grossteil der Journalistenskandale aus jüngerer Zeit wurde begünstigt durch lasche oder fehlende innerredaktionelle Kontrollen und durch Vorgesetzte, die gerade solchen Nachwuchskräften, die es mit der Wahrheit beziehungsweise mit der journalistischen Sorgfalt nicht so genau nahmen, die Chance gewährten, mit ihren Beiträgen im Blatt «ganz gross» herauszukommen. In Einzelfällen haben freilich auch altgediente, erfahrene Journalisten das Vertrauen ihrer Chefs, Kollegen und ihrer Publika heftig missbraucht.

… und nur selektiv wirkende Sanktionen

Im Rückblick auf einzelne Skandale sind nur selektiv wirkende Sanktionen zu beobachten. Jedenfalls grenzt der Journalismus bloss einen kleinen Teil seiner schwarzen Schafe wirksam aus. Fälschende Serientäter wie Michael Born, Tom Kummer und Jayson Blair werden zwar aus dem Verkehr gezogen. Dennoch verhilft ihr besonders markantes Fehlverhalten zu Aufmerksamkeit und Prominenz, die sich mitunter medial vermarkten lassen. So sind Born und Blair, nachdem sie als Protagonisten von Medienskandalen hohen Bekanntheitsgrad erreicht hatten, als Buchautoren in Erscheinung getreten.

Auch Tom Kummer hat beträchtliche Qualitäten als Stehaufmann. Denn bevor er den Magazinen der «Süddeutschen Zeitung» und des «Tages- Anzeigers» seine gefälschten Interviews mit Hollywood-Stars untergejubelt hatte, hatten ihm andere Redaktionen bereits mehrfach die Mitarbeit aufgekündigt. Seit dem letzten Jahr versuchte er als freier Mitarbeiter der «Berliner Zeitung» und als Kolumnist der ostdeutschen Zeitschrift «Das Magazin» ein Comeback. Auch als Autor einer Titelgeschichte des Medienmagazins «Cover» über – bezeichnenderweise – «Realitätsverlust» meldete er sich zurück. Seine zweite Chance dürfte er inzwischen verspielt haben. Die «Berliner Zeitung» kündigte die Zusammenarbeit mit ihm, als sich erwies, dass seine Reportage in der Ausgabe vom 29. 1. 05 teilweise Wort für Wort das Remake einer Story war, die bereits 1999 im «SZ-Magazin» erschienen war.

Kummer selbst sieht das Vorgehen gegen sich eher als Bauernopfer und glaubt, von der Branche mit einer Art Berufsverbot belegt worden zu sein – und hat damit nicht ganz Unrecht. Denn mitschuldig an seinem ersten grossen Medienskandal waren fraglos Andreas Lebert sowie Christian Kämmerling und Ulf Poschardt, drei frühere Chefredaktoren des «SZ»-Magazins, und ebenso der Redaktionschef des «Tages-Anzeiger-Magazins» (der jetzige «Welt»-Chefredaktor Roger Köppel), mit denen Kummer, zum Teil zeitlich nacheinander, zusammengearbeitet hat. Sie hatten lange nichts gegen seine «fakes» unternommen – trotz deutlichen und wiederholten Hinweisen auf fragwürdige Arbeitstechniken, einschliesslich einer eigenen Buchveröffentlichung, in der Kummer 1997, also lange vor seinem Auffliegen, diese recht klar beschreibt. Die «exklusiven» Hollywood-Interviews waren zum Markenzeichen ihrer Magazine geworden, und die Chefs schmückten sich gern damit.

Ein doppelter Skandal

Der eigentliche Skandal ist somit ein doppelt anderer: Zum einen kümmert sich niemand so recht um die Grauzone zwischen den handfesten Fälschern und dem seriösen Journalismus, in der tagtäglich viel einträglichere und weniger risikobehaftete Tauschgeschäfte abgewickelt werden. Zum anderen erleiden diejenigen, die in der Chefetage keine hinreichenden Vorkehren gegen Fälschungen und Fehlverhalten treffen und dieses – mitunter sogar aus Eigeninteresse – tolerieren, begünstigen und gelegentlich sogar einfordern, keine nachhaltigen Sanktionen.

Als Muster zeichnet sich also – in Übereinstimmung mit dem wohlverstandenen Eigeninteresse der Zunftangehörigen des Journalismus, nicht unbedingt aber im Interesse der Publika und der journalistischen Glaubwürdigkeit – folgendes Verhalten ab: Bei schwersten Verstössen gegen journalistische Standards, insbesondere bei Fälschungen, werden ertappte Täter «sichtbar» aus dem Verkehr gezogen. Beim mangelnden innerredaktionellen Qualitätsmanagement ändert sich jedoch nichts, die diesbezüglichen Probleme werden vom Medienjournalismus eher unter den Teppich gekehrt – und auch gegenüber den eigentlich Verantwortlichen für die gravierenden Qualitätsmängel lässt man Milde walten: Sie mögen mitunter temporär ihre Chefposten verlieren, tauchen aber meist recht schnell andernorts erneut in Führungspositionen des Metiers wieder aus der Versenkung auf. «Editors in chief never go to court» – Chefredaktoren landen nie vor Gericht -, sagte der Medienredaktor der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung», Michael Hanfeld, dieser Tage an einem Workshop in Lugano.

Kein Karriereknick

Manche Chefs mit Skandalverantwortung konnten sogar ungebremst weiter Karriere machen: So hat Günter Jauch seine redaktionelle Verantwortung für die Fälschungen Michael Borns bei «Stern-TV» kaum geschadet, und der Gruner-und-Jahr-Vorstandschef Gerd Schulte- Hillen blieb in Amt und Würden, obschon sich das Verlagsmanagement massiv in die Geschäfte der «Stern»-Chefredaktion eingemischt und den Ankauf der Hitler-Tagebücher forciert hatte. Im Extremfall macht im Medienbetrieb sogar der Täter selbst steil Karriere: Als Udo Röbel in den achtziger Jahren die Gladbecker Geiselgangster am Polizeikordon vorbei höchstpersönlich aus der Kölner Innenstadt lotste, hatte der «Express»- Reporter für sein Boulevardblatt eine Exklusivstory, die unter höchst dubiosen Begleitumständen entstanden war. Röbels Einsatz wirkte gleichwohl als Karrierebeschleuniger. Es ist kaum vorstellbar, dass er den anschliessenden Sprung an die Spitze der «Bild»-Zeitung ohne dieses Vorspiel geschafft hätte. Röbels Fall ist allerdings insofern ganz anders gelagert, als er ja nicht gegen die journalistische Grundnorm der Wahrhaftigkeit der Berichterstattung verstiess, sondern sich einer fragwürdigen Recherchetechnik bediente.

Der Umgang mit journalistischem Fehlverhalten lässt also insgesamt zu wünschen übrig. Zum einen, weil die Chefetage oftmals von Sanktionen weitgehend verschont bleibt. Zum anderen, weil sich ein konsequentes Qualitäts- und damit eben auch Fehlermanagement in deutschsprachigen Redaktionen bisher nicht durchgesetzt hat.

Toleranz in den Grauzonen

Fazit: Ethische Standards im Journalismus lassen sich – aus ökonomischer Sicht – am ehesten da durchsetzen und einhalten, wo sie sich rechnen. Die bestehenden Anreizsysteme und die laschen Kontrollen stützen nicht nachhaltig regelkonformes Verhalten von Journalistinnen und Journalisten. Nicht krasse Fälschungen, wohl aber Grenzüberschreitungen in der skizzierten Grauzone werden öfter durch Aussicht auf Auflagenzuwachs, hohe Einschaltquoten und somit durch «Aufmerksamkeitsdividenden» belohnt statt bestraft; nicht zuletzt deshalb finden sie häufig statt.

Tom Kummer dagegen dürfte bis auf weiteres im deutschsprachigen Journalismus ausgedient haben. Sein Spiel mit journalistischen Wirklichkeiten, das er im Fachblatt «Cover» noch einmal recht präzise beschrieb, ist aus – weil es kein Journalismus ist. Als schwarzem Schaf der Branche haftet Kummer freilich etwas Tragikomisches an. Er schaffte es, weit über Gebühr Aufmerksamkeit auf sich zu lenken – zuletzt auch mit einem ziemlich bösen Porträt, das der «Spiegel» ihm widmete. Aber richtig lohnend waren und sind Kummers Geschäfte nicht – die grossen Aufmerksamkeitsdividenden kassierten immer andere. «Vertreibung aus dem Paradies» war einer der letzten Artikel betitelt, die er für die «Berliner Zeitung» schreiben durfte. Phantasiebegabt und schreibtalentiert, wie er ist, wird er vielleicht als Fiction- Autor in ein anderes Paradies zurückfinden.

 

Susanne Fengler, Stephan Russ-Mohl: Der Journalist als «Homo oeconomicus». Verlag UVK, 224 S., Fr. 49.80.

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