Der Leser – das bekannte Wesen

3. September 2010 • Ressorts • von

Erstveröffentlichung: Weltwoche Nr. 33/2010

Die Boulevardisierung der Medien nehme zu, sagt eine neue Studie. Ja, was denn sonst?

Die Diagnose ist eher banal. Die Medien, speziell die Zeitungen, gehen Richtung Boulevard. Die Qualität der Medien sinkt deswegen. Hauptursache sind die Gratisangebote. So hielt es der Zürcher Soziologe Kurt Imhof letzte Woche in seiner Studie fest.

Die Diagnose ist eher banal, aber korrekt. Natürlich ist der Boulevard in den Medien auf dem Vormarsch, wenn man ihn, wie Imhof, thematisch definiert. Natürlich ersetzen populistische Emotionen zunehmend den distanzierten Hintergrund. Natürlich ersetzen flockige People-Storys zunehmend die nüchterne Sachanalyse.

Die Diagnose ist korrekt. Das weiß jeder, der auch nur ein bisschen mit den Medien zu schaffen hat. Wir haben darum laut herausgelacht, als wir die Kommentare der Journalisten zur Studie lasen. Imhofs Thesen seien «unbegründet», lasen wir im Tages-Anzeiger. Imhofs Thesen seien «schwer zu beweisen», lasen wir in der NZZ. Imhofs Thesen seien «Stuss», lasen wir in der Sonntagszeitung.

Wir haben laut herausgelacht. Die reflexartige Selbstverteidigung der Medien kam uns vor, wie wenn die Discounter behaupten würden, sie seien niemals billiger.

Die Reaktion auf Imhofs Thesen bewies ironischerweise, wie richtig Imhof mit seinen Thesen liegt. Statt zurückzulehnen und sachorientiert das Gesagte zu reflektieren, feuerten die Journalisten reflexartig aus der Hüfte. Nirgendwo haben wir auch nur eine halbwegs durchdachte Analyse gelesen, warum sich der Trend zum Boulevard in den Medien akzentuiert.

Natürlich hat der Trend stark mit der Gratiskultur zu tun. Seit journalistische Inhalte im Netz gratis zu finden sind, ist eine jahrhundertealte Debatte in der Presse beendet mit Folgen, die man durchaus Boulevardisierung nennen kann.

Bis ums Jahr 2000 wussten Zeitungsleute nicht genau, was ihre Leser interessiert und was nicht. Das wussten, dank der Einschaltquoten, nur die TV-Journalisten. Auf Zeitungsredaktionen kam es darum regelmäßig zu epischen Debatten, ob nun das Liebesleben von Marcel Ospel oder die Bilanzsumme seiner Bank die Leser heftiger beschäftige.

Seit Medieninhalte im Netz gratis zu konsumieren sind, ist diese Frage keine Frage mehr. Von tagesanzeiger.ch bis nzz.ch gibt es die Liste der meistgelesenen Beiträge. Für Journalisten ist damit im Stundentakt einsehbar, was das Publikum liebt und was nicht. Der Erfolg von Journalismus ist messbar geworden. Oben auf der Hitliste stehen Sex, Crime, Prominente und Affären. Das Entwicklungszusammenarbeits-Projekt und die Gleichstellungsgesetzgebung interessieren hingegen kein Schwein.

Auf manchen Redaktionen steuern inzwischen die Klickraten der Online-Auftritte die Selektion und die Gewichtung der gedruckten und gesendeten Themen mit. Es fällt keinem Chefredaktor mehr ein, eine Story auf Seite eins oder in die TV-News zu heben, die Stunden zuvor im Netz auf gähnendes Desinteresse stieß. Besonders ausgeprägt ist diese Kultur der Einschaltquoten bei den Gratiszeitungen. Sie verweben geschickt die Publikumsresonanz ihrer Print- und Netzauftritte. Imhof hat darum völlig recht, dass Gratisinhalte, online wie offline, die Themensetzung der Medien verändert und popularisiert haben.

Imhofs Diagnose der wachsenden Boulevardisierung ist dennoch kein kulturpessimistisches Fanal, wie dies dem Autor vorschwebte. Es ist eher ein Kompliment an unsere Medien. Es sagt, dass unsere Journalisten gelernt haben, die Inhalte konsequenter an den Interessen ihres Publikums zu orientieren. Sie können dies, weil sie nun die technischen Messinstrumente dafür haben

Rätselhaft bleibt nur, warum die Journalisten ihre Fortschritte heftig bestreiten.

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