Desinformation als kollateraler Schaden

30. Dezember 2005 • Ressorts • von

Neue Zürcher Zeitung, 30. Dezember 2005

Konjunktur und Krise der Börsenberichterstattung
Umfang und Vielfalt der Börsen- und Finanzberichterstattung sind ähnlich konjunkturabhängig wie ihr Objekt. Darüber hinaus lassen sich Wirtschaftsjournalisten in ihren Berichten stärker von ökonomischen Anreizen leiten, als ihnen – und ihren Publika – bewusst sein dürfte, wie Andrea Höhne und Stephan Russ-Mohl vom Europäischen Journalismus-Observatorium in Lugano schreiben.

Wie der Börsenboom selbst bescherte vor der Jahrtausendwende auch die Hochkonjunktur der Wirtschafts- und Börsentitel den Medienunternehmern und -managern reiche Gewinne. Für Wirtschafts- und Finanzjournalisten und solche, die es als Seiteneinsteiger werden wollten, gab es satte Gehaltssteigerungen und einmalige Karrieresprünge. Nachdem die Spekulationsblase geplatzt war, breitete sich im Finanz- und Börsenjournalismus Katerstimmung aus. Auch in der Schweiz sind Wirtschaftstitel gegenüber ihren Höchstauflagen zur Jahrtausendwende stark von Rückgängen betroffen. So hat die «Bilanz» seit der Jahrtausendwende 36 Prozent, die «Finanz und Wirtschaft» 28 Prozent sowie «Cash» und «Handelszeitung» je 16 Prozent ihrer Auflage eingebüsst. Inzwischen scheint sich die Lage auf deutlich niedrigerem Niveau zu stabilisieren.

Stabilisierung auf tieferem Niveau

In Deutschland machte sich der rückläufige Trend früher und noch heftiger bemerkbar; einige der neu gegründeten Zeitschriften – etwa «Telebörse» und «Aktien-Research», aber auch breiter angelegte Titel wie «bizz» und «Econy» – mussten eingestellt werden. Holtzbrinck verkaufte sein Wirtschaftsmagazin «Euro» an Springer, wo der Titel mit der Zeitschrift «Finanzen» fusioniert wurde. Die Situation stabilisierte sich auch bei den Wirtschafts- und Börsenmagazinen inzwischen auf niedrigem Niveau – Auflagenzuwächse und -verluste schwanken gegenüber dem Vorjahr zwischen 1 und 5 Prozent und halten sich insgesamt die Waage, mit Ausnahme des «Manager- Magazins», das seine Auflage kräftig um etwa 9 Prozent steigerte. Während das «Handelsblatt» bei 143 000 Exemplaren Verkaufsauflage stagniert, konnte sich die «Financial Times Deutschland» nochmals um 5 Prozent auf über 101 000 Exemplare verbessern.

Die vehementen Konjunkturschwankungen taten dem Wirtschaftsjournalismus nicht gut. Erst war der Arbeitsmarkt leer gefegt; viele schlecht oder gar nicht journalistisch ausgebildete Bewerber bekamen mit Handkuss eine Redaktionsstelle. Inzwischen bleiben auch talentierte und einschlägig spezialisierte Nachwuchsjournalisten draussen vor der Tür.

Neue Akteure

Im Börsen- und Finanzsektor hat sich die Kommunikation zugleich strukturell stark verändert. Als neue Akteure betraten Finanzanalytiker und Experten für Investor-Relations (IR) die Bühne. Erstere sind für Banken, Broker-Häuser und institutionelle Anleger tätig, Letztere reden börsenorientierte Unternehmen und solche, die es werden wollen, professionell «schön». Die neuen Akteure kümmern sich insbesondere um die Investoren, nehmen aber auch mit Macht auf den Finanz- und Wirtschaftsjournalismus Einfluss.

Dies alles dürfte den Braindrain, den es seit Jahrzehnten zwischen Wirtschaftsjournalismus und Public Relations (PR) gibt, noch verschärft haben. Er lässt Wirtschaftsjournalisten in die Unternehmenskommunikation abwandern. Diese verästelt sich ihrerseits in traditionelle Pressearbeit und PR, in IR und ebenfalls vermehrt in organisationsinterne Kommunikation. Die Differenzierung des Systems Wirtschaftskommunikation, vor allem die Lohnunterschiede, wirken direkt auf die Nachwuchsrekrutierung zurück. Jobs in der Unternehmenskommunikation sind heute vielfach begehrter als jene im Journalismus.

Börsentipps von dubiosem Nutzwert

Welche weiteren Folgen zeitigen diese Strukturveränderungen für den Wirtschaftsjournalismus? Nahezu alle Medien erweiterten in den Boomjahren ihre Finanz- und Börsenberichterstattung stark; die herkömmliche Berichterstattung über die grossen volkswirtschaftlichen Themen wie Inflation und Arbeitslosigkeit verlor demgegenüber relativ an Bedeutung. Im deutschen Fernsehen wurde die Wirtschaftsberichterstattung besonders stark auf das Börsengeschehen reduziert. Und die Berichte über die Finanzmärkte werden so vereinfachend präsentiert, dass sie an die Ziehung der Lottozahlen erinnern – nur, dass statt der Lottofee der Börsenonkel in Erscheinung tritt.

Viele Medien – vor allem Pressetitel, darunter auch angesehene Blätter wie die «Frankfurter Allgemeine Zeitung» – offerieren weiterhin Börsentipps, obschon wissenschaftlich nachgewiesen ist, dass diese wenig taugen – etwa durch Studien, die an den Universitäten in Essen und Leipzig erstellt wurden.[1] Die seriöseren Blätter verzichten zwar meist auf eigene Empfehlungen, geben aber Analytikern redaktionellen Raum oder verbreiten deren PR-Meldungen. Wirtschaftsjournalisten gehen dabei recht fahrlässig mit den Tipps der Finanzanalytiker um. Meist werden sie so zitiert, dass für das Publikum Interessenkonstellationen und -konflikte undurchschaubar bleiben. Häufig – so monierte der «Medien-Tenor» wiederholt – bleiben Analytiker gänzlich anonym. Auch bei Nennung der Bank oder des Brokerhauses bleibt für den Durchschnittsleser unklar, welche Eigeninteressen der Analytiker oder ihrer Arbeitgeber möglicherweise die Empfehlung prägen.

Verdächtig ist jedenfalls, dass die Zahl der Kaufempfehlungen meist die der Verkaufsempfehlungen deutlich überwiegt. Für den Anleger wäre dagegen wegen der hohen Transaktionskosten häufig der richtige Entscheid, gar nichts zu tun – aber dieser Rat ist weder «sexy», wenn man ein Wirtschafts- und Börsenmagazin verkaufen will, noch können Analytiker und ihre Arbeitgeber damit Geld verdienen. Für Anleger wäre ein Gesamtbild aktueller Einschätzungen eines Wertpapiers durch Analytiker hilfreicher als einzelne Empfehlungen. Doch das wäre für die Journalisten mit Rechercheaufwand verbunden – ebenso wie die gelegentliche Rückschau, welche Empfehlungen welcher Analytiker etwas taugten.

Die ökonomische Interpretation: Finanzjournalisten reagieren – fast schon wider besseres Wissen – häufig auf eine Nachfrage nach Börsentipps, indem sie gratis angeliefertes PR-Material nutzen. So lassen sich zu geringen Kosten Seiten füllen, und es entsteht ein zweifelhafter Nutzwert für die Publika. Zugleich wird die Verantwortung für schlechte Tipps auf Dritte abgewälzt – die Analytiker.

Mediale Gedächtnislosigkeit

Was die «American Journalism Review» der US-Wirtschaftspresse bescheinigt (NZZ vom 25. 4. 03), lässt sich auf die europäischen Gegebenheiten übertragen: Viele Medien haben mit ihrer Berichterstattung den Börsenboom eher verstärkt, als dass sie frühzeitig vor Übertreibungen und vor allem vor unseriösen Bilanzierungspraktiken gewarnt hätten. Wenn Grossunternehmen wie die Swissair, Ahold oder Parmalat und deren Rechnungsprüfer die Öffentlichkeit nicht von sich aus zutreffend über ihre wirtschaftliche Lage unterrichten, haben Wirtschaftsredaktionen kaum eine Chance, dies aufzudecken und ihrer Rolle als Wachhund gerecht zu werden.

Die Rund-um-die-Uhr-Berichterstattung im Internet und in den TV-Nachrichtensendern setzt auch Pressejournalisten unter zunehmenden Zeitdruck. Auch im Finanz- und Börsenjournalismus gilt: Die überstarke Akzentuierung, die Sensationalisierung von Nachrichten verheisst Journalisten und Medienunternehmen mehr Auflage, mehr Quote und damit gute Geschäfte. Dabei wird von vielen Medien die Desinformation des Publikums in Kauf genommen.

Die meisten Journalismusforscher und auch die Journalisten machen für unzureichende Recherchen schlechte Arbeitsbedingungen verantwortlich. Ökonomisch lässt sich dies als Ergebnis einer nüchternen Abwägung von Rechercheaufwand und -nutzen durch die Journalisten erklären, wobei auch Bequemlichkeit eine Rolle spielen kann. Rechercheökonomie ist zwar im Journalismus unerlässlich, aber sie verleitet oft an der falschen Stelle zum Verzicht auf Recherchen. Dieser wird begünstigt durch die Gewichtsverlagerungen zwischen PR und Journalismus.

Zunehmende Abhängigkeit von PR

Ein nicht brandaktuelles, dafür aber besonders instruktives Beispiel: Laut dem «Spiegel» versprach der Börsengang des Siliziumproduzenten Siltronic ein Hit zu werden. «Ausserordentlich grosses Interesse» fänden die vorbörslich angebotenen Aktien, so das Nachrichtenmagazin, das sich dabei auf einen «Beobachter der Branche» berief. Auf einer Roadshow vor institutionellen Anlegern seien «alle grossen Nummern der Investmentbranche» dabei. Tage später platzte dieser Börsengang, und die «Spiegel»-Story wäre vermutlich bereits vergessen gewesen, hätte sie nicht die «Welt am Sonntag» hervorgekramt.

Vermutlich ist das Hamburger Magazin einem IR-Experten auf den Leim gegangen, der sich als Spin-Doctor betätigte. Das ist kein Einzelfall, sondern ein strukturelles Problem: Der Wirtschaftsjournalismus ist – wie der Journalismus insgesamt – längst von PR-Zulieferungen abhängig. Die Hochrüstung der Abteilungen für Unternehmenskommunikation hat während der letzten zwanzig Jahre sehr wahrscheinlich sogar den Rückbau der Redaktionen und damit die Abrüstung journalistischer Recherchekapazität mit ausgelöst. Wo in der Konkurrenz um knappe öffentliche Aufmerksamkeit immer mehr Gratisinformation in die Redaktionen geschwemmt wird, muss es für jeden Medienmanager, der das Rechnen nicht verlernt hat, naheliegen, redaktionelle Kapazität einzusparen. Der Trend könnte sich verschärfen, falls immer mehr Unternehmen dem Tipp der US-Bestsellerautoren Al und Laura Ries folgen[2] und ihre Budgets umschichten. Wenn sie mehr Geld für PR und weniger für Werbung ausgeben, entziehen sie zugleich den Redaktionen Ressourcen.

Wären Journalisten wirklich die Anwälte ihrer Leser und dem Allgemeinwohl verpflichtet, würden sie diese Abhängigkeiten offenlegen. Dass sie dies nicht tun, hat mit ihren Eigeninteressen zu tun. Niemand sägt am Ast, auf dem er sitzt. Erkennbare Abhängigkeit von PR-Zulieferungen und Werbeeinkünften oder gar das Eingeständnis fehlender Sachkompetenz würden den Marktwert der Medienprodukte schmälern.

Zunehmende Personalisierung

KISS – Keep it short and simple – ist eine der Zauberformeln, mit denen Journalisten im massenattraktiven Segment des Medienmarkts Publika um sich scharen. Ein Ergebnis dieser Taktik ist die zunehmende Personalisierung der Wirtschaftskommunikation. Vor zwanzig oder dreissig Jahren wäre es kaum denkbar gewesen, dass ein biederes Regionalblatt einen Konzernchef auf Seite eins zum Thema macht – es sei denn, er hätte seine Sekretärin vergewaltigt oder ein paar Millionen an Firmengeldern veruntreut.

Wie aber wirkt Personalisierung? Wenn Konzerne wie ABB, Novartis oder DaimlerChrysler medial fast ausschliesslich über ihre jeweiligen Unternehmensleiter wahrgenommen werden, wird damit zwangsläufig eine hochkomplexe Unternehmenswirklichkeit verzerrt. Und weil die Persönlichkeit an der Unternehmensspitze immer stärker das öffentliche Bild vom Unternehmen prägt, ist das Kommunikationstalent zwangsläufig zum wichtigen Auswahlkriterium bei der Besetzung von Spitzenpositionen geworden – womöglich auf Kosten fachlicher Kompetenz.

Es fällt nicht schwer, die ökonomischen Anreize für übersteigerte Personalisierung im Wirtschaftsjournalismus zu identifizieren: Personalisierung gilt heute als Erfolgsrezept, um Komplexität zu reduzieren. Natürlich lassen sich so eher Auflage und Quote steigern als mit dem Versuch, strukturelle Zusammenhänge zu erklären. Obendrein erleichtert Personalisierung dem einzelnen Journalisten die Arbeit.

Zusammenfassend lassen sich gravierende Mängel der Finanz- und Börsenberichterstattung offenbar darauf zurückführen, dass Eigeninteressen der Journalisten und der Medienbetriebe nicht hinreichend transparent sind. Die Publika erfahren wenig über die Bedingungen der Berichterstattung. Viele Wirtschaftsredaktionen bauten ihre Recherchekapazität stark ab. Sie sind stärker als andere Ressorts von PR-Zulieferungen abhängig und arbeiten in einem Bereich, in dem Pressematerial besonders umfangreich und professionell aufbereitet wird.

[1] Andreas Kladroba / Peter von der Lippe: Die Qualität von Aktienempfehlungen in Publikumszeitschriften. Diskussionsbeiträge aus dem FB Wirtschaftswissenschaften der Universität Essen Nr. 117 (MS), 2001.

Andreas Kladroba: Die Qualität von Aktienempfehlungen in Publikumszeitschriften. Teil 2. Diskussionsbeiträge aus dem FB Wirtschaftswissenschaften der Universität Essen Nr. 123 (MS), 2002. http://www.uni-essen.de/fb5/pdf/123.pdf.

Thomas Schuster: Fifty-Fifty. Aktienempfehlungen und Börsenentwicklung. Wirkungen und Nutzen von Anlagetipps in den Wirtschaftsmedien. Institut für Kommunikations- und Medienwissenschaft der Universität Leipzig. http://www.tom-schuster.de/Empfehlung.pdf.

[2] Al Ries / Laura Ries: The Fall of Advertising and the Rise of PR. HarperBusiness Paperback, New York 2004.

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