Ist Qualität ohne Kritik möglich? – Beispiel Estland

30. April 2024 • Aktuelle Beiträge, Internationales • von

Estland ist seit 1991 unabhängig von der Sowjetunion. Mit der Unabhängigkeit bekam auch die Pressefreiheit in Estland einen neuen Stellenwert. Eine erneute Zensur soll unter allen Umständen verhindert werden. Auf der Rangliste der Pressefreiheit 2023 ist Estland auf dem achten Platz von insgesamt 180. Doch die Geschichte zeigt, dass die Angst vor einer erneuten Zensur die kritische Reflexion gegenüber Journalist:innen und Medienhäusern stark einschränkt. Urmas Loit, Epp Lauk und Halliki Harro-Loit haben sich mit dem Thema der Verantwortlichkeit von Medien in Estland beschäftigt.

Bildquelle: Nikola Johnny Mirkovic/ Unsplash

Zwischen 1989 und 1991 gab es in Estland eine öffentliche Diskussion über den Entwurf von Mediengesetzen. Diese Diskussion brachte die Idee eines sich selbstregulierenden Mechanismus auf. Das Ergebnis war die Adaption der finnischen Version des Presserats, sodass 1991 der erste Presserat in Estland (EPC) gegründet wurde. Die Gründung geschah unter dem Dach des Verlagsverbandes Eesti Ajalehtede Liit (Estonian Newspaper Association – ENA). In den ersten sechs Jahren nach der Gründung bearbeitete der EPC mehr als 100 Fälle und entwickelte einen Satz an fallbasierten Richtlinien über die Berichterstattung bestimmter Themen. Auf diesen Richtlinien basiert auch der Verhaltenskodex der Medien von 1997.

Um die Unparteilichkeit des Presserats beizubehalten, wurde der EPC 1997 in eine Non-Profit-Organisation umstrukturiert. Mit der wachsenden Konkurrenz auf dem Markt, ergab sich aber auch eine Spannung bei der Frage, wofür der Presserat genau zuständig sein soll. Ist der Presserat der Beschützer der Pressefreiheit oder ist seine Hauptfunktion der Schutz des Rechts der freien Meinungsäußerung des Einzelnen? Soll sich der Presserat bemühen einen Dialog zwischen der Öffentlichkeit und den Medien über die Qualität des Journalismus zu schaffen oder soll er ausschließlich mit den Beschwerden arbeiten?

Widerstand gegen den EPC

Durch die Neuorganisation war es dem Presserat möglich, eine Weile als einzige medienkritische Institution zu arbeiten. Dies geschah unter anderem, indem er verschiedene ethische Probleme ausarbeitete. Der kritische Kurs des EPCs wurde jedoch von immer mehr Geschäftsführer:innen der Medien abgelehnt und der generelle Widerstand nahm stark zu. Das wurde z. B. dadurch deutlich, dass viele Zeitungen die Pflicht, die Beurteilungen des Presserats zu veröffentlichen, ignorierten. Das Ergebnis des Konflikts zwischen dem EPC und der ENA war die Beendigung der Mitgliedschaft im Presserat durch die ENA. Die privaten und öffentlichen Sender folgten kurze Zeit später.

Die ENA gründete 2002 einen anderen Presserat, der mit Beschwerden gegen die Veröffentlichungen der Mitglieder umgehen soll. Auf Anweisung der ENA sollte keines der Medien, die mit dem ENA-Presserat verbunden sind, Beurteilungen des EPCs veröffentlichen. Die ENA-Zeitungen wiesen die Öffentlichkeit zusätzlich dazu an, Beschwerden an den ENA-Presserat zu schicken und den EPC nicht nach einer zweiten Meinung zu fragen. Auf Anfrage des EPCs, gaben die Zeitungen an, dass sie nur den ENA-Presserat anerkennen würden und die Beurteilungen des EPCs ignorieren. Auf diese Art konnten die führenden Medien der kritischen Betrachtungsweise des EPCs entgehen.

Wie arbeiten die Presseräte?

Die Effizienz und Möglichkeit für einen Presserat unparteiisch zu handeln, hängt von dessen Unabhängigkeit von der Medienindustrie ab. Die Zusammensetzung des ENA-Presserats ist sehr zu Gunsten der Medienindustrie. Der erste Vorsitzende des Presserats war der frühere Manager der Estonian Newspaper Association. Zusätzlich besteht der Rat hauptsächlich aus Chefredakteur:innen (vier bis fünf von zehn Mitgliedern) und Laienmitgliedern, die von der ENA individuell eingeladen und nicht von ihren Organisationen delegiert werden.

Der EPC hat eine Struktur von neun Mitgliedern, von denen sechs Repräsentant:innen öffentlicher Nichtregierungsorganisationen und drei Journalist:innen sind.

Auch bei ihrer Arbeit unterscheiden sich die beiden Presseräte voneinander. Der EPC bietet neben den Beurteilungen auch Expertenmeinungen an und evaluiert die Qualität von Medienprodukten und -leistungen. Die Beurteilungen des EPCs werden auf dessen Website veröffentlicht. Auch, wenn der EPC aufgrund seines selbstregulierenden Mechanismus keine Maßnahmen hat, um von allen Medien akzeptiert zu werden, hat er mit seinem kompetent analytischen Ansatz an Glaubwürdigkeit gewonnen und wird gelegentlich von staatlichen Behörden nach ihrer Expertenmeinung gefragt. Der ENA-Presserat beschäftigt sich nur mit Beschwerden, wenn der Kläger direkt betroffen ist, wohingegen der EPC sich auch mit Beschwerden beschäftigt, wenn der Kläger nicht involviert ist.

Manche Kläger:innen reichen ihre Beschwerde bei beiden Presseräten ein und bekommen manchmal unterschiedliche Antworten bzw. Beurteilungen. Da es keine genauen Anweisungen gibt, wie die Klagen veröffentlicht werden sollen, veröffentlichen die Medien diese meist auf eine Art und Weise, wie sie am wenigsten wahrnehmbar sind.

Ein Ethikkodex für Estland

Seit 1997 gibt es in Estland einen Ethikkodex. Auf diesem basieren die Entscheidungen beider Presseräte. Der Ethikkodex wägt das ethische Verhalten von Journalist:innen je nach der Bedeutung der Information für das öffentliche Interesse ab. Dabei spielen moralische Überlegungen eine wichtige Rolle. In einem Länderreport von Halliki Harro-Loit und Epp Lauk aus dem Jahr 2016 gaben zwar 93% der befragten estnischen Journalist:innen an, dass sie sich unabhängig von Situation und Kontext immer an die Berufsethik halten sollten, jedoch waren gleichzeitig 52% der Meinung, dass Ethik im Journalismus von der Situation abhängt und 23% sagten, dass es in Ordnung ist, moralische Maßstäbe außer Acht zu lassen, wenn es besondere Umstände erfordern. Das entspricht im Wesentlichen dem, was in Artikel 3.7 des Ethikkodex steht. Dort heißt es, dass sich Journalist:innen zwar grundsätzlich ehrliche Mittel zur Informationsbeschaffung einsetzen müssten, jedoch besteht die Ausnahme in Fällen, in denen die Öffentlichkeit ein Recht hat, diese Informationen zu erhalten, diese aber nicht auf ehrlichem Weg beschafft werden können. Dies ist zum Beispiel der Fall, wenn Politiker:innen Straftaten begehen und diese verschleiern. Aufgrund dieses Artikels wird der Ethikkodex oft kritisiert, da die Diskussion, ob Journalist:innen sich bei der Informationsbeschaffung nun unehrlich verhalten dürfen, nicht vollends abgeschlossen werden kann. In dem Länderreport akzeptierte die Hälfte aller Befragten ein solches Verhalten gelegentlich. Dazu gehört zum Beispiel die Verwendung versteckter Kameras, die Ausübung von Druck auf Informanten oder sich als jemand anders auszugeben. Für völlig akzeptabel hält dieses Verhalten nur einer kleiner Teil der Befragten (zwischen 9 und 13%).

Weiter liegt nach dem Ethikkodex die Verantwortung für die Qualität der Berichterstattung bei Journalist:innen und Medienorganisationen, während die Nachrichtenorganisationen die Verantwortung für die Veröffentlichung wahrheitsgemäßer Informationen tragen.

Seit seiner Verabschiedung wurde der Ethikkodex nicht mehr aktualisiert, obwohl dies durchaus gefordert wurde. Das liegt daran, dass die Presseräte keinen Weg gefunden haben, zielführend miteinander zu arbeiten. Jedoch ersetzte die ENA 2010 den Wortlaut „ehrlich“ in Artikel 3.7 durch „öffentlich“, was die Bedeutung des Artikels ändert. Trotzdem arbeitet die Mehrheit estnischer Journalist:innen nicht mehr nach dem Ethikkodex, sondern sehen die internen Richtlinien ihrer Medienorganisationen als die Leitlinien journalistischer Arbeit. Estnische Journalist:innen richten sich also nicht alle nach den gleichen Spielregeln. In dem Länderreport gaben 18% der Befragten sogar an, dass Ethik im Journalismus eine Frage des persönlichen Urteils ist. Allerdings gibt es seit 2007 bei der Estnischen Nationalen Rundfunkgesellschaft einen unabhängigen Ethikberater, welcher sich um die Beschwerden der Zuschauer kümmert, Lösungsvorschläge bereithält und Sendungen überwacht. Diese Alternative funktioniert jedoch auch nur teilweise. Der aktuelle Ethikberater arbeitet nicht immer transparent gegenüber der Öffentlichkeit und verschleiert häufig Probleme.

Medienkritik in Estland

Ein weiterer kritischer Punkt ist die „Selbstreflektion“ der Medien. Diese ist laut Lauk, Loit und Harro-Loit in Estland praktisch nicht existent. Rechenschaftspflicht gegenüber der Öffentlichkeit ist bei estnischen Medien nicht üblich und Eigentümer:innen und Chefredakteur:innen reagieren äußerst empfindlich auf Kritik an ihren Medien. Kritiker:innen außerhalb der Medien, die beispielsweise auf Verstöße gegen ethische Grundsätze oder schlechten Journalismus hinweisen, wird häufig vorgeworfen, dass sie die Pressefreiheit einschränken und Zensur etablieren wollen. Und da die Erinnerung an die frühere Kontrolle der Presse durch die Sowjetunion in der Bevölkerung noch tief sitzt, reagiert diese mit Zustimmung. Selbst Journalist:innen würden sich bei einer öffentlichen kritischen Äußerung die Qualität des Journalismus betreffend zurückhalten. Es sei wohl eine unausgesprochene Regel, die Arbeit von Kolleg:innen nicht zu kritisieren. Das läge vermutlich daran, dass aufgrund der geringen Anzahl an Journalist:innen jede:r jede:n kennt, und sei es nur indirekt.

Ein bisschen Medienkritik gibt es dann aber doch. Es gibt Nischenpublikationen wie werden von Medienwissenschaftler:innen und Studierenden verfasste medienkritische Artikel hochgeladen. Und durch die Kommentarfunktion in Online-Medien kommt es dort nach und nach zu einer Selbstregulierung.

Was bedeutet das also unterm Strich für den Stand der Medienselbstregulierung in Estland? Unter den mittel- und osteuropäischen Ländern war Estland zwar das erste Land mit institutionalisierter Medienverantwortung, Selbstregulierung und Presserat, jedoch haben diese wenig Macht auf die Medienlandschaft in Estland. Die Presseräte werden häufig von den Journalist:innen ignoriert, jegliche Kritik wird gleich als Wunsch einer erneuten Zensur interpretiert und da sich die Journalist:innen, aufgrund der kleinen Anzahl, untereinander kennen, findet auch hier kein konstruktiv kritischer Austausch statt. Estland ist unter den Top Ten Ländern, wenn es um Pressefreiheit geht. Das aktuelle System bietet jedoch keinen Spielraum für konstruktive Kritik. Was bedeutet freie Berichterstattung, wenn sie nur unzureichend nach ethischen Standards reguliert wird?

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