Wie nehmen Lokalredaktionen ihr Publikum wahr?

4. Juli 2024 • Forschung aus 1. Hand, Top • von

Bildquelle: Pixabay

In ihrer Dissertation untersuchte Laura Amigo die Beziehungen zwischen Lokalredaktionen und ihrem Publikum. Anhand von Feldforschung in drei Ländern arbeitete sie verschiedene Typen des Publikums heraus, die sich in Aussagen der Journalisten herauskristallisieren. Dabei betrachtet sie das „Publikum“ als elastisch, vielfältig und beweglich. Im Interview mit dem französischsprachigen EJO teilt sie ihre Erkenntnisse darüber, wie Lokalmedien ihre Publika wahrnehmen und aktiv formen.


Die Verbindungen zwischen lokalen Medien und ihrem Publikum sind das Thema, das Laura Amigo, Postdoktorandin an der Università della Svizzera italiana, im Rahmen ihrer Dissertation “Die Publikumsnähe der europäischen lokalen Nachrichtenmedien” untersucht hat. Ihre Ergebnisse stützen sich auf Feldforschung, die sie zwischen Dezember 2019 und August 2020 im französischsprachigen Belgien, in Frankreich und der Westschweiz (in Verbindung mit dem Forschungsprojekt LINC) sowie in Italien durchgeführt hat. Ein Teil ihrer Arbeit besteht darin, die Öffentlichkeiten anhand der Reden von Journalisten zu verstehen.

Laurie Chappatte: Welche Typen von Publika haben Sie untersucht?

Laura Amigo: Die verschiedenen Typen habe ich in meiner Doktorarbeit anhand einer Konzeptualisierung der Nähe von Lokalmedien zu ihren Publika erarbeitet. Nähe wird als dynamisches Gleichgewicht zwischen drei Dimensionen verstanden: einer Gatekeeping-Dimension (bezogen auf die redaktionelle Auswahl und den Prozess der Informationsherstellung), einer sozialen Dimension (bezogen auf den Auftrag, den sich die Lokalmedien geben, ein Gefühl des Zusammenlebens aufzubauen, indem sie die Bindung an einen Ort, die Geselligkeit und die Solidarität fördern) und schließlich einer kommerziellen Dimension (bezogen auf die Strategie, die es einem Medium ermöglicht, sich auf dem Markt zu behaupten). Diese Dimensionen sind mit der zentralen und pluralistischen Figur des Publikums verknüpft. Gemäß den verschiedenen Strategien der Medien, deren Zielgruppe diese Publika sind, werden sie unterschiedlich definiert. Wie die Journalist:innen ihre Publika konstruieren, darüber lassen sich aus ihren Aussagen und ihren Handlungen Rückschlüsse ziehen.

Um dieses komplexe Bild des Publikums besser zu erfassen, versucht einer der Artikel meiner Dissertation, der gemeinsam mit Nathalie Pignard-Cheynel verfasst wurde, eine Perspektive einzunehmen, die in der Forschung zum Lokaljournalismus bisher vernachlässigt ist. Es ging darum, das Bild des Publikums in den Diskursen von Journalist:innen französischsprachiger Lokalmedien zu erfassen. Insbesondere sollte untersucht werden, wie die Fachleute ihre Publika wahrnehmen und “Rollen” für sie in den Initiativen planen, die sie in ihren Medien umsetzen, um die Verbindungen mit dem Publikum neu zu beleben (Lesercafés, Redaktionsbesuche usw.). Diese projizierten Rollen für das Publikum wurden in einer dynamischen, “spiegelbildlichen” Beziehung zu den Rollen der Journalist:innen identifiziert.

Was ergibt sich daraus?

In den Reden der Journalist:innen zeichnen sich drei Hauptbilder des Publikums ab. Sie sind mit den oben genannten strukturierenden Dimensionen der Nähe der Lokalmedien zu ihren Publika verbunden. Das Bild des “Bürgers”, das mit der redaktionellen Dimension oder dem Gatekeeping verbunden ist, bezieht sich auf Publika, die von den medial produzierten Inhalten betroffen oder sogar an deren Herstellung beteiligt sind.

Neben der recht klassischen Auffassung, dass das Publikum hauptsächlich Informationen empfängt, sieht das Bild des Bürgers das Publikum als Mitarbeitende im redaktionellen Prozess.

Dies geschieht beispielsweise über die Zusendung verschiedener Arten von Inhalten an die Redaktionen (Bilder, Zeugenaussagen usw.), den Austausch mit Journalist:innen über das redaktionelle Angebot oder die Beteiligung an partizipativen Umfragen, wie der von der Zeitung La Marseillaise durchgeführten Umfrage zu unhygienischen Wohnverhältnissen in Marseille.

Das zweite Bild des “Nahestehenden” wird mit der sozialen Dimension der Nähe in Verbindung gebracht. Diese Figur bezieht sich auf das Publikum, das in einem geografischen Gebiet (das dem von dem Medium abgedeckten Gebiet entspricht) verankert ist, und impliziert seine Beteiligung an Initiativen, die ein Zugehörigkeitsgefühl, ein Kollektiv, über den rein redaktionellen Rahmen hinaus fördern. Mit diesem Bild des Publikums sind zwei Hauptrollen verbunden. Einerseits werden die Mediennutzenden als Personen wahrgenommen, mit denen man sich informell austauscht. Zum Beispiel rufen Medien zu geselligem Beisammensein auf, um ihr Publikum zu treffen und in ihrem Gebiet sichtbarer zu werden. Dies ist der Fall bei den Aperitifs mit der Redaktion, die von Rue89 Strasbourg organisiert werden. Andererseits übernehmen die Publika so auch eine Rolle bei der Förderung gegenseitiger Hilfe und Solidarität, indem sie sich an Initiativen wie Spendensammlungen für einen wohltätigen Zweck beteiligen. Dies passiert beispielsweise jährlich bei La Tribune de Genève organisierte. Das Bild des „Nahstehenden“ deckt also eine doppelte Bedeutung von Nähe ab, die sowohl physisch als auch emotional ist.

Das dritte Bild des “Kunden” versteht das Publikum unter einer kommerziellen Brille, die sich auf Geschäftsmodelle und andere Strategien bezieht, die darauf abzielen, ein Medium auf einem Markt zu unterstützen. Das Publikum wird als wirtschaftlicher Hebel der Medien gesehen, als “Kunden”, die dazu beitragen, Einnahmequellen für das Medium zu erschließen. Dieser Beitrag kann auf direktem Weg durch Käufe, Spenden, den Erwerb bestimmter Produkte usw. erfolgen. Ein Beispiel hierfür sind die Wettbewerbe von La Liberté, bei denen man ein Treffen mit einem Hockeyspieler gewinnen kann. Sie kann auch auf indirektem Wege erfolgen. Hier besteht die Rolle des Publikums darin, beobachtet und profiliert zu werden und digitale Spuren ihres Konsums oder ihrer Exposition zu hinterlassen, die zu Marketingzwecken verwendet werden können.

Ist eines dieser Bilder in den untersuchten Redaktionen stärker vertreten?

Das traditionelle Bild des Publikums als “zu informierende” Bürger ist in den Reden der Journalist:innen recht präsent. Dieses Bild lässt sich mit der Vorstellung verbinden, dass Journalist:innen den Bürger:innen relevante Informationen liefern sollen, die es ihnen ermöglichen, sowohl im politischen Bereich als auch in der Sphäre des täglichen Lebens fundierte Entscheidungen zu treffen. Dieses Bild ist mit einer Auffassung des Journalismus verbunden, der die Aufgabe hat, Informationen zu vermitteln und Geschichten zu erzählen oder Storytelling zu betreiben, wie die Forscher Thomas Hanitzsch und Tim Vos bemerken.

Gibt es im Gegensatz dazu ein Bild, das überraschender ist oder zumindest weniger regelmäßig vorkommt?

Das Bild des Publikums als Kunden, die Mediendienstleistungen oder -produkte erwerben, die vom klassischen Angebot an redaktionellen Inhalten getrennt sind. Dieses Bild zeichnet sich beispielsweise in den von Léman Bleu angebotenen Journalismuskursen ab, zu denen man gegen Bezahlung Zugang erhält. Es handelt sich also um einen gegenüber der Marktlogik offeneren Ansatz, der vor allem bei Journalist:innen in Führungspositionen (Chefredaktion oder Direktion) zum Ausdruck kommt, während sich die Redaktionen historisch gesehen dagegen abgrenzen wollten. Diese Facette des Publikums spiegelt die Notwendigkeit wider, den Journalismus auch als kommerzielle Tätigkeit zu betrachten, insbesondere in einer Zeit, in der die Digitalisierung das traditionelle Geschäftsmodell der Medien, das hauptsächlich auf Verkauf und Werbung beruht, erschüttert hat und die Medien dazu veranlasst hat, sich um eine Diversifizierung ihrer Einnahmequellen zu bemühen.

Überschneiden sich diese Bilder?

In vollem Umfang. Diese drei Hauptbilder sind in erster Linie idealtypisch. Sie kommen in den Reden der Journalist:innen nur selten exklusiv oder isoliert zum Ausdruck, was im Übrigen zeigt, dass die Beziehung zwischen den Medien und ihrem Publikum komplex, nuanciert und dynamisch ist. Es gibt also Porositäten zwischen den gatekeeping-, sozialen und kommerziellen Dimensionen, die die Bilder des Bürgers, des Nahestehenden und des Kunden strukturieren. In erster Linie sind die Publika Konsument:innen von Verlagsproduktionen – eine Rolle, die für die kommerziellen Medien natürlich von zentraler Bedeutung ist und die Kombination von Gatekeeping- und kommerziellen Dimensionen verdeutlicht.

Den Gatekeeping- und sozialen Dimensionen entlehnt, wird das Publikum auch als „Nachbarn“ betrachtet, d. h. als Bürger, die sich informieren, aber vor allem zur Informationsproduktion beitragen, mit dem Ziel, den sozialen Kitt, die geteilten Identitäten zu stärken. Dieses Bild taucht zum Beispiel auf, wenn die Journalist:innen der Tribune de Genève die Rubrik “La Julie” erwähnen, die eine Art Stimmungsbericht veröffentlicht, der mit Nachrichten von Lesern gespeist wird, die ihre Sorgen, persönlichen Geschichten usw. mitteilen.

Ein weiteres Bild, das manchmal auftaucht, ist das des Publikums als finanzielle Unterstützer. Diese Figur, die an der Schnittstelle zwischen kommerziellen und sozialen Dimensionen angesiedelt ist, drückt über die monetäre Geste hinaus eine starke Zustimmung zur Philosophie eines Mediums und eine Anerkennung seiner Wirkung in der Gesellschaft aus. Sie taucht in den Aussagen der Journalist:innen auf, die das Publikum in der Rolle eines Markenbotschafters sehen. Das Projekt zur Gründung einer Genossenschaft bei L’Avenir sowie die von Mediacités organisierten partizipativen Finanzierungskampagnen veranschaulichen diesen Ansatz.

Wie entstehen solche neuen Beziehungen zur Öffentlichkeit?

Die Initiativen, die den verschiedenen Bildern des Publikums Gestalt verleihen, sind das Ergebnis unterschiedlicher Ansätze, die sich je nach Medium und manchmal auch im Laufe der Zeit ändern. Sie entstehen oft aus Experimenten, Gelegenheiten, strukturierten Projekten und anderen, die nicht immer Teil einer organisatorischen Strategie oder einer langfristigen Vision sind. Daraus ergibt sich, dass die Bilder des Publikums nicht immer vollständig stabilisiert oder gefestigt sind. Außerdem kann es Spannungsfelder zwischen den Diskursen der Journalist:innen gegenüber den Publika, dem, was sie erzählen, und den konkreten Praktiken, den tatsächlichen Umsetzungen dieser Bilder, geben.

Wenn wir nur eine einzige Sache festhalten sollten, was sollten wir im Kopf haben?

Die Idee, dass das Bild des Publikums elastisch, vielfältig und beweglich ist. Es ist ein Bild, das sich mit mehr oder weniger starken Zügen abzeichnet, je nach den Strategien, Aktionen und Praktiken der Journalist:innen und Medien.

Die Bilder, die ich hier erwähnt habe, unterstreichen, dass das Publikum eher als aktive und in die Medienbeziehungen eingebundene Entitäten denn als Empfänger von Inhalten betrachtet wird. Sie legen nahe, dass die Medien versuchen, über den rein redaktionellen Bereich hinaus Beziehungen zum Publikum aufzubauen, wobei die Ansätze häufig auf Engagement, Austausch und dem Teilen gemeinsamer Anliegen beruhen.

Dieser Ansatz scheint eine Antwort auf die Herausforderungen zu sein, denen sich die lokalen Medien angesichts des digitalen Wandels, der Abwendung oder gar des Misstrauens des Publikums oder auch der Suche nach neuen wirtschaftlichen Gleichgewichten gegenübersehen. Es ist eine stärkere Investition von Zeit und Ressourcen durch die Medien, die darauf abzielt, eine größere Nähe zum Publikum herzustellen, während diese Beziehung lange Zeit als selbstverständlich angesehen wurde.

Die vollständige Forschungsergebnisse über die Nähe der lokalen Medien zum Publikum finden Sie hier:

Amigo, L. (2022). Die Publikumsnähé der europäischen Lokalnachrichtenmedien. Strategien, Handlungen und Diskurse der Akteure in ihrem Einsatzkontext. [Dissertation]. Universität Neuchâtel.

Die Analyse zu den Figuren der Öffentlichkeiten wurde vorgelegt in Amigo, L., & Pignard-Cheynel, N. (2023). Les figures des publics au sein des rédactions locales d’Europe francophone. Les Cahiers du Journalisme, 9, 9-23. https://cahiersdujournalisme. org/V2N10/CaJ-2.10-R009.pdf
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