Journalisten haben große Schwierigkeiten, professionell mit Kritik umzugehen: Weder wagen sie es in Redaktionskonferenzen, die Arbeit von Kollegen in Frage zu stellen – noch sind sie gewillt, Kritik von außen anzunehmen.
Zu diesem Ergebnis kommt die Kommunikationswissenschaftlerin Yael de Haan in ihrer Studie über Medienselbstkontrolle und journalistische Verantwortung in drei niederländischen Redaktionen.
Ausgangspunkt des Forschungsprojekts war die Beobachtung, dass Politiker und Öffentlichkeit auch in den Niederlanden seit Anfang der 90er Jahre vermehrt kritisch über die Rolle der Medien in der Gesellschaft zu diskutieren begannen. War die Debatte in den 90er Jahren noch eher von Medienstruktur- und Medienpolitikfragen geprägt, traten nach der Jahrtausendwende Themen der Medienverantwortung in den Vordergrund. Auslöser für eine intensive Auseinandersetzung war in den Niederlanden insbesondere der Aufstieg des umstrittenen Politikers Pim Fortuyn und seine Ermordung im Jahr 2002, für die Kritiker auch das von den Medien geschaffene Klima verantwortlich machten.
In den Folgejahren haben die von Yael de Haan im Rahmen einer Fallstudie untersuchten führenden niederländischen Medien – die Tageszeitung de Volkskrant sowie die Redaktionen NOS Nieuws beim öffentlichen und RTL Nieuws beim privaten Fernsehen – zahlreiche etablierte und innovative Instrumente der Media Accountability – Ombudsleute, Redaktionsblogs, Korrekturspalten, Dialogangebote per Social Media usw. – eingeführt. Doch welche Bedeutung haben sie in der redaktionellen Praxis? Dieser Frage geht de Haan in ihrer Studie nach. Methodologische Besonderheit: Im Rahmen von ethnographischen Studien hat sie jeweils drei Monate als teilnehmende Beobachterin in den Redaktionen verbringen und auf diese Weise untersuchen können, wie die Redakteure in den Medienhäusern in der täglichen Praxis mit den genannten Instrumenten umgehen.
Das Ergebnis ist ernüchternd: In den von de Haan untersuchten Redaktionen fehlt es an einer konstruktiven Kritikkultur, was wiederum einem konstruktiven Einsatz der Accountability-Instrumente im Wege steht. Oft waren Zeitprobleme, mitunter Management-Fehler daran schuld – so suchte die neue Ombudsfrau von NOS Nieuws vor allem den Kontakt zur Chefebene, in der Redaktion selbst ließ sie sich kaum blicken; vielfach blockierten aber auch die Journalisten selbst Prozesse der Selbstreflexion: Obwohl insbesondere die Chefredakteure von de Volkskrant und NOS Nieuws dezidiert für Medienverantwortung und Medienselbstreflexion eintreten und zahlreiche innovative Instrumente der Media Accountability in ihren Redaktionen eingeführt haben, gaben viele der von de Haan befragten Redakteure anonym zu, es nicht zu wagen, in Redaktionskonferenzen Kritik zu äußern.
Gibt es kritische Bemerkungen zu Beiträgen von Kollegen, werden diese eher in Flurgesprächen – und meist hinter dem Rücken der Betroffenen – geäußert, was einer konstruktiven und professionellen Verwertung der Kritik ebenfalls diametral im Wege steht. Aber nicht nur die ambivalente Kritikkultur in den Redaktionen verhindert einen konstruktiven Dialog über Medienverantwortung unter den Journalisten: Vielfach, so hat de Haan weiter beobachtet, legen Journalisten größten Wert auf ihre professionelle Autonomie und lehnen es rundweg ab, Kritik von außen anzunehmen.
Yael de Haan (2011): Between Professional Autonomy and Public Responsibility: accountability and responsiveness in Dutch media and journalism. Amsterdam.
Schlagwörter:de Volkskrant, journalistische Verantwortung, Korrekturspalten, Kritikkultur, Media Accountability, Medienselbstkontrolle, Niederlande, NOS Nieuws, Ombudsleute, Redaktionsblogs, RTL Nieuws