Der Journalismus sieht sich mit einer neuen Welle der Medienkritik konfrontiert. Redaktionen analysieren vermehrt das Nutzerverhalten und suchen nach publikumsnahen Formaten. Dabei betonen sie die journalistische Relevanz und halten traditionelle ethische Standards hoch. Geht das zusammen? Die Jahrestagung des Netzwerks Medienethik suchte nach Antworten.
„Unterm Strich suchen die Leser nicht billige Scheiße, sondern Tiefe.“ Selten hört man so deutliche Worte auf einer Tagung, auf der Wissenschaftler und Journalisten gemeinsam diskutieren. In der vergangenen Woche wurde in München über die „Zukunft des Journalismus“ verhandelt und über medienethische Probleme debattiert. In unverblümter Weise sprach Stefan Plöchinger, Chefredakteur von Süddeutsche.de, bei seinem öffentlichen Abendvortrag vor rund 100 Teilnehmern über Nutzerbedürfnisse, den Vorwurf der Lügenpresse und den Umgang mit Trollen.
Weil Nutzer immer noch nach Tiefe suchen, dürften Journalisten nicht nur dem hinterherlaufen, was vielfach gegoogelt und angeklickt wird. Plöchingers Beispiel: Nur weil Michael Schumacher im Netz zu den Top-Suchbegriffen zähle, ließen sich Nachrichten wie „Corinna bringt Schumi Blumen vorbei“ journalistisch nicht rechtfertigen.
Das stellte auf der Tagung auch niemand in Frage. Überhaupt dürfte sich so mancher gewundert haben, wie stark sich die Chefredaktionen von Süddeutsche.de, Zeit Online, ZDF und BuzzFeed miteinander einig werden konnten. Streitbar blieb allerdings, wie und wo die Nutzer am besten zu erreichen sind und an wen eine medienethische Verantwortung zu richten sei.
Teilen von „bits and pieces“
Den Auftakt machte Juliane Leopold, Chefredakteurin des deutschsprachigen Ablegers von BuzzFeed, ein Unterhaltungs- und Newsportal. Rund 75 Prozent aller Nutzer gelangten über Facebook auf Beiträge von BuzzFeed. Die Startseite spiele so keine nennenswerte Rolle mehr. Entsprechend sieht Juliane Leopold in Facebook einen „Treiber journalistischer Darstellungsformen“. Entscheidend seien die Algorithmen und Darstellungsweisen des sozialen Netzwerks.
Viele Nutzer teilten Inhalte, die sie sich selbst nicht richtig anschauen, sondern schnell wieder verlassen. „Niedliche Inhalte“ liefen besonders gut. Daneben brauche es Beiträge, deren Bedeutsamkeit die Nutzer auf Twitter mitteilen können: „Super important read“. Diese Art von Impression Management ist ganz im Sinne von BuzzFeed-Gründer Jonah Peretti und trägt zur Verbreitung des Portals bei. Inhaltlich setze man auf «bits and pieces» anstatt «erschlagender Texte und Bleiwüsten». Videos von zwei Minuten Länge sollten jede kurze Pause der überwiegend mobilen Nutzer füllen. Sie würden so aufbereitet, dass sie auch ohne Ton funktionieren und selbst auf der Arbeit genutzt werden können.
„Ist das Journalismus?“
BuzzFeed greift auch das geflügelte Wort der „Transparenz“ auf und hat kürzlich „Editorial Standards“ zusammengestellt und veröffentlicht. Damit will man zeigen, dass es ein Bewusstsein für medienethische Standards gibt und die Nutzer sich auf sauberes journalistisches Arbeiten verlassen können. Im Auditorium blieben die Reaktionen verhalten. Nur in der Kaffeepause und auf Twitter wurde gefragt: „Ist das Journalismus?“. Auch wäre die Frage berechtigt gewesen: Kann man sich ausschließlich an der Verbreitung orientieren und zugleich journalistische Normen hochhalten?
Umso erstaunlicher waren dann gewisse Parallelen zu Qualitätsmedien. Martin Kotynek, stellvertretender Chefredakteur von Zeit Online, stimmte zu, dass man sich immer stärker auf die mobilen Nutzer einstelle. Nicht nur technisch, sondern auch inhaltlich. Dazu gehörten auch hier kurze Videos ohne Tonspur. Man denke darüber nach, vermehrt auf Audioformate zu setzen und interaktive Geschichten mit Hilfe von Karten zu erzählen. Außerdem gebe es inzwischen Nachtschichten. Denn Nutzer griffen nicht mehr gegen 9 Uhr auf Nachrichten zu, sondern frühmorgens, unmittelbar nach dem Aufwachen.
(K)ein Diktat der Zahlen
Durch Datenanalysen und Experimentieren mit neuen Darstellungsformen und Aktualitätszyklen stelle man sich auf die veränderten Bedürfnisse der Nutzer ein. Die Datenanalysen allein hinterließen aber viele Fragezeichen. Deshalb würden regelmäßig Nutzer eingeladen, um ihre Reaktionen auf neue Features zu beobachten und das Nutzerverhalten zu verstehen. Hier zeige sich auch: Die Nutzer wollen einen Spagat aus Schnelligkeit und Tiefe, also einen raschen Überblick und zugleich Einordnungsleistungen. Dafür suchten sie die journalistischen Medien noch immer gezielt auf. Aus Sicht von Kotynek ist die Startseite also „nicht tot“, sondern gewinne an Bedeutung.
In der Diskussion zeigte sich dann: Bei BuzzFeed stehen Teilen und Klicken stets im Vordergrund. Zeit Online grenzt sich im Selbstverständnis dagegen deutlich stärker von einem „Diktat der Zahlen“ ab. Laut Kotynek hat die journalistische Relevanz Priorität. Ein Thema werde auch dann als Aufmacher gewählt, wenn bereits zu ahnen sei, dass es kein „Klickzahlen-Magnet“ wird. Allerdings räumte er ein: Auch die Zeit-Leser stellten den Akt des Teilens in einigen Fällen über den der Information. Teilen sei Mit-Teilen und Teil-Sein-Wollen einer Community. Wirklich gelesen würden die Beiträge aber oft nicht.
Verbreitete „Erregungs- und Prangerkultur“
Elmar Theveßen, stellvertretender Chefredakteur des ZDF, hat den Eindruck, dass auch die Qualitätsmedien es mittlerweile zu stark „allen recht machen wollen“. Sie setzten wie alle anderen Medien auf Aufmerksamkeit und ließen sich zu oft von der „Erregungs- und Prangerkultur“ mitreißen. Theveßen fordert daher eine Rückbesinnung auf journalistische Werte wie Achtung der Menschenwürde, Informationsüberprüfung und Unabhängigkeit.
Er kommt mit den Forschern Bernhard Debatin und Michael Haller darin überein, dass am Gewissen von Journalisten angesetzt und die Individualethik gestärkt werden müsse. Silke Fürst (Autorin dieses Beitrags, Anm. d. Red.) und Mike Meißner setzen mit ihrer Studie dagegen, dass angesichts des zunehmenden ökonomischen Drucks und der redaktionellen Arbeitsbedingungen das allein kaum realistisch sei. Stattdessen seien besonders die Redaktion, das Medienunternehmen und die Medienpolitik in die Pflicht zu nehmen. Stefan Plöchinger schloss in der Diskussion mit Tagungsorganisator Alexander Filipović an diese Probleme an. Bei Ereignissen wie dem Anschlag auf Charlie Hebdo sei eine Art „Kriegs-Euphorie“ zu beobachten. Es sei zwar klar, dass Journalisten auf neue Ereignisse und große Themen brennen. Aber gerade das könne nicht der ethische Maßstab sein. Hier sei mehr Sensibilität und Professionalität geboten. In der Berichterstattung zähle insgesamt die Korrektheit einer Nachricht und nicht die Schnelligkeit („Get it first, but first get it right“).
Kein Vertrauen in die Medien?
Ein neues Misstrauen in „die“ Medien sieht Plöchinger jedoch nicht. Hinter dem Vorwurf der „Lügenpresse“ stehe die Verschwörungstheorie, dass die Medien im Dienste anderer Interessen stehen und sich untereinander absprechen. Was an der Kritik dran ist: Es gebe natürlich gewisse Formen der Konsonanz und Gleichförmigkeit. Aber dies liege daran, dass Journalisten sich gegenseitig stark beobachten und alle durch die gleichen „Zyklen, Methoden und Apparate versorgt werden“ wie Leitmedien, Pressekonferenzen und Twitter.
Auch wenn derzeit stark über das Unwort des Jahres diskutiert werde, spiegele dies nicht das Vertrauen in einzelne Medien wider. Sicher, der Bild-Zeitung werde man kaum vertrauen, einer FAZ oder Süddeutschen mehr. Und das bringen laut Plöchinger auch die Nutzungszahlen zum Vorschein. Die Süddeutsche verkaufe jährlich 11.000 neue Digital-Abos und setze ab März mit einer Paywall auch zukünftig auf den zahlungsbereiten Leser, der Vertrauen in das Medium hat. Die Zapp-Studie zeige zwar, dass derzeit nur knapp 30 Prozent der Bevölkerung großes Vertrauen in „die Medien“ haben. Aber Plöchinger bezweifelt, dass diese kritische Haltung gegenüber den Medien im Allgemeinen wirklich ein neues Phänomen sei.
Und tatsächlich zeigt ein genauer Blick in die Studie, dass die Erschütterung des Vertrauens konstruiert ist. Zwar gibt es gegenüber den Jahren 2013 und 2012 einen leichten Rückgang. Gehen wir aber in die Jahre 2007 und 2009 zurück, so liegt das große Vertrauen ebenfalls bei etwa 30 Prozent. Von einem neuen Problem kann also nicht gesprochen werden. Stattdessen unterliegen die Daten Schwankungen und sind mutmaßlich beeinflusst durch Konjunkturen der öffentlichen Medienkritik. Weniger schwankend ist dagegen das Vertrauen in einzelne Medientitel.
Aufgabe eines guten Medienjournalismus ist es, solche Einordnungen zu leisten. Das renommierte Medienmagazin Zapp leistet dies in seinem Filmbeitrag nicht, sondern inszeniert einen nie gekannten Vorwurf an die Medien. Der Vortrag von Christian Schicha zeigt, dass die Machart von Zapp auch über dieses Thema hinaus zum Teil einseitig und aufmerksamkeitsheischend ist. Die interviewten Medienexperten würden teilweise bereits für eine bestimmte Position angefragt, und Gegenpositionen gebe es nicht immer. Die von Zapp kritisch diskutierten Medienskandale würden durch Analogien aus dem Tierreich, dem Zirkus und dem Theater zwar besonders anschaulich. Dabei gehe aber auch die Komplexität des Themas etwas verloren. Der Medienjournalismus werde so seinem kritischen Anspruch selbst nicht ganz gerecht.
Das Aus für Trolle und Diskussionskultur
Neben den Normen Ausgewogenheit und Transparenz stand auch die Partizipation der Nutzer zur Diskussion. Die Süddeutsche wolle den Nutzern zwar eine Diskussionsplattform anbieten. Allerdings gebe es nur noch drei bis sechs Artikel pro Tag, die für Online-Kommentare freigeschaltet sind. Diese würden stark moderiert und von der Redaktion genau beobachtet. Grund dafür seien die „Trolle und Pöbler“, die zwar deutlich in der Minderheit seien, aber die Diskussionskultur kaputt machten. „Wenn einmal der Ton versaut ist, kriegt man die Diskussion nicht mehr hin.“
Dafür erntete Plöchinger im Plenum Kritik. Wenn die Medien differenziert betrachtet werden sollen, so gilt für den Netzwerkforscher Christian Nuernbergk das gleiche für das Publikum. Wegen einer Minderheit von pöbelnden Nutzern sollte nicht die Freiheit aller Nutzer eingeschränkt werden. Es müsse sichergestellt werden, dass zu wichtigen Themen ein Meinungsaustausch stattfinden kann. Trolle ließen sich nicht nur durch mehr Ressourcenaufwand fernhalten. Auch die Aufhebung der Anonymität habe bereits Wirkungen auf die Qualität und Sachlichkeit der Kommentierungen. Der Schweizer Presserat hat sich bereits 2011 intensiv mit dieser Frage beschäftigt.
Plöchinger betonte, dass die Ressourcen auf die starke Moderation weniger Beiträge konzentriert werden müssten. Was er auf der Veranstaltung nicht verriet: Die Süddeutsche steckt ihre Ressourcen zukünftig auch in eine „exklusive Tester-Gruppe auf WhatsApp, die von Neuerungen früher erfährt und sie beeinflussen kann“. Nicht der Dialog zwischen den Nutzern, sondern die nutzerorientierte Optimierung des Produkts steht offenbar im Vordergrund.
Austausch von Wissenschaft und Praxis
Abschließend stellte sich auch für die Veranstaltung selbst die Frage nach der Qualität der Diskussionskultur. Dem Netzwerk Medienethik und der DGPuK-Fachgruppe Medienethik ist es gelungen, Journalisten und Wissenschaftler zu einem Austausch zusammenzuführen. Allerdings wurde viel über Traffic und Nutzerverhalten gesprochen und zu wenig über Medienethik gestritten. Zudem wurde der erste Tag unter den „Fokus Praxis“ und der zweite unter den „Fokus Wissenschaft“ gestellt. Und so blieb mancher Praktiker der Veranstaltung am zweiten Tag fern. Für die nächste Tagung im Februar 2016 wünschte man sich daher eine noch bessere Verknüpfung beider Perspektiven und eine stärkere Kontroverse.
Erstveröffentlichung: Medienwoche vom 18. Februar 2015
Literatur:
Book of Abstracts zur Tagung „Zukunft des Journalismus als Thema der Kommunikations- und Medienethik“ in München vom 12. bis 13. Februar 2015.
Bildquelle: Arallyn/flickr.com
Schlagwörter:Medienethik, Netzwerk Medienethik, Nutzerverhalten, Tagung., Wissenschaft, Zukunft des Journalismus