Haben auch Massenmörder in den Medien ein Recht auf Persönlichkeitsschutz? Eher nein.
„Eines Tages“, so brüstete sich der Todespilot Andreas Lubitz vor seiner Freundin, „werden dann alle meinen Namen kennen.“
Da hat sich Lubitz aber schwer getäuscht. Die Leser der Neuen Zürcher Zeitung kennen seinen Namen bis heute nicht.
Die NZZ gehört zu den wenigen Blättern weltweit, welche die Identität des bekanntesten Co-Piloten der Weltgeschichte nicht publik machten. Sie tarnte ihn unter dem Kürzel „Andreas L.“. Man wolle nicht in die Nähe des „Voyeurismus“ geraten, schrieb das Blatt.
Das war sehr ungewöhnlich. Den führenden Zeitungen und Zeitschriften dieser Welt, von New York Times über Guardian bis Spiegel, war unisono klar: Wer ein Flugzeug mit 150 Passagieren absichtlich in die Wand fährt, der hat kein Recht auf Persönlichkeitsschutz.
Nun, zumindest einen prominenten Verbündeten fand die NZZ in ihrer Strategie des Schweigens. Es war, wenig überraschend, das Schweizer Radio und Fernsehen, seit je schon eine Sofaecke des Gutmenschentums.
Es geht in unserem Beispiel natürlich nicht um Nachnamen oder Initialen. Es geht um Symbolik und Signalwirkung. Ob man Andreas Lubitz ausschreibt oder zu Andreas L. verkürzt, ist nicht eine Frage der Grammatik. Es ist eine Frage des journalistischen Charakters.
Wen wir kennen müssen
Journalisten müssen immer abwägen zwischen dem Persönlichkeitsrecht und dem Recht der Öffentlichkeit auf Information. Der Persönlichkeitsschutz ist relativ. Er erlischt immer dann, wenn jemand zu einer Person der Zeitgeschichte wird. Zeitgeschichte wird dann geschrieben, wenn eine individuelle Aktion nicht nur persönliche, sondern gesamtgesellschaftliche Auswirkungen hat.
Darum kennen wir in aktuellen Kriminalfällen wie etwa im Fall Jeton G. den Nachnamen des Delinquenten nicht. Wir müssen ihn nicht kennen. G. ist keine Person der Zeitgeschichte. Seine Untaten sind ohne gesellschaftliche Relevanz.
Von Andreas L. müssen wir hingegen den Nachnamen kennen. Er ist, wie selbst konservative Zeitungen wie die Times und die Frankfurter Allgemeine festhalten, ein „Massenmörder“. Er hat diese Gesellschaft zeitgeschichtlich verändert. Er hat das Sicherheitsdispositiv der Airlines auf den Kopf gestellt. Wir haben das Recht, zu erfahren, wer er ist und wie es dazu kommen konnte. Zeitgeschichte ist oft ein Gegensatz zu Zeitgeist. Zeitgeschichte drängt auf Aufklärung. Der heutige Zeitgeist drängt eher auf Verhinderung.
Dass auch die NZZ ins Lager der Verhinderung einzog, ist eher verwunderlich. Mit Eric G. hat sie eben einen neuen Chefredakteur installiert, der das schläfrige Blatt wieder auf Zack bringen soll. Schon beim ersten publizistischen Großereignis seiner Amtszeit reagierte er als bedächtiger Bedenkenträger. Erst die Sonntagsausgabe des Blattes, das Erfolgsprodukt des Hauses und geleitet von einem anderen Chefredakteur, nannte dann den vollen Namen des Co-Piloten.
Nun kann die NZZ allerdings für sich reklamieren, mit ihrem Stil durchaus in den Zeitgeist zu passen. Tatsächlich geraten Medien derzeit vermehrt unter Druck, wenn sie ihre Pflicht zur ungeschminkten Information wahrnehmen. Auch rund um Andreas Lubitz eskalierten manche Internetforen zu veritablen Podien der Medienkritik.
Die Medien, so der Vorwurf, hätten die Person Lubitz öffentlich seziert, in ihrem Vorleben und ihrer Krankenakte gewühlt und sie dämonisiert. Information wurde im Netz mit Rufmord gleichgesetzt. Die Medien, so ereiferten sich manche Internetnutzer, hätten den Massenmörder Andreas Lubitz in die Nähe von Adolf Hitler gerückt.
Adolf Hitler. Nicht Adolf H.
Erstveröffentlichung: Die Weltwoche vom 2. April 2015, S. 23
Bildquelle: Sebalot1/flickr.com
Schlagwörter:Germanwingsabsturz, Katastrophenberichterstattung, Klarnamen, Personen der Zeitgeschichte, Persönlichkeitsschutz, Vorverurteilung
Der unmögliche Vergleich im Schluss-Satz krönt einen Beitrag, den ich nicht ernst nehmen kann. Er lebt nur von Beispielen, die dem Autor in den Kram passen. Im übrigen ist die Diskussion in erster Linie darum gegangen, ab wann der Name des Kopiloten genannt werden konnte. Und danach muss man in die Diskussion einbeziehen, dass die Erhebung dieses Mannes in die Zeitgeschichte, Nachahmungstäter motivieren kann. Das alles fehlt in dieser kurzatmigen Einschätzung.