Alles, nur nicht proletarisch

24. August 2015 • Redaktion & Ökonomie, Redaktionsmanagement • von

Es ist einfach, als Blatt Erfolg zu haben. Man muss nur sechsmal das Gegenteil der anderen machen. 

Es gibt sechs Erfolgskriterien des Economists, mit denen eine gelungene Gegenkultur zu den geltenden Regeln auf europäischen Großredaktionen geschaffen wurde.

Es gibt sechs Erfolgskriterien des Economists, mit denen eine gelungene Gegenkultur zu den geltenden Regeln der europäischen Großredaktionen geschaffen wurde.

Nach 27 Berufsjahren auf der Redaktion schrieb John Micklethwait im letzten Januar einen speziellen Artikel. Es war das erste Mal in 27 Jahren, dass er über einen Artikel seinen Namen setzte.

Es war Micklethwaits Abschiedstext als Chefredakteur des britischen Economist. Das Adieu des Chefredakteurs, das editor’s farewell, ist die einzige Ausnahme, bei der das Wochenmagazin eine Namensnennung des Autors zulässt. Sonst erscheinen beim Economist alle Artikel anonym. Er ist weltweit der einzige große Titel mit diesem Inkognitoprinzip.

Der Medienkonzern Pearson hat seinen 50-prozentigen Anteil an dem renommierten Wirtschaftsmagazin verkauft. Nun hält die italienische Industriellenfamilie Agnelli mit 43,4 Prozent den größten Anteil. Aber auch der Verlag selber hat sich durch einen Aktienrückkauf einen keinen kleinen Teil gesichert.

Mit dem Economist, 170 Jahre alt, wurde die erfolgreichste politische Publikation der Welt verkauft. Das ist eine nähere Betrachtung wert. Denn der Economist ist zum Großerfolg geworden, weil er das völlige Gegenteil aller anderen Blätter tut. Sein konträres Erfolgsrezept lässt sich in sechs Punkten zusammenfassen:

1_Keine Egos: Nicht nur die Redaktoren, auch die Kolumnisten schreiben ohne Namensangabe und geben sich Pseudonyme wie Schumpeter oder Charlemagne. Nur das Blatt zählt. Die Nennung des Autors gilt als sachfremde Wichtigtuerei und darum als proletarisch.

2_Keine Längen: Der durchschnittliche Artikel im Economist umfasst etwa eine Magazinseite, dies auch zu komplexen Themen wie Euro-Krise und US-Außenpolitik. Umfangreiche Weltdeutungen gelten als intellektuelle Undiszipliniertheit und darum als proletarisch.

3_Keine Schreibkunst: Stilistische Spielereien wie Nebensätze und Adjektive sind verpönt. Das Blatt nennt sich darum newspaper, eine dürre Zeitung, obwohl es eine Zeitschrift ist. Sprachliche Brillanz gilt als gedanklicher Präzisionsmangel und darum als proletarisch.

4_Keine Enthüllungen: Scoops und Primeurs sind unerwünscht. Die Redaktion will keinen Enthüllungsjournalismus, sondern Erklärungsjournalismus. Investigativer Journalismus mit seiner Suche nach Aufdeckungen aller Art gilt als billige Verkaufsmasche und darum als proletarisch.

5_Keine Gratiskultur: Schon 2009 begann der Economist mit einer scharfen Reduktion des unentgeltlichen Internetangebots. Heute sind praktisch alle Inhalte zahlungspflichtig. Gratisangebote gelten als sozialistische Marktferne und darum als proletarisch.

6_Keine Großredaktion: Die feste Redaktion des Economist besteht aus neunzig Journalisten. Das ist etwa ein Viertel der Anzahl, die ein vergleichbares Magazin wie der Spiegel beschäftigt. Große Teams gelten als ineffiziente Qualitätsbremsen und darum als proletarisch.

Mit diesen sechs Erfolgskriterien schuf der Economist eine gelungene Gegenkultur zu den geltenden Regeln auf europäischen Großredaktionen. Dort sitzen viel zu viele selbstverliebte Schreibgockel, die seitenweise ihre vermeintlich brisanten Enthüllungen wortgewaltig ins Publikum posaunen.

Der Economist hat mit seiner spartanischen Zeitgeistverweigerung unglaublichen Erfolg. Die Auflage stieg mittlerweile auf 1,6 Millionen, fast das Vierfache wie noch vor zwanzig Jahren. 85 Prozent der Auflage werden inzwischen außerhalb des Königreichs abgesetzt. Der Umsatz liegt bei knapp 500 Millionen Franken, der Gewinn bei 90 Millionen. Kein anderer Wochentitel in Europa und den USA hat eine vergleichbare Performance vorzuweisen. Überall sonst sind Auflagen und Cashflows im steten Niedergang.

Und was lernen wir? Es geht ja. Es geht nur anders als bisher.

Erstveröffentlichung: Weltwoche vom 30. Juli 2015, S.27; leicht aktualisierte Version

Bildquelle: Schreenshot

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4 Responses to Alles, nur nicht proletarisch

  1. kdm sagt:

    Was hat der Autor mit seinem ständigen “proletarisch”? …zu Eigenschaften oder Tätigkeiten, die weitab von dem sind, was gemeinhin als “proletarisch” — sowohl mit Stolz bei einigen wie auch abwertend bei anderen — bezeichnet wird.

  2. W. Damit sagt:

    Tatsächlich kann man sich ein eigenes Abo für Spiegel usw. leicht sparen, in dem man den Economist liest. Ich finde es immer wieder drollig wenn einige Tage nach Erscheinen des aktuellen E. bestimmte Themen in die deutsche “Qualitätspresse” durchsickern. Offenbar gehört der E. auch zur Standardlektüre vieler Journalisten. 🙂

  3. Leser123 sagt:

    Naja, “keine Egos”…bei den Online-Artikeln erscheinen mittlerweile die Initialien der Autoren, die sich problemlos per Redaktionsübersicht zuordnen lassen. Und auf Twitter sind die Economist-Journalisten die ersten und eifrigsten, die auf die eigenen Artikel verlinken.

  4. Wenn man ein neues System will muß man das alte System loslassen.

    Fakt ist : Gewinne können immer nur dann entstehen, wenn ein Anderer
    Verluste hat. Und Armut kann nur durch Reichtum entstehen und Reichtum
    kann nur durch Armut entstehen.

    Laßt das alte System los und stellt die Bücher in die Bibliothek in das Regal für gescheiterte Wirtschaftswissenschaften.

    Vielleicht werden die Bücher in der Hausbibliothek der Enterprise im
    24. Jahrhundert der Ausleih-Renner als Nachtlektüre auf welchem Irrweg
    die Menschen im 21. Jahrhundert waren.

    „Ja, ich entsinne mich vom Ende der Lohnarbeit auf
    der Sternenflotten-Akademie gelesen zu haben. Die Lohnarbeit fand Mitte
    des 21. Jahrhundert durch die schuldgeldbedingte und verzinste hohe
    Produktivität, weil niemand mehr all den unnützen Plunder konsumieren
    wollte, ein schnelles Ende und wurde durch das Bedingungslose
    Grundeinkommen vollständig ersetzt – bevor man später gar kein Geld mehr
    benötigte“.

    Jean-Luc Picard vom Raumschiff Enterprise im 24. Jahrhundert

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