Können Journalisten es schaffen, über menschliches Leid so zu berichten, dass sie beim Leser stärkere Reaktionen auslösen? US-Journalismus-Forscher Scott Maier hat die Bemühungen eines Kolumnisten der New York Times gegen die Mitleidsmüdigkeit untersucht.
Mutter Teresa wusste aus eigener Erfahrung, was es heißt, mitleidsmüde zu sein: „Wenn ich nur auf die ganze Masse sehe, werde ich nie mit dem einen anfangen. Aber, wenn ich auf jeden einzelnen sehe, werde ich am Ende der ganzen Masse gerecht werden.“
Was Mutter Teresa aus ihrer persönlichen Erfahrung kannte, wurde von der Verhaltensforschung bestätigt: Menschen sehen das Leid eines Einzelnen als Tragödie an, geht es aber um das Leid Tausender, betrachten sie es mehr als eine zu vernachlässigende Statistik. Die Reaktionen auf die Veröffentlichung der Fotos des toten syrischen Flüchtlingsjungen, der Anfang September an einen Strand in der Türkei gespült wurde, sind ein trauriges Beispiel dafür. „Je mehr sterben, desto weniger interessieren wir uns dafür“, fasst US-Psychologe Paul Slovic das Phänomen zusammen.
US-Journalist Nicholas Kristof, Kolumnist bei der New York Times, hat sich von diesen Forschungsergebnissen beeinflussen lassen. Er bemühe sich immer darum, die Statistik hinten anzustellen und eine größere Geschichte an einem Einzelschicksal aufzuzeigen, so Kristof im Online-Magazin Co-Exist. Zudem berichte er in seinen Artikeln über Personen, die ihre aussichtslose Situation überwunden hätten und konzentriere sich nicht nur auf ihr Leid. Aus den Ergebnissen der Verhaltensforschung habe er zweifachen Nutzen ziehen können: „Um Leser anzuziehen, erzähle ich als erstes eine fesselnde Geschichte. Und als zweites zeige ich, dass es noch Hoffnung gibt, dass Fortschritt möglich ist.“
Aber macht diese Art der Berichterstattung wirklich einen Unterschied? Mittels einer Inhaltsanalyse und einer Mediadaten-Analyse hat der Autor untersucht, inwieweit Kristof die sozialpsychologischen Prinzipien anwendete und ob sie bei den Lesern eine Reaktion hervorriefen. Die Ergebnisse der Studie „Compassion Fatigue and the Elusive Quest for Journalistic Impact“, die kürzlich in der Fachzeitschrift Journalism and Mass Communication Quarterly veröffentlicht wurden, unterstreichen, dass es kein Allheilmittel gibt, das Journalisten nutzen könnten, um eine besonders starke Resonanz bei ihren Lesern hervorzurufen.
Wie die Untersuchung seiner in einem Zeitraum von 12 Monaten veröffentlichten Kolumnen ergab, wendete Kristof zwar Methoden an, die eindeutig darauf abzielten, die Mitleidsmüdigkeit der Leser zu überwinden. Die Folgen seiner Bemühungen waren allerdings nicht ersichtlich.
Kristof gab in seinen Texten tatsächlich auch harten Themen routinemäßig eine menschliche Note, wobei er seine Geschichte überwiegend an ein oder zwei Einzelschicksalen aufzog, die es geschafft hatten, das Elend zu besiegen. Seine Beiträge beinhalteten des Weiteren mobilisierende Informationen, die seine Leser zum Handeln auffordern sollten. Auf statistische Angaben verzichtete er aber nicht komplett, sondern fügte in seine Beiträge kleine Mengen quantitativer Informationen ein.
Um die digitalen Reaktionen der Online-Nutzer zu messen, nutzte die Studie eine breite Palette von Mediadaten wie Facebook-„Likes“, Verweise der Google-Blog-Suche, die Liste der am häufigsten gelesenen Beiträge aus der New York Times und den auf einem Algorithmus beruhenden Popularitäts-Index von Technorati. Keine dieser Mediadaten stand in einer signifikant positiven Beziehung zu Kristofs Art der Berichterstattung (Personifizierung, Überwindung einer aussichtslosen Situation, mobilisierende Informationen).
Auch die Ergebnisse der Verhaltensforschung, dass statistische Angaben beim Leser das Mitgefühl verringern, konnten von der Studie nicht bestätigt werden.
Allerdings stellte die Studie fest, dass die Reaktionen der Leser eindeutig vom Thema des Beitrags und der geographischen Nähe abhingen.
Wie erwartet, kam es zu einer starken und positiven Korrelation zwischen den Reaktionen und Themen, die für das US-Publikum von großem Interesse waren (z.B. Abtreibung, Israel-Konflikt, Präsidentschaftswahlen). Generell erzeugten Beiträge über die USA oder Kanada eine größere Resonanz bei den Lesern als Beiträge über das Ausland.
Es ist deshalb keine große Überraschung, dass Kristofs Kolumne über die Kampagne gegen Mobbing von Lady Gaga mehr Reaktionen hervorrief als die Kolumne über eine junge Frau, die aus einem Bordell in Kambodscha floh. Diese Ergebnisse machen deutlich, warum Medien gerne über Superstars und Sensationen berichten und entferntere Themen wie Menschenhandel relativ wenig Aufmerksamkeit bekommen.
Dennoch wäre es ein Fehler aus den Ergebnissen der Studie zu schlussfolgern, dass Kristofs Art der Berichterstattung wirkungslos bliebe.
Trotz seiner Vorliebe, über entfernte Themen zu berichten, schafften es seine Kolumnen regelmäßig in die Liste der beliebtesten Artikel der New York Times und seine Facebook-Seite hat mehr als eine halbe Million Fans. Wohltätigkeitsorganisationen, über die Kristof in seinen Kolumnen berichtet hatte, konnten sich laut eigenen Angaben nach der Veröffentlichung über mehr als 100.000 US-Dollar Spenden freuen. Offensichtlich hat Kristof mit seinen Kolumnen über die Entrechteten aus aller Welt eine große, engagierte Anhängerschaft aufgebaut.
Es ist in der Tat möglich, dass es Kristofs einzigartige Leserschaft ist, die den Effekt seiner Erzählgeschichten abschwächt. Als engagierte Leser könnten sie schon an die Art der Themen, die Kristof in seinen Beiträgen anspricht, gewöhnt sein. Bei ihnen würde dann harte Fakten eine größere Resonanz hervorrufen als eine Erzählgeschichte über ein Einzelschicksal. Die Tatsache, dass die meisten Reaktionen durch Informationen hervorgerufen wurden, die genaue Anleitungen zum Helfen gaben, stützt diese Vermutung.
Die Ergebnisse machen auch die Einschränkungen der Studie und ihrer Methode deutlich. Das Engagement des Publikums ist ein komplexes Phänomen, das nicht von einem Algorithmus oder einem Klickzähler gemessen werden kann. Um herauszufinden, welche Art von Berichterstattung es schafft, bei Menschenrechtsverletzungen öffentliche Empörung auszulösen, werden weitere Studien benötigt.
Diese Studie soll andere Kommunikationsforscher dazu ermutigen zu evaluieren, wie Sozialpsychologie die Berichterstattung über Völkermord und anderes Massenleid lenken kann. Ihre Antworten könnten dazu beitragen, die Berichterstattung über menschliches Leid effektiver zu gestalten und stärkere Reaktionen beim Publikum hervorzurufen.
Original-Version auf Englisch: Research: Stories, Not Statistics, Can Overcome Compassion Fatigue
Übersetzung: Tina Bettels-Schwabbauer
Bildquelle: Sandra Gonzales / Flickr.com
Schlagwörter:Amy Mitchell, Erzählgeschichten, Leid, Leser, Leserreaktion, mitleidsmüde, New York Times, Nicholas Kristof, Sozialpsychologie