„Totes Flüchtlingskind – Wir trauern“ titelt die Bild-Zeitung, „Flüchtlinge in München – Das schaffen wir“ die FAZ und die taz kommentiert „Grenzen dicht in Deutschland – Absurde Kehrtwende“: Die Schlagzeilen des Monats September wurden vom Thema „Flüchtlinge“ dominiert. Das EJO-Team hat die Berichterstattung dazu analysiert – hier ein Blick auf die deutschen Ergebnisse.
Besonders zu Beginn des Monats überwog ein extrem positiver Ton gegenüber Flüchtlingen in der Berichterstattung der untersuchten Medien. Die Anzahl der Artikel und inhaltlichen Schwerpunkte veränderten sich aber im Laufe der Zeit. Die Veröffentlichung der Bilder des toten Flüchtlingsjungen Aylan Kurdi (2. September), das Einführen der Grenzkontrollen in Deutschland (13. September) und der EU-Sondergipfel zur Flüchtlingspolitik (23. September) waren Ereignisse, die medial besondere Wendepunkte markierten. Das Team des European Journalism Observatory (EJO) hat in 24 Zeitungen aus 8 Ländern alle Artikel zu den Themen Flüchtlinge und Flüchtlingskrise analysiert, die an den beiden Tagen vor dem Ereignis, am Tag des Ereignisses und an den ersten beiden Tagen nach dem Ereignis veröffentlicht wurden. Das deutsche EJO-Team hat die Berichterstattung der linksorientierten taz, der rechtskonservativen Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) und der Boulevard-Zeitung Bild untersucht.
Das Forscherteam teilte dabei die Artikel in drei Kategorien ein: Geschichten, in denen das Schicksal der Flüchtlinge im Vordergrund stand, Beiträge, in denen es vor allem um die Auswirkung der Flüchtlingszuwanderung- und Krise im eigenen Land ging, Artikel, die über die Flüchtlingspolitik in der Europäischen Union berichteten, und Artikel zum Thema mit internationalem Bezug. Anschließend wurde die Berichterstattung über Flüchtlinge als positiv, negativ oder neutral kategorisiert.
Das erste untersuchte Ereignis, die Publikation der Bilder des Leichnams von Aylan Kurdi am Strand von Bodrum, hinterließ große mediale Spuren: Die taz veröffentlichte an den beiden Tagen vor dem Erscheinen zusammen so viele positive Berichte wie am Tag selbst und auch an jedem der beiden darauffolgenden Tage. Bei der FAZ und der Bild-Zeitung waren ähnliche, etwas abgeschwächte Veränderungen erkennbar. Doch nicht nur die Tendenz, sondern auch die Inhalte der Beiträge veränderten sich. Die taz verdreifachte nach dem Ereignis fast die Anzahl der Artikel, in denen das Schicksal der Flüchtlinge im Vordergrund stand.
Die Bild-Zeitung, die als Boulevardzeitung ohnehin ihren Schwerpunkt im gesamten Untersuchungszeitraum auf Geschichten über menschliche Schicksale gelegt hatte (38 Prozent aller Geschichten), verdoppelte sie. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung, die einzige der drei Zeitungen, die, wie sie kommentierte, vor allem aus Achtung vor der Menschenwürde über den Tod hinaus kein Bild des toten Jungen publizierte, blieb hingegen der von vor dem Ereignis gewohnten Anzahl an menschelnden Geschichten treu: Im Schnitt nur sieben Prozent aller FAZ-Beiträge.
Das zweite untersuchte Ereignis kommt aus dem Bereich der Innenpolitik: das Einführen der Grenzkontrollen in Deutschland. Dies blieb aber ohne merkliche Resonanz auf die Anzahl der publizierten Berichte aus eben dieser Kategorie. Insgesamt ging jedoch am Tag, als die Grenzkontrollen eingeführt wurden und nach diesem Ereignis der Tagesdurchschnitt der veröffentlichten Texte zur Flüchtlingsthematik in der FAZ um rund 30 Prozent und in der Bild um ein Viertel zurück. Für die taz, die insgesamt ihren Fokus mit 45 Prozent aller Bereiche auf innenpolitische Geschichten hatte, gilt das nicht. Sie veröffentlichte in dieser Zeit sogar 25 Prozent mehr Artikel . Auch der Tenor gegenüber Flüchtlingen war zu dieser Zeit in der taz am positivsten im gesamten Untersuchungszeitraum.
Während bei der taz dann zum Ende des Monats nur ein leichter Abschwung der positiven Berichte im Vergleich zur Anzahl von Anfang September festzustellen war, wurden bei der FAZ die positiven Texte deutlich weniger. Die FAZ hatte mit einer negativen Konnotation von 12,2 Prozent aller Berichte den größten Anteil negativer Texte. Im Vergleich dazu: Die taz hatte keinem einzigen negativen Text und in der Bild war nur ein einziger negativer Beitrag. Gerade die Bild-Zeitung überraschte mit dieser eher positiven Haltung angesichts vergangener, teils gerade mal ein Jahr alter Schlagzeilen wie „Asyl-Bewerber ergaunern 3,4 Mio. Euro“ und „Angst vor Attacken im Asyl-Hotel“. Die Boulevardzeitung verbreitete im September Willkommenseuphorie mit Beiträgen wie „Warum wir den Syrien-Flüchtlingen helfen müssen” und entlarvte „Sieben Vorurteile gegenüber Flüchtlingen“. Ende des Monats ging die Anzahl der Beiträge zur Flüchtlingskrise aber leicht zurück.
Eine Tendenz, die auch bei der FAZ erkennbar war– und das, obwohl das dritte untersuchte Ereignis, der EU-Sondergipfel zur Flüchtlingspolitik am 23. September, zur Kategorie „EU-Politik“ gehört, die vor allem die FAZ stark in ihren Artikeln beleuchtete (36 Prozent aller Beiträge). Stattdessen wurde nun in Artikeln gewarnt „Deutschland muss sich beim Thema Flüchtlinge auf ein Ende der emotionalen Höhenflüge vorbereiten“ und Schlagzeilen wie „Berlin beschlagnahmt Luxusimmobilien für Flüchtlinge“ publiziert. Ein Ton, zu dem die Bild-Zeitung dann erst Anfang Oktober zurückkehrte: „1,5 Millionen Flüchtlinge erwartet – mit Familien könnten es 7 Millionen werden“.
Eine internationale Kontextualisierung der Krise mit Artikeln, die zum Beispiel der Fluchtursache der Menschen auf den Grund gehen, war insgesamt gering. Die Bild-Zeitung verzichtete ganz auf Beiträge dieser Kategorie. Die FAZ hatte sich in vier, die taz in sieben Prozent der Beiträge mit den internationalen Aspekten befasst. Ob überfüllte Flüchtlingslager, Prognosen für den Arbeitsmarkt oder Aktionen von deutschen Politikern: Die Innenpolitik spielte für alle drei Medien eine wichtige Rolle. Weil eben diese Themen mit inländischer Perspektive am meisten in den untersuchten Medien publiziert wurden, lässt sich auch der Rückgang der Berichterstattung über Flüchtlinge möglicherweise auch mit der dann aufkommenden VW-Abgas-Affäre und dem DFB-Skandal erklären.
Wie in Großbritannien, Italien, Lettland, Polen, Portugal, Tschechien und der Ukraine über Flüchtlinge berichtet wurde, lesen Sie hier.
An der Analyse der deutschen Berichterstattung waren Tina Bettels-Schwabbauer und Anna Carina Zappe beteiligt.
Bildquelle: Franz Ferdinand Photography / Flickr CC
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