Heute wird es technisch. Wir erklären, wie die kuriosen Leserzahlen der Presse zustande kommen.
Die Monate Oktober und April sind in der Zeitungsbranche die Monate der Wahrheit. Dann erscheinen jeweils die neusten Leserzahlen der Presse.
In diesem Oktober erfuhren wir zum Beispiel, dass der Blick seit verganenem Jahr 120.000 Leser verloren hat. Die Schweizer Illustrierte verlor 80.000 Leser, die NZZ verlor 20.000 Leser.
Dafür gewannen der Rigi-Anzeiger 3.000 Leser und die Annabelle 20.000 Leserinnen hinzu. Die Wochenzeitung (Woz) erreichte gar 40.000 Leser mehr als vor einem Jahr.
Noch kurz zu den Größten. Die führende Abo-Zeitung ist mit 460.000 Lesern der Tages-Anzeiger. Das führende Magazin ist der Beobachter mit 850.000 Lesern.
So weit die Statistik, wenn man ihr glaubt. Das allerdings kann man mit guten Gründen unterlassen.
In Wirklichkeit sind die Monate Oktober und April in der Zeitungsbranche nicht die Monate der Wahrheit. Es sind allenfalls die Monate der Selbstbespiegelung. Denn die Art, wie die Leserzahlen erhoben werden, ist eher kurios.
Wir können das gut am Beispiel der linken Wochenzeitung aufzeigen. Innerhalb eines Jahres sprang ihre Leserzahl von 68.000 auf 107.000. Natürlich bejubelte die Redaktion diese “sehr erfreuliche Nachricht” gebührend im eigenen Blatt.
Seltsam daran ist allerdings, dass die gedruckte Auflage der Wochenzeitung in demselben Zeitraum praktisch unverändert blieb. Sie stieg nur um ein paar hundert Exemplare. Wie kann man also in einem Jahr 40.000 Leser neu gewinnen, wenn man gleich viele Zeitungen wie vorher verkauft?
Damit wären wir beim Problem dieser Pressewährung. Denn die Leserzahlen werden nicht hart gerechnet, sondern durch eine weiche Umfrage erhoben. Die AG für Werbemedienforschung (Wemf) interviewt zweimal im Jahr 10.000 zufällig ausgewählte Schweizer zu ihrem Medienkonsum. Am Telefon werden sie etwa gefragt, welche Titel sie “in den vergangenen sechs Monaten daheim oder auswärts gelesen oder durchgeblättert haben”.
Die Befragten sagen dann, sie würden die Wochenzeitung lesen oder durchblättern oder die NZZ oder die Annabelle.
Die Leserzahlen sagen also nicht aus, was die Leser lesen. Sie sagen aus, was die Leser sagen, was sie lesen.
Lesen-was-man-liest und Sagen-was-man-liest ist jedoch ein großer Unterschied. Darum haben beispielsweise Sexmagazine praktisch keine Leser. Wer gibt schon am Telefon zu, dass er sie gern konsumiert?
Einem ähnlichen Umfrage-Effekt unterliegen auch Zeitungen mit einem andersartigen Imageproblem. Im rot-grünen Basel etwa gilt es nicht als chic, die Basler Zeitung zu lesen. Sie kommt darum regelmässig auf zu tiefe Leserzahlen. Auch das Boulevardblatt Blick leidet unter derselben Verzerrung.
Andererseits kann die Erhebungsmethode auch nach oben verzerren. Damit wären wir zurück bei der Woz. Die letzte Telefonumfrage fiel genau in die heiße Phase um die Durchsetzungsinitiative. Die Linke war euphorisiert, weil sie spürte, dass sie die SVP an der Urne schlagen würde. In dieser Euphorie wollten nun alle plötzlich Wochenzeitung-Leser sein. “Es liegt nahe”, sagt auch die Wemf, “dass die Woz von dieser innenpolitisch stark aufgeladenen Zeit überdurchschnittlich profitieren konnte.”
Nun kann man sich fragen, ob es überhaupt solch verwirrende Leserzahlen braucht. Im Grunde braucht es sie nicht mehr. Sie stammen aus den Zeiten, als es in der Presse noch Inserate gab und die Werbung dafür eine Entscheidungshilfe benötigte.
Das Problem hat sich bekanntlich erledigt. Die meisten Zeitungen haben kaum noch Inserate – und die Wochenzeitung sowieso keine.
Erstveröffentlichung:Die Weltwoche vom 20. Oktober 2016
Bildquelle: flickr.com
Schlagwörter:Leserzahlen, Selbstbespiegelung, Statistik, Umfrage, Umfrage-Effekt