Die Ereignisse in der Silvesternacht 2015/16 in Köln haben deutliche Auswirkungen auf die Medien gehabt. Nicht nur, weil sich die Berichterstattung in den folgenden Monaten mit den Straftaten, Tätern und Opfern dieser Nacht auseinandersetzte, sondern auch, weil sie grundsätzlich als Schlüsselereignis prägend für die Kriminalitätsberichterstattung waren. Wissenschaftler der Universität München haben diese Auswirkungen auf die Medien nun untersucht.
In der Nacht zum Jahreswechsel 2015/16 ereigneten sich in Köln zahlreiche sexuelle Übergriffe, Diebstähle und Raubüberfälle. Es wurden 1600 Delikte angezeigt und gegen rund 200 Tatverdächtige, von denen etwa 85 Prozent erst vor kurzem nach Deutschland gekommen waren, ermittelt. Florian Arndt, Hans-Bernd Brosius und Patricia Hauck von der LMU München vermuteten daraus resultierend, dass in der Kriminalitätsberichterstattung nach den Ereignissen in Köln vermehrt die Attribute Ausländer, Migrationshintergrund, Asylbewerber und Nordafrikaner vorkamen. Sie untersuchten die Berichterstattung nach der Silvesternacht, welche entsprechend als Schlüsselereignis definiert war, mit einer quantitativen Inhaltsanalyse von drei Tageszeitungen (Süddeutsche Zeitung, Bild-Zeitung und Kölner Express). Dabei interessierte die Wissenschaftler vor allem Veränderungen in der Berichterstattung, die keinen direkten Bezug zum Schlüsselereignis hatten. Damit kamen sie bei ihrer Vollerhebung der Kriminalitätsberichterstattung auf 746 Artikel, die zwischen Anfang Dezember 2015 bis Ende Februar 2016 erschienen.
Das Schlüsselereignis, so die Ergebnisse, hatte signifikante Auswirkungen auf die Berichterstattung: Alle vier Attribute Ausländer, Migrationshintergrund, Asylbewerber und Nordafrikaner wurden nach der Silvesternacht häufiger erwähnt. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein ausländerspezifisches Attribut im Januar 2016 genannt wurde, stieg dabei um mindestens das Dreifache (bei „Ausländer“) bis zum fast Neunfachen (bei „Nordafrikaner“) im Vergleich zu den Werten aus Dezember 2015 an. Auch noch im Februar 2016 wurden alle vier Attribute häufiger erwähnt.
Außerdem kamen die Wissenschaftler zu dem Ergebnis, dass Beiträge generell ein höherer Berichterstattungsgrad – gemessen an der Textlänge und dem Vorhandensein von Bildern – hatten, wenn es sich um Täter mit ausländerspezifischen Attributen handelte.
Neben den Attributen, die die Täter betreffen, betrachteten sie auch näher die Art der Taten, über die berichtet wurde. Die Forscher gingen davon aus, dass nach der Silvesternacht auch der relative Anteil von sogenannten Sextaten, also sexuellen Übergriffen gegenüber Frauen, in der Berichterstattung über Straftaten angestiegen war. Waren im Dezember 2015 lediglich vier Prozent der berichteten kriminellen Taten Sextaten, erhöhte sich dieser Wert im Januar und auch im Februar 2016 auf 14 Prozent. Die Wahrscheinlichkeit, dass über Sextaten berichtet wurde, stieg also erheblich.
Erste statistische Daten des Bundeskriminalamts und Aussagen des Bundesinnenministers Thomas de Maizière wiesen darauf hin, dass der Anstieg nicht durch eine veränderte Nachrichtenlage, sondern durch veränderte Selektionskriterien der Journalisten versursacht wurde. Die Wissenschaftler gingen davon aus, dass neben der Ereignisselektion – Journalisten wählen aus verschiedenen Ereignissen eher die mit Tätern mit ausländerspezifischen Attributen aus – auch die Ereignismerkmalsselektion relevant ist.Hier geht es für Journalisten nicht um die Frage, ob sie über ein Ereignis berichten, sondern wie sie berichten, d.h. ob sie ausländerspezifische Attribute nennen.
Auf die Frage, warum die Journalisten ihr Selektionsverhalten geändert haben, konnten die Wissenschaftler mit ihren inhaltsanalytischen Befunden alleine keine Aussage treffen, hielten aber mehrere Prozesse für möglich: Zum einen könnten Journalisten selbst zu der Ansicht gelangt sein, dass es angebracht sei, spezielle den Köln-Taten ähnliche Ereignisse und Merkmale vermehrt in die Berichterstattung aufzunehmen. Des Weiteren wäre es möglich, dass die Journalisten durch äußere Faktoren wie zum Beispiel veränderte redaktionspolitische Vorgaben vermehrt in der genannten Form berichtet hätten. Zum anderen wäre es aber auch denkbar, dass sich bei einzelnen Journalisten unbewusst die Relevanzkriterien zur Auswahl der Nachrichten und Merkmale verschoben hätten. Zuletzt könnte zudem eine erhöhte Sensibilität der Bevölkerung u.a. zu mehr Anzeigen von Ereignissen „ähnlich wie in Köln“ geführt haben und so die Ausgangslage zur Nachrichtenselektion entsprechend geändert haben.
Alle vier Annahmen schienen den Forschern plausibel, die abschließend anmerkten, dass sich bei den Lesern die stereotypische Sicht verstärken könnte, wenn sie vermehrt den Medienstereotyp „krimineller Ausländer“ rezipierten. Letztendlich könnten auch Verhaltensänderungen begünstigt werden, die nicht förderlich für ein friedliches Miteinander in der Gesellschaft sind. Die abschließende Empfehlung der Wissenschaftler daher: Gerade im Hinblick auf die Richtlinie 12.1 des Pressekodex, die empfiehlt nur bei begründetem Sachbezug die Nationalität des Täters zu nennen, sollten Journalisten ihre Kriminalitätsberichterstattung reflektieren.
Arendt, F., Brosius, H.-B., & Hauck, P. (2017). Die Auswirkung des Schlüsselereignisses „Silvesternacht in Köln“ auf die Kriminalitätsberichterstattung. Publizistik, 2, 135-142.
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Schlagwörter:Asylbewerber, Ausländer, Bild, Kölner Express, Kriminalitätsberichterstattung, Migrationshintergrund, Nordafrikaner, Schlüsselereignis, Silvesternacht in Köln, Süddeutsche Zeitung
Ein kurzer Hinweis: Richtlinie 12.1 des Pressekodex fordert seit dem 22. März 2017 keinen “begründbaren Sachbezug” mehr, sondern ein “begründetes öffentliches Interesse”, und gibt dem Redakteur damit mehr Entscheidungsspielraum.
Oder anders ausgedrückt: Nichts genaues weiß man nicht.
Aber ganz, ganz sicher weiß man:
“Letztendlich könnten auch Verhaltensänderungen begünstigt werden, die nicht förderlich für ein friedliches Miteinander in der Gesellschaft sind. ”
Förderlicher für ein friedliches Miteinander wären z.B. Verhaltensweisen, die KEINE Berichterstattung nötig machen würden.
Andererseits braucht der halbwegs geneigte Leser ja auch keine Nationalitäten, weil er z.B. weiß, dass der Begriff “Großfamilie” selten die Meyers, Hubers oder Schmidts beschreibt.