Keiner korrigiert die Sünden der Vergangenheit aktiver als Ringier-Chef Marc Walder.
Im Jahre 2000 machte die Schweizer Presse einen Anzeigenumsatz von 3,0 Milliarden Franken. Inzwischen sind es 1,2 Milliarden. Im Jahre 2000 hatten die zwölf größten Zeitungen zusammen eine Auflage von 2,3 Millionen Exemplaren. Inzwischen sind es 1,4 Millionen.
Beide Abstürze sind die Folgen der Digitalisierung in der Information. Als erster digitaler Effekt wanderte die Werbung von den gedruckten Blättern ab, hin zu Google und Facebook. Als zweiter digitaler Effekt wanderten die Leser von den Zeitungen ab, hin zu Online-Angeboten.
Den ersten Effekt verschliefen die Zeitungshäuser, weil sie sich für unersetzlich hielten. Beim zweiten Effekt halfen sie noch kräftiger mit, indem sie ihre Inhalte gratis ins Internet kippten.
Medienmanager sind darum besonders sensibel, wenn es um den aktuellen Strukturwandel geht. Kaum eine andere Branche wurde von der Digitalisierung derart aus den Angeln gehoben. Am ehesten gilt das noch für die Reisebranche und die Musikindustrie.
Damit wären wir bei Marc Walder, dem CEO des Ringier-Konzerns. Vor zwei Jahren gründete er die Initiative „Digital Switzerland“. Ziel der NGO ist es, die Gesellschaft und Wirtschaft für den digitalen Wandel fit zu machen. Walder ist selber ein gebranntes Online-Kind. Vor zwanzig Jahren, als er dort Sportchef war, wies der Blick noch eine Auflage von 330.000 Exemplaren aus. Heute sind es 130.000.
Erst dachte die Medienbranche, es handle sich bei Walders Initiative um eine etwas durchsichtige Selbstinszenierung des Ringier-Chefs.
Inzwischen muss man dieses Urteil revidieren. 75 Unternehmen machen mittlerweile bei Walder mit. Firmenchefs wie Urs Schaeppi von der Swisscom, Lukas Gähwiler von UBS Schweiz, Susanna Ruoff von der Post und Joos Sutter von Coop sitzen im Steuerungsausschuss. Auch Tamedia und die NZZ-Gruppe sind im Boot. Das Jahresbudget liegt bei vier Millionen Franken, auf der Geschäftsstelle von „Digital Switzerland“ arbeiten zehn Angestellte.
Den größten Punktgewinn konnte Walder verbuchen, als im Juni die Bundesräte Doris Leuthard und Johann Schneider-Ammann ihr Projekt „Digitale Transformation“ vorstellten, das zwei Milliarden Franken in Ausbildung und Forschung investieren will. Walder und sein Team wurden dabei quasi zu Chefberatern der Regierung befördert. Am 21. November wird der erste Digitaltag der Schweiz stattfinden, mit einer großen Show im Zürcher Hauptbahnhof und einem Video-Wettbewerb für die Schulklassen des Landes.
Später Elan
Ganz uneigennützig ist das Engagement von Walder natürlich nicht. Er diagnostiziert bei sich inzwischen eine Form von „digitaler Obsession“, aber das Interesse von Ringier hat er auch in diesem Zustand nicht aus der Optik verloren. Mit dem Netzwerk von bald einmal achtzig Unternehmen und einer landesweiten Präsenz für sein Unternehmen kann man das Engagement auch unter Marketingkosten abbuchen.
Der digitale Elan kommt etwas spät. Er wäre den Verlagen ums Jahr 2000 zu wünschen gewesen. Doch damals galt in der Branche, was der damalige Verleger-Präsident Hans Heinrich Coninx so zusammenfasste: „Das Internet wird überschätzt.“
Auch Marc Walder, damals Chefredaktor der Schweizer Illustrierten, war ein Spätzünder. Als er im Jahr 2000 in einem Interview nach seinen Lesegewohnheiten gefragt wurde, nannte er ein Dutzend Blätter von NZZ bis Spiegel.
Über die digitale Welt sagte er: „Das Surfen im Internet ist mir zu langweilig.“
Erstveröffentlichung: Weltwoche vom 20. Juli 2017
Bildquelle: Screenshot
Schlagwörter:Digital Switzerland, Digitale Transformation, Digitalisierung, Internet, Marc Walder, Ringier