Studie: Die Flüchtlingskrise und ihr Bild in den Medien

17. August 2017 • Qualität & Ethik • von

Zu unkritisch? Zu politisch? Zu parteiisch? Eine Studie der Otto Brenner Stiftung zeigt auf, wie Tageszeitungen und Onlinemedien über die Flüchtlingskrise berichtet haben und will damit den allgemein ausgemachten Bruch zwischen Publikum und Medien erklären: Konform hätten sich die untersuchten Zeitungen an der politischen Elite orientiert und oft auch belehrend berichtet.

Der Medienwissenschaftler Michael Haller hat gemeinsam mit seinem Team und teils in Kooperation mit dem Informatik-Institut der Universität Leipzig die Berichterstattung über die Flüchtlingskrise in einem mehrschichtigen Verfahren untersucht. Sie analysierten die Intensität (Frequenz und Umfänge), die Art (Kontexte und Darstellungsformen), die Akteure (in Texten auftretende Personen und Einrichtungen) und die Sichtweise (Berichte und Kommentare) der Berichterstattung der Informationsmedien zum Thema „Flüchtlinge in Deutschland“ anhand von rund 35.000 Texten. Dafür rekonstruierten sie die Geschehnisse von Februar 2015 bis März 2016, identifizierten zehn Großereignisse und analysierten die redaktionellen Texte dazu.

Darüber hinaus wurden separat davon auch nur kommentierende Texte ausgewertet sowie die Themenkarriere des Schlüsselbegriffs „Willkommenskultur“ rekonstruiert und untersucht. Das alles wurde abschließend vor dem Hintergrund der deliberativen Demokratietheorie, der demokratischen Legitimität, des diskursiven Journalismus und der journalistischen Aufgabe, Kritik und Kontrolle des politischen Entscheidungshandelns wahrzunehmen, interpretiert. Diese komplexen Methoden, Vorgehen und Befunde sind in einem fast 200-seitigen Arbeitsheft veröffentlicht worden.

Medien und die Ereignisverläufe

Zur Rekonstruktion der Ereignisse wurden die Beiträge der Nachrichtenmedien Tagesschau sowie Spiegel Online und tagesschau.de rund um das Thema Flüchtlinge/Asylanten untersucht. Im ersten Halbjahr 2015 berichtete die Tagesschau im Durchschnitt nur etwa an jedem dritten Tag (10 bis 12 Mal pro Monat) über das Thema. Auch die Gesamtjahresübersicht aller Beiträge auf tagesschau.de und Spiegel Online belegt, dass bis Juli die Quote beider Medien relativ konstant bei unter 100 Publikationen im Monat lag, dann aber im August steil auf 546 (spiegel.de) bzw. 590 Beiträge (tageschau.de) anstieg. Im weiteren Verlauf des Jahres fiel die Kurve langsam (351/357 im September, 209/227 im Oktober) wieder fast auf den vorherigen Wert. Diese Kurve bilde, so Michael Haller, „erstens den zunächst geringen Stellenwert des Themas und dann die Dramatik der sich überstürzenden Ereignisse und der damit verbundenen Konflikte ab“.

 

 

Die Wissenschaftler vermuteten, dass die Vielschichtigkeit der Ereigniszusammenhänge sowie die Mehrdimensionalität der Ereignisebenen die Gründe für eine sehr schwache redaktionelle Selektionsleistung gewesen seien, die wiederum zu unüberschaubar vielen Beiträgen und einer Informationsüberflutung geführt habe. Diese könnte einige Mediennutzer kognitiv überfordert haben und es könnte sein, dass die selektive Wahrnehmung ihre Einstellungen geprägt habe. Um zu beantworten, wie die Wahrnehmung beeinflusst wurde, haben Haller und seine Mitarbeiter die Berichterstattung detaillierter analysiert.

Rekonstruktion und Analyse der Großereignisse

Dazu wurden die Ereignisse zunächst mit der Relevanz der Nachrichtenwerte „Nähe“ und „Konflikt“ und der Rezipientenwahrnehmung verknüpft. Daraus wurden zehn Großereignisse identifiziert – von dem Schreiben der drei Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann (Grüne), Malu Dreyer (SPD) und Volker Bouffier (CDU) an Angela Merkel, in dem sie ein Bleiberecht für junge Asylbewerber in Ausbildung forderten, über Ausschreitungen der Flüchtlingsgegner in Heidenau bis hin zur Grenzöffnung und den Ausschreitungen in der Silvesternacht 2015/2016 –  und anhand von Medienberichten unter Einbezug der Onlinemedien welt.de und focus.de rekonstruiert.

Die Inhaltsanalyse von 1687 Texten über eben diese Großereignisse aus den drei Tageszeitungen Frankfurter Allgemeine Zeitung, Süddeutsche Zeitung und Die Welt zeigt dabei zum einen, dass überwiegend nachrichtliche und meinungsbetonte Berichte gewählt wurden. Nur rund vier Prozent der Texte sind dialogisch (wie Interviews), nur rund sechs Prozent authentisch recherchierte Berichte und/oder erzählende Formen (wie Reportagen). Fast jeder fünfte Text hat hingegen eine kommentierende Form.

Die Studie stellt fest, dass zwei von drei relevanten Akteuren zur institutionellen Politik zählen. 43 Prozent sprechen dabei sogar für die Bundesebene. Jeder Fünfte vertritt eine ausländische politische Institution. Von den Akteuren, die einer Partei zugeordnet werden konnten, was ein Drittel aller relevanten Personen ausmacht, vertreten mehr als vier Fünftel eine der drei Regierungsparteien. Auch bei den meinungsbetonten Beiträgen (Leitartikel, Kommentare u. Ä.) bestätigen sich die zuvor angeführten Ergebnisse: Auch hier gehören sieben von zehn relevanten Akteuren zur politischen Elite.

Zweitgrößte Gruppe der Akteure in allen Beiträgen sind mit neun Prozent Vertreter der Judikative (Polizei, Strafverfolger, Gerichte, Anwälte). Helfergruppen und Freiwillige sind nur zu rund fünf Prozent Hauptakteure. Die Hauptbetroffenen, also Flüchtlinge, Asylsuchende oder Migranten, sind nur zu circa vier Prozent auch Hauptakteure der Texte.

Bei der Analyse der Position der Berichterstattung stellt die Studie fest, dass der „journalistische Qualitätsgrundsatz, aus neutraler Sicht sachlich zu berichten“, in gut 50 Prozent der Berichterstattung der untersuchten Medien nicht zutrifft. „Insbesondere die Art und Weise, wie über die Positionierung eines Politikers berichtet wird“, so Michael Haller „ist oftmals wertend und beurteilend, bei Vertretern der Opposition mitunter auch ‚von oben herab‘“.

Medienspezifische Ergebnisse

Ein genauerer Blick auf die einzelnen Medien zeigt allerdings deutliche Unterschiede in der Berichterstattung über Flüchtlinge: Die Welt berichtete am umfassendsten und mit einer breiten Fächerung der Akteure. Sie hielt sich, so konstatiert die Studie, im relativen Vergleich zur FAZ auch mit redaktionellen Meinungsäußerungen stark zurück: „In ihren Kommentaren verfocht sie indessen am deutlichsten eine opportunistische, mitunter auch neoliberale Position und klammerte die Menschenrechtsdebatte aus.“

Die Frankfurter Allgemeine Zeitung hatte mit 36,5 Prozent aller Beiträge prozentual die meisten Beiträge und nahm zur Flüchtlingspolitik im Vergleich häufiger eine skeptische oder kritische Position ein. Dabei waren ihre Berichte eher sachlich-neutral. Auch wurden von ihr relativ mehr Berichte über „grundwertige Kontroversen“ veröffentlicht.

Die Süddeutsche Zeitung veröffentlichte am häufigsten authentische Vor-Ort-Berichte und Reportagen über Gewaltaktionen ultrarechter Gruppen. Ihre Berichte über die politische Elite sind mit 29 Prozent relativ häufig aus einer übergeordneten, allwissenden Perspektive verfasst.

 

 

Wie die Studie zeigt, stellten die Ereignisse der Silvesternacht 2015/2016 in Köln einen Wendepunkt für die Berichterstattung dar. Im ersten Quartal 2016 wird die Tonalität der Zeitungsberichte zurückhaltender, in Bezug auf die Praxis der Flüchtlingspolitik auch skeptischer. Es kommen dabei auch vergleichsweise deutlich weniger Akteure der politischen Ebene zu Wort.

 

 

Analyse der Kommentare

Neben der Berichterstattung insgesamt wurden gesondert auch noch die meinungsäußernden Darstellungsformen untersucht. Dabei wurden alle kommentierenden Texte der drei schon untersuchten Zeitungen plus die der Bild-Zeitung zwischen Ende Juli und Anfang Oktober 2015 qualitativ analysiert. Insgesamt sind 136 meinungsbetonte Texte identifiziert worden.

Die intensivste Kommentiertätigkeit ließ sich bei der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, die geringste bei der Welt bzw. der Bild-Zeitung ausmachen. Dabei lässt sich auch hier bezogen auf die Breite des Diskurses aus der Studie erkennen, dass die Kommentatoren der vier Leitmedien in ihren Meinungsbeiträgen größtenteils auf die politische Elite fixiert blieben.

Willkommenskultur

Ein Begriff hat besonders den Untersuchungszeitraum dominiert und eine steile Themenkarriere hingelegt: die „Willkommenskultur“. Es wurden 85 Regionalzeitungen unter die Lupe genommen, in denen das Narrativ der „Willkommenskultur“ in rund 26.000 Texten ausgemacht wurde. Von diesen wurden rund 17.000 einer morphologischen Analyse mit dem Verfahren des Textminings unterzogen. Dabei zeigt sich, dass in der Regionalpresse zum Thema „Willkommenskultur“ oft nur eine Partei zu Wort kommt. In 2015 erschienen rund doppelt so viele monologisch berichtende Texte wie dialogische oder diskursive. Michael Haller stellt fest: „In der Tagespresse wurde unseren Befunden zufolge das Narrativ ‚Willkommenskultur‘ als moralisch intonierte Verpflichtungsnorm ‚top-down‘ vermittelt.“

Medienecho

Die Studie von Michael Haller und seinen Mitarbeitern hat ein gewaltiges Medienecho hervorgerufen. Und das nicht mit einer Kritik am methodischen Vorgehen der Studie, weil beispielsweise die zehn relevanten Ereignisse durch eine begründete Ereignisbewertung von jedem der fünf am Projekt tätigen Mitarbeiter und eine anschließende moderierte Gesprächsrunde festgelegt wurden. Auch nicht, weil Hallers Interpretation der Ergebnisse nicht immer gleich anhand der Daten ersichtlich sein mag. Sondern, weil die Medien selbst ein zu scharfes Fazit aus der Studie gezogen haben. So war die Studie vorab der Zeit zur Verfügung gestellt worden, welche daraufhin titelte: „Studie der Otto Brenner Stiftung: Medien haben in der Flüchtlingskrise versagt“. Ihr Tenor wurde von anderen Publikationen sofort aufgegriffen. Die Medien hätten in der Flüchtlingskrise völlig versagt, wurde beim Medien-Branchendienst turi2 weiterführend getextet und das Onlinemagazin Telepolis fasste die Studie mit den Worten zusammen, dass Zeitungen eher Volkserzieher als kritische Beobachter gewesen seien und überhebliche Pädagogik die Information präge.

Ein Medienbashing ist so aber aus der Studie nicht zu lesen. Vielmehr gelingt es Haller mit der Studie, für den allgemein festgestellten Vertrauensverlust zwischen Publikum und Medien (Stichwort „Lügenpresse“) eine Erklärung zu formulieren: Die ausgemachte Konformität der Medien mit ihrer Orientierung an den (politischen) Eliten und der teils bevormundende Tenor hätte in einer Phase unüberschaubar vieler Beiträge dazu geführt, dass eine selektive Wahrnehmung die Einstellungen der Leser prägte. Ein Fazit, was im Kontext der „Versagensdebatte“ beinahe untergeht.

Die Studie ist auf der Website der Otto Brenner Stiftung als PDF zum Download erhältlich.

Bildquelle: Stephan Dinges / Flickr CC: Train of Hope, Frankfurt, Germany; Lizenzbedingungen: https://creativecommons.org/licenses/by-nc/2.0/

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