Weltwoche 10/ 2008
Die Sun taucht, die Bild taucht, der Blick taucht. Die Schweizer müssen als Erste nun einen rigorosen Richtungswechsel wagen.
Es war ein Skandal, Ausrufezeichen. Es war ein Drama, Ausrufezeichen. Es war eine Katastrophe, Ausrufezeichen.
Aber es war nicht mehr zu verhindern. Anfang 2008 sank die Auflage der Sun unter drei Millionen Exemplare. Zuletzt versuchte das britische Boulevardblatt, den Rutsch unter die psychologisch wichtige Barriere mit verzweifeltem Dumping aufzuhalten, und verkaufte den Titel teilweise für 20 Pence.
Überall auf dem Boulevard brechen die psychologischen Schranken der Auflagezahlen. Die österreichische Kronenzeitung rutschte unter die Millionengrenze. Englands Daily Mirror sank auf das historische Tief von weniger als 1,5 Millionen. Der Blick liegt seit Ende 2007 erstmals unter der Marke von 250000.
Vordergründig erklärt sich der Niedergang mit dem Aufstieg der Gratispresse. Das ist nur teilweise richtig. In Deutschland und in den USA, wo Gratistitel inexistent oder schwach sind, verliert der Boulevard genauso viel wie anderswo. Die Bild ist mittlerweile bei 3,3 Millionen angekommen, 1 Million weniger als noch vor sieben Jahren. Auch die Daily News in New York sind von der früheren Million auf 690000 Copies abgestürzt.
Die bessere Erklärung ist, dass sich der Boulevard in den gesamten Journalismus ausgedehnt hat. Die Freuden und Leiden der Misses, Models und Moderatoren finden sich in jeder Regionalzeitung und erst recht im Internet. Bei populistischen Kampagnen um Managerlöhne unterscheidet sich eine klassische Zeitung wie der Tages-Anzeiger im Skandalisierungs-Handwerk kaum mehr vom Blick. Die Grenzen der Genres verwischen.
Die Tabloids haben zwei Möglichkeiten. Sie können erstens die verwischten Grenzen wieder konturieren. Dann gehen sie in Richtung Krawalljournalismus, mit Elementen wie Prominentenjagd, Voyeurismus und Gruselkabinett. Das Rezept funktioniert kaum mehr. Die Sun etwa hat diesen Hardcore-Stil zuletzt konsequent inszeniert. Der Auflage hat es nicht geholfen.
Die Tabloids können zweitens die verwischten Grenzen akzeptieren. In diesem Fall profilieren sie sich eher mit emotiven Faktoren à la TV: grosse Gefühle, genuine Geschichten, gute Inszenierungen. Der Blick geht nun diesen Weg. Der Weg führt über längere Texte, Reportagen und eine gefühligere Grundstimmung. Folgerichtig schwört man auch endlich dem verbiesterten Sozialismus ab. Die Korrektur kommt spät, vielleicht zu spät. Aber sie geht in die Richtung, die noch Erfolg verspricht.
So bleibt im Rückblick ein einzigartiges Paradox. Selten hat eine Zeitung eine derartige Chance gehabt wie der Blick, und selten hat eine Zeitung diese Chance dermassen verspielt. In den letzten zwanzig Jahren erlebten wir den unvergleichlichen Aufstieg der SVP, die mit populistischen Themen ihren Wähleranteil fast verdreifachte. Parallel dazu erlebten wir den unvergleichlichen Abstieg des Blicks, der in diesen zwanzig Jahren seine Auflage fast halbierte.
Interessant ist, wo der Blick heute stünde, hätte er die Chance genutzt. In diesem Fall wäre er wohlig und volksnah im Strom der Themen um Sicherheit, Swissness und Sozialmissbrauch mitgeschwommen, statt eine Abwehrschlacht gegen Christoph Blocher anzuzetteln. Sicher ist: Die Spitzenauflage von 382000 aus dem Jahre 1986 hätte er auch dann nicht halten können. Dazu sind die strukturellen Probleme des Boulevards zu gross. Aber auf 240000 wäre er auch nicht getaucht.
Vergleicht man mit internationalen Standards, kann man es ausrechnen: Ohne die hausgemachten Dummheiten läge die Blick-Auflage heute bei etwa 285000.