Impfung gegen Desinformation

11. Juni 2019 • Aktuelle Beiträge, Qualität & Ethik • von

Warum wir Zweckbündnisse von Wissenschaft und seriösem Journalismus brauchen.

Auf den ersten Blick mögen Allianzen von Journalismus und Wissenschaft im Kampf gegen proliferierende Desinformation naheliegend erscheinen: Journalismus und Wissenschaft sind, soweit sie seriös handeln, die beiden wahrheitssuchenden Systeme unserer freiheitlich-demokratischen Gesellschaft. Sie sind natürliche Bollwerke gegen die überbordende Flut von Fake News, Konspirationstheorien und Propaganda. Beide Systeme sind aber auch durch Fehlentwicklungen gefährdet.

Könnten, ja sollten Journalisten und Wissenschaftler im Kampf gegen Desinformation – jeweils auf einzelne Berichterstattungsthemen bezogen – „Allianzen für die Aufklärung“ schmieden? Und wenn ja, wie hätten sie auszusehen?

Wie Mars und Venus

Ein paar Einwände liegen erstmal nahe: Wissenschaft und Journalismus bewegen sich in gänzlich verschiedenen Umlaufbahnen – sozusagen wie Mars und Venus. Kommunikationsversuche gibt es selten. Die Schnittmenge für gemeinsame Aktivitäten ist denkbar klein. Womöglich entfernen sich beide derzeit sogar weiter voneinander – und verselbständigen sich auch gegenüber ihrer jeweiligen ethischen Selbstverpflichtung aufs Gemeinwohl.

Beider Entwicklung ist obendrein von zwei gegenläufigen Trends geprägt, welche die Bereitschaft Einzelner zu vermehrtem Engagement erheblich beeinflussen dürften: von Professionalisierung und Prekarisierung.

Die Professionalisierung ist im Journalismus über Jahrzehnte hinweg vorangekommen, es gibt stärker als früher einen Grundkonsens über journalistische Spielregeln. Indes hat die ökonomische Krise die Medienbranche ausgebremst und gegenläufige Prekarisierungs-Tendenzen befördert. In vielen Redaktionen wurden Stellen abgebaut, zuvor schon Honorare bei freien Mitarbeitern eingespart; miserabel oder gar nicht bezahlte Praktika vermehrten sich. Das Arbeitsklima hat sich verschlechtert. Die Möglichkeiten, zeitaufwändig im Wissenschaftsbetrieb zu recherchieren und die Bereitschaft von Journalisten, sich zu exponieren, nehmen ab.

Absurde Kriterien der Leistungsmessung

Im Wissenschaftsbetrieb gibt es ähnlich gegenläufige Tendenzen: Spezialisierung und Leistungsdruck haben dramatisch zugenommen, der Hürdenlauf zur Professur ist lang: Die Erwartung, frühzeitig Drittmittel einzuwerben und möglichst viel in angelsächsischen Fachzeitschriften zu publizieren („Publish or perish“), begünstigen Fachidiotentum: Erarbeitete Forschungsergebnisse werden auf  mehrere Fachzeitschriftenbeiträge verteilt. Drei Journal-Artikel machen in der eigenen Publikationsliste mehr her als eine Buchveröffentlichung. Mit der Zusammenschau wissenschaftlicher Erkenntnisse lässt sich kein Lorbeer gewinnen. Somit fehlt oftmals der Überblick: Schon 1982 beklagte der Biochemiker Erwin Chargaff die vielen wissenschaftlichen Tiefbohrungen ohne Querverbindungen.

Umgang mit Differenzen, widersprüchliche Erwartungen

Fachkollegen entscheiden mehr oder minder anonym über Publikationsplätze und Drittmittel-Ausschüttung. Dieses System des Peer review führt dazu, dass sich Forscher in alle Himmelsrichtungen gegen denkbare Kritik absichern – und in ihrer Tretmühle weiterstrampeln, statt mutig Neues zu wagen. Eigentlich gehören zu produktiver Forschung ja Differenzen, Dissense, Diskurse sowie widersprüchliche Erkenntnisse. Doch dies wird inzwischen vielfach unter den Tisch gekehrt – auch aus Prekarisierungs-Angst bei Nachwuchsforschern: Man überlegt sich, wen man attackiert. Schon die Präsentationsformate auf den meisten wissenschaftlichen Konferenzen – zehn Minuten Vortrag, fünf Minuten Diskussion, der Nächste, bitte – erschweren konstruktive Kritik.

Das Englische wirkt als neue Sprachbarriere. Es ist zur „lingua franca“ des Forschungsbetriebs geworden. Der Preis dafür ist hoch. Nichtwissenschaftler werden so von der Kommunikation ausgeschlossen, weil außerhalb des Forschungsbetriebs so gut wie niemand wissenschaftliche Fachtexte in einer Fremdsprache liest. Recherchierenden Journalisten wird ihre Arbeit erschwert – allen Diskussionen um „open access“ zum Trotz.

Hinzu kommen widersprüchliche Erwartungen: „Normalmenschen“, darunter viele Journalisten, erhoffen sich von der Wissenschaft Eindeutigkeit. Sie soll politischen Streit im Namen von Rationalität und Aufklärung schlichten. Genau das kann sie aber oftmals nicht – zumal Forschungsfortschritt ja oftmals durch das Infragestellen vorhandener Erkenntnisse entsteht.

Überschrittene Kompetenzgrenzen

Vielen Journalisten geht es bei ihren Recherchen zudem nicht vorrangig um Wahrheitsfindung – sonst müssten sie auf die Auswahl ihrer wissenschaftlichen Quellen mehr Sorgfalt verwenden. Stattdessen sollen leider oftmals Beiträge nur schnell mit „etwas Wissenschaft“ garniert werden. Schlimmer noch, es werden gerne Forscher eingespannt, deren Aussage sich schon vorher abschätzen lässt. Medienerfahrene Wissenschaftler liefern das Gewünschte schnörkellos in 40 Sekunden – und überschreiten dabei die Grenzen ihrer fachlichen Kompetenz. Derlei Fehlverhalten hilft wiederum zu erklären, warum andere Wissenschaftler sich der Medienmaschinerie nicht ausliefern wollen. Das Risiko, Reputation zu verspielen, ist groß: Was ein Forscher gesagt hat, geben Journalisten mitunter ungenau wieder und reißen es aus dem Kontext. Im Blick auf die eigenen Karrierechancen lässt sich kein Blumentopf gewinnen – solange jedenfalls nicht, wie Forschungsförderungs-Instanzen Medienpräsenz nicht explizit honorieren.

Das Kooperationspotential – realistisch eingeschätzt

Mit kleinen Schritten zu beginnen, wäre trotzdem einen Versuch wert: Journalisten und Wissenschaftler können sich wechselseitig unterstützen. Gerade weil sie mit unterschiedlichem Fokus und mit verschiedenen Zeithorizonten arbeiten, ergänzen sie sich. Forscher suchen nach Gesetzmäßigkeiten und arbeiten sich meist längerfristig an ihren Fragestellungen ab. Journalisten interessieren sich eher für Ausnahmezustände und Überraschungen – und jagen am liebsten täglich eine neue Sau durchs Dorf. Das heißt freilich auch, dass Wissenschaftler oftmals das aktuelle Nachrichtengeschehen mit Hintergründen anreichern und erklären könnten. Vieles könnte in der Wissenschaftskommunikation mit mehr Goodwill auf beiden Seiten anders sein.

Wie die Kooperations-Netzwerke im Detail auszugestalten wären, kann zwar nicht Gegenstand dieses Beitrags sein – die jeweiligen Allianzen sähen je nach Forschungs- und Berichterstattungsthema (also z.B. bei Krebstherapie, Klimawandel oder Digitalisierung) anders aus. Im Kern ginge es allerdings darum, Anreizsysteme zu verändern, damit Journalisten vermehrt auf wissenschaftliche Quellen zurückgreifen und Forscher häufiger den Elfenbeinturm verlassen. Dann könnten Journalisten über komplexe Themen angemessen berichten, statt Unsinn zu verbreiten, mit dem sie vielfach von dritter Seite gefüttert werden. Die Wissenschaftler würden in den Medien mit ihrer fachlichen Kompetenz brillieren, und ihre verstärkte Präsenz könnte Desinformation entgegenwirken.

Was kann jeder einzelne Forscher, jeder einzelne Journalist ganz praktisch tun? Eigentlich geht es um die perfekte Win-win-Situation: Journalisten könnten bei ihren Recherchen die nahezu unerschöpflichen Ressourcen des Wissenschaftsbetriebs stärker einbeziehen. Die Mitarbeiter in den Kommunikationsstäben der Universitäten sollten dabei Journalisten den Zugang erleichtern helfen. Diese bekämen so Informationen und Erklärungen, die meist verlässlich sind, und oftmals auch Stoff für neue Stories. Wissenschaftler hätten die Chance, ihr Wissen mit Journalisten zu teilen. Sie erhielten öffentliche Aufmerksamkeit, die sich bei seriöser Berichterstattung eben doch auch in Reputations-Zugewinn ummünzen lässt.

Es gilt allerdings, noch ein fundamentales Missverständnis auszuräumen: Die vorgeschlagenen Allianzen sind und bleiben Zweckbündnisse begrenzter Reichweite. Es geht nicht darum, Journalisten und Wissenschaftler unter dieselbe Bettdecke zu stecken.

Wissenschaftler müssen akzeptieren, dass Journalisten ihre Arbeit hinterfragen. Der Karlsruher Philosoph Helmut Spinner hat dazu in den 80er Jahren das Nötige gesagt. Er wies darauf hin, dass der „findige“ Wissenschaftsjournalist „eigenständige Erkenntnisarbeit in problemlösender Absicht“ leistet und „weder Kumpan noch Konkurrent des Wissenschaftlers“ ist, „sondern dessen funktionelles Komplement, das die Informationslage um Beiträge ergänzt, welche die Wissenschaft nicht erbringen und die Wissensgesellschaft nicht entbehren kann“. Das mag hochgestochen klingen, trifft aber einen wunden Punkt. Es geht um Verbundenheit in kritischer Distanz: Gemeinsames Interesse an Wahrheitssuche, aber auch klar definierte Rollenabgrenzung.

Solch ein (Wissenschafts-)Journalismus, der Distanz zum Forschungsbetrieb wahrt und trotzdem Brücken zwischen der Wissenschaft und der Gesellschaft baut, kommt uns mehr und mehr abhanden. Er wurde zunehmend durch Wissenschafts-PR ersetzt, die das Mediensystem mit „guten“ Nachrichten aus der Forschung, mit oftmals aufgepeppter „Science light“ versorgt und „kolonisiert“, statt den Forschungsbetrieb auch zu durchleuchten. Dabei gehörte es natürlich von Journalisten aufgedeckt, wenn in der Wissenschaft Gravierendes schiefläuft.

Voraussetzung für Glaubwürdigkeits-Rückgewinn von Journalismus und Wissenschaft wäre zudem, dass sich auf beiden Seiten die Akteure von den schwarzen Schafen in den eigenen Reihen mutiger abgrenzen. Denn diese untergraben von innen heraus das Vertrauen in ihre Institutionen. Bekanntlich kratzt keine Krähe der anderen ein Auge aus. Somit ist weder vom Journalismus noch von der Wissenschaft zu erwarten, dass sie im Übermaß Selbstreinigungskräfte mobilisieren werden. Deshalb sind hier beide Systeme auf Gegenseitigkeit gefordert: Die Medienforschung hätte (im Verbund mit der „fünften Gewalt“, einem funktionierenden Medienjournalismus, den es freilich außerhalb von Fachmedien kaum noch gibt), dafür zu sorgen, dass der Journalismus „clean“ gehalten wird und Skandale wie den um Claas Relotius angemessen aufgearbeitet werden. Der (Wissenschafts-)Journalismus hätte größere Anstrengungen zu unternehmen, um im Forschungsbetrieb in ähnlicher Weise – zum Beispiel bei wissenschaftlichen Fälschungs- und Plagiatsskandalen – eine Kontrollfunktion als „Fourth estate“ auszuüben.

Netzwerke und Selbstorganisation als Chance

Im Lauf der Jahre hat es wiederholt Versuche gegeben, mehr Zusammenarbeit zwischen Journalismus und Wissenschaft zu fördern – angefangen bei Förderprogrammen für den Wissenschaftsjournalismus verschiedener Stiftungen bis hin zu jüngsten Initiativen wie dem Science Media Center in Köln, das Journalisten bei der Recherche mit wissenschaftlichem Sachverstand unterstützt, oder einer Charta, die kürzlich Martin Eisenegger (Universität Zürich), Larissa Krainer (Universität Klagenfurt) und Marlis Prinzing (Macromedia Hochschule Köln) lanciert haben. 77 Erstunterzeichner und weitere 140 Medienforscher tragen die Initiative zur Intensivierung der Kommunikation mit den Medien mit. Auch das von mir mitbegründete, inzwischen 15-sprachige Netzwerk des European Journalism Observatory wirkt in diese Richtung, indem es Erkenntnisse der Medienforschung an die Medienpraxis heranträgt und zugleich Brücken zwischen den Journalismus-Kulturen Europas baut.

Insgesamt geben die skizzierten Entwicklungen freilich keinen Anlass für großen Optimismus. Andererseits lässt sich informelle Kooperation mithilfe sozialer Netzwerke viel leichter als früher organisieren. Dank Plattformen wie Facebook, Twitter, und Researchgate kann jeder Journalist und jeder Wissenschaftler dezentral sein eigenes Netzwerk aufbauen und pflegen – und damit auch in die Sphäre „der anderen Seite“ hineinwirken, um gemeinsam die demokratische Öffentlichkeit gegen Desinformation zu impfen.

Erstveröffentlichung: Schweizer Journalist 03/2019

EJO-Gründer Stephan Russ-Mohl war bis 2018 Professor für Journalismus und Medienmanagement an der Università della Svizzera italiana in Lugano. Dieser Text ist ein weiterer Auszug seiner Abschiedsvorlesung vom 28. Mai 2019. Zu Teil I seiner Abschiedsvorlesung – “Eine europäische Öffentlichkeit wäre überaus wichtig” – geht es hier

Bildquelle: pixabay.com

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