Der Spiegel-Fälschungsskandal entfachte die Diskussion darüber, ob Fakten und Realität mit Erzählung und Unterhaltung überhaupt kompatibel sind.
Als im vergangenen Jahr der Fälschungsskandal rund um Claas Relotius beim Spiegel aufflog, geriet nicht nur das Nachrichtenmagazin in Verruf, sondern gleich ein ganzes journalistisches Genre: die Reportage. Relotius, Gewinner von mehr als 40 Journalismuspreisen und einer der Superstars der Branche, hatte serienweise Reportagen mit falschen Details ausgeschmückt sowie Zitate, Szenen und Charaktere frei erfunden. Oft hatte er weder mit Personen gesprochen noch Orte besucht. Aufgedeckt wurde der Skandal von Juan Moreno, einem freien Autor beim Spiegel, dessen Buch „Tausend Zeilen Lügen“ soeben erschienen ist.
Die Aufarbeitung des Skandals verlief mustergültig, und eine interne Kommission legte einen detaillierten Bericht zum Versagen der Kontrollmechanismen beim Spiegel vor. Doch neben einer fundierten Analyse von Schwachstellen kam die Kommission auch zu einer fragwürdigen Schlussfolgerung: Die Stilform der Reportage sei „möglicherweise für Fälschungen besonders anfällig“. Außerdem hieß es: „Die Reportage ist eben nicht nur eine Form und damit unschuldig. Sie verführt zur Fälschung und macht das Aufspüren der Fälschung oder Verfälschung schwer.“
Das Ende der überparfümierten Reportage
Dieses Thema, die Reportage als Problem an sich, war auch öfters in der veröffentlichten Meinung zu hören. „Jedem Journalisten wird eingetrichtert, er müsse Geschichten erzählen, um das Publikum bei Laune zu halten“, schrieb etwa Rainer Stadler in der Neuen Zürcher Zeitung. „Doch die Realität ist oft sperrig und lässt sich schlecht in runde Erzählungen zwängen. Gerade für Wortmächtige ist dann die Versuchung groß, das bruchstückartig Bekannte durch Einbildungskraft publikumsattraktiv zu veredeln.“ Und in der Zeit hält Holger Stark zwar fest, dass die Relotius-Affäre nicht das Ende der Reportage sei. „Aber die Kunstform der makellosen, überparfümierten Reportage, die den Leserinnen und Lesern vorgaukelt, die ganze Welt im Schicksal einer Person erzählen zu können, und mit der Figur des allwissend-auktorialen Erzählers dabei ist, wenn es knallt und raucht und funkt – diese cineastische Kunstform muss spätestens jetzt am Ende sein; genau genommen ist sie es schon länger. Sie hat einen Schönheitswettbewerb hinter sich, der so nicht weiter stattfinden darf.“
Man muss weder Relotius verteidigen noch seinen Stil mögen, um diesen Generalverdacht gegen die Reportage als problematisch zu beurteilen. Natürlich ist es legitim und notwendig, Exzesse zu geißeln und Hochstapler auffliegen zu lassen. Doch im Eifer der moralischen Entrüstung werden binäre Widersprüche zwischen dem Erzählen und der Wahrhaftigkeit konstruiert (zwischen Fakten und Fiktion, Information und Unterhaltung, Vernunft und Emotion, Journalismus und Literatur), die ein Ineinandergreifen dieser Dimensionen scheinbar verunmöglichen. Was bleibt, ist ein falscher Widerspruch: hier die „parfümierte Reportage“, dort die nüchterne Realität. Als ob die Reportage und damit das Erzählen die einzige Wirklichkeitskonstruktion seien. Welch ein naiver Begriff von Realität. Journalismus bedeutet notwendigerweise selektieren, abwägen, bewerten, ja interpretieren. Im Normalbetrieb fällt das nun einmal weniger auf. Aber was hat eine Pressekonferenz mit dem Abbild der Realität zu tun?
Weder gut noch schlecht
Die Lösung kann nicht darin liegen, ein bestimmtes Genre zu verteufeln – egal ob es sich dabei um die Reportage handelt oder die Nachricht. Vielmehr geht es darum, die Bedingungen der jeweils eigenen Möglichkeit (und deren Grenzen) sichtbar gemacht zu haben. Wo Entstehungsbedingungen nicht mehr hinterfragt werden, wird das Ergebnis zur Ideologie. Nirgendwo sonst wird der Realitätsbegriff so mythologisiert wie im Journalismus, und nirgendwo sonst wird diese Mythologie derart negiert. Hier geht es um fundamentale Fragen der Erkenntnis, der Methoden, der sozialen Konstruktion von Wirklichkeit. Die Reportage per se ist weder gut noch schlecht. Es kommt darauf an, wie sie gemacht ist.
In diesem Zusammenhang lohnt sich ein Blick über den Atlantik und zurück in die Entwicklung des erzählerischen Journalismus in den USA. Auch dort gab es Skandale, die immer wieder das Genre der Reportage im Besonderen und erzählerische Formen des Journalismus im Allgemeinen in die Kritik brachten. Stephen Glass und Jayson Blair sind Fabulierer aus der jüngeren Vergangenheit. Doch eine fundamentale Diskussion über die Grenzen und Möglichkeiten des Reportage gab es bereits in den 1980er-Jahren, als Washington Post-Journalistin Janet Cooke den Pulitzer-Preis für Feature Journalism zurückgeben musste, weil sich ihre preisgekrönte Geschichte über einen drogenabhängigen achtjährigen Buben als Fiktion herausstellte.
In der Folge bemängelten Kritiker, dass erzählerische Techniken sich nur schwer mit journalistischen Standards in Einklang bringen ließen. Schuld an den erzählerischen Exzessen, so wurde kritisiert, sei der „New Journalism“, eine lose Gruppierung von Journalistinnen und Journalisten (unter anderen Tom Wolfe, Gay Talese, Joan Didion), die in den 1960ern und 1970ern das dokumentarische Schreiben im Journalismus populär gemacht hatten. Allgemein wurde kritisiert, dass zu sehr auf Stil und zu wenig auf Substanz geachtet werde.
Skandale bewegen zum Umdenken
Mit Verspätung ist diese Diskussion also nun im deutschsprachigen Raum angekommen. Auch hier wird angesichts der Relotius-Affäre wieder der Mythos befördert, dass sich Fakten nicht mit dem Erzählen vereinbaren ließen. Bernhard Pörksen schreibt etwa in einer Buchbesprechung von „Tausend Zeilen Lügen“: „Claas Relotius war eine Rollen- und Karrierehoffnung für all jene, die eigentlich nicht wirklich Journalisten sein wollen, sondern Schriftsteller, Künstler, Magier des Wortes. Er verkörperte den elegantesten und aufregendsten Ausbruch aus dem Dienstleistungsgeschäft der Nachrichten- und Informationsvermittlung, den man sich vorstellen kann. Fakten? Welche Fakten? Und wer will nicht ein wenig mitträumen, wenn gerade ein faszinierendes Mischwesen aus Joan Didion, Hunter S. Thompson und Tom Wolfe vorbeiflattert?“
Zwar folgt der Journalismus eigenen Gesetzen, doch hat er immer schon Möglichkeiten geboten, Informationen mithilfe von Geschichten zu vermitteln. In den USA waren der Cooke- und andere Skandale letztendlich ein Impuls für die sich heranbildende Gemeinschaft von erzählerischen Journalistinnen und Journalisten, kollektiv Regeln und Techniken zu entwickeln, die allgemein akzeptierte Standards für das Schreiben und Recherchieren von Reportagen festlegten.
Vor diesem Hintergrund bietet auch der Relotius-Skandal eine Chance, die Reportage nicht nur zu verteidigen, sondern auch Qualitätsmerkmale zu definieren, damit das Genre seine volle Wucht und Legitimität entfalten kann. Die Spiegel-Kommission hat dazu übrigens das Ihre beigetragen. Gerade weil die Reportage Information und Erzählung miteinander verbindet, kann sie sowohl individuelle Lebenswirklichkeiten als auch soziale Verhältnisse anschaulich darstellen. Und dies in einer Form, die für viele Leserinnen und Leser ansprechend ist.
Erstveröffentlichung: derstandard.at vom 2. Oktober 2019
Bildquelle: Flickr CC / Hans Permana: Der Spiegel Hauptsitz; Lizenzbedingungen: https://creativecommons.org/licenses/by-nc/2.0/
Schlagwörter:Claas Relotius, Der Spiegel, Erzähljournalismus, Fakten, Juan Moreno, New Journalism, Relotius-Skandal, Reportage