Die blinden Flecken der Nachrichtenwelt

27. Februar 2020 • Qualität & Ethik • von

Die Initiative Nachrichtenaufklärung (INA) beschäftigt sich nicht nur mit Nachrichten, sondern auch mit „Nicht-Nachrichten“ – mit Themen, die es trotz großer gesellschaftlicher Relevanz nicht in die Nachrichten geschafft haben. Jährlich veröffentlicht sie eine Top-Liste der vergessenen Nachrichten – im Februar erschien die Übersicht für das Jahr 2020.

Von der fehlenden Ausbildung für Infektiologen über Armut in Europa bis zur unsichtbaren Ausbeutung von internationalem Hauspersonal wird die Aufmerksamkeit hier auf aktuell wichtige, aber vernachlässigte Themen gelenkt.

Prof. Dr. Hektor Haarkötter, geschäftsführender Vorsitzender der INA, beleuchtet im EJO-Interview Hintergründe des Projekts und der diesjährigen Auswahl.

EJO: Was sind die am stärksten vergessenen Nachrichten 2020?

Haarkötter: Man kann schwer sagen, eins der Themen sei vernachlässigter als das andere.  Wir veröffentlichen eine Top-Liste, um der Medienlogik zu folgen – Medien lieben Rankings. Wir wollen auf hochrelevante Themen hinweisen, die aber in den Medien fast nicht oder gar nicht vorkommen.

Auf Platz eins steht ein Thema, das eigentlich gerade den öffentlichen Diskurs beherrscht – der Aspekt, auf den wir hinweisen, kommt allerdings gar nicht vor, das hat uns sehr stark irritiert. Es geht um die fehlende Ausbildung für Infektiologen in Deutschland. In den meisten europäischen Ländern gibt es dafür eine mehrjährige Facharztausbildung, in Schweden dauert sie zum Beispiel sechs Jahre. In Deutschland ist es eine Zusatzqualifikation, die man in einem einjährigen Zertifikatskurs nebenberuflich erwerben kann. Entsprechend sehen auch die Zustände in unseren Krankenhäusern aus – das ging vor ein paar Jahren mit dem Thema Krankenhauskeime durch die Medien. In Zeiten des Coronavirus, in denen viel über Infektionskrankheiten berichtet wird, fällt noch mehr auf, dass dieser Punkt gar nicht vorkommt.

Auf Position zwei haben wir das Thema Armut in Europa gewählt. Europa ist nach wie vor die industriestärkste und reichste Gegend der Welt, trotzdem leben 20 Prozent der Menschen in der EU unter der Armutsgrenze, haben also weniger als 50 Prozent des durchschnittlichen Einkommens zur Verfügung. Mit dem Programm „Europa 2020“ wollte die EU eigentlich bis zu diesem Jahr diese Zahl deutlich reduzieren. Das ist aber einfach nicht passiert – und wurde auch nicht berichtet, und da gibt es sicher einen Zusammenhang: Ohne mediale Öffentlichkeit haben Politiker wenig Bewandtnis, sich um selbstgesteckte Ziele zu kümmern.

Prof. Dr. Hektor Haarkötter / Foto: HMKW

Warum veröffentlichen Sie in diesem Jahr nur eine „Top Seven“ anstatt eine „Top Ten“-Liste? Heißt das, die Medien haben weniger Themen vergessen als in anderen Jahren?

So ist es mit großer Sicherheit nicht – vielleicht eher im Gegenteil. Das hat ganz einfache praktische Gründe: Es gab in diesem Jahr weniger Einreichungen mit Vorschlägen für vergessene Nachrichten, und es waren weniger Hochschulpartner an der Recherche beteiligt als noch in den letzten Jahren. Die Jury hat dann entschieden, dass die sieben ausgewählten Themen gesellschaftlich sehr relevant und offensichtlich medial vernachlässigt sind. Bei anderen Themen, die eingereicht wurden, konnte die Jury sich nicht einigen, ob sie diese Kriterien erfüllen. Unsere Definition für gesellschaftliche Relevanz ist, dass ein Thema mehr als die Hälfte der Menschen in der Bundesrepublik angeht.

Übrigens gab es auch schon einmal eine Top Fünf.

Welche Kriterien muss ein Thema erfüllen, um es auf Ihre Liste zu schaffen?

Wir fordern die Bevölkerung auf, Vorschläge einzureichen; gleichzeitig suchen unsere Recherchecrews in Uni-Seminaren nach vernachlässigten Themen. Zum Beispiel lesen wir viele Newsletter und kontaktieren NGOs und fragen sie, welche ihrer Themen zu wenig vorkommen. abonniert.  Daraus erstellen wir eine Liste, die an die Seminare an deutschen Hochschulen geht.

Dort wird dann mithilfe von Datenbanken und Experten geprüft: Ist die Geschichte überhaupt eine Geschichte, die die Menschen konkret betrifft?  Und ist sie vernachlässigt? Am Ende diskutiert die Jury, bestehend aus 20 bis 30 Personen aus Journalismus und Wissenschaft, alle Vorschläge bis zur Abstimmung.

Seit 1998 suchen Sie nach vergessenen Nachrichten. Was hat sich in dieser Zeit geändert?

Es hat sich Einiges geändert, allein dadurch, dass sich seit Ende der 90er Jahre der ganze Medien- und Informationsbereich und der Journalismus massiv verändert haben. Einerseits haben wir ein deutliches Überangebot an journalistischer Information, Stichwort ‚Information Overload‘, andererseits habe ich als kritischer Beobachter und Medienwissenschaftler aber das Gefühl, dass dieses Überangebot sich gar nicht in Diversität wiederspiegelt.

Viele Themen, die es nicht in die ganz großen Medien schaffen, werden überhaupt nicht berichtet oder aber der Blogosphäre überlassen.

Außerdem bekommen wir weniger Vorschläge von interessierten Beobachtern als noch vor zehn oder fünfzehn Jahren. Ein Grund dafür ist sicherlich eine Ermüdung durch ständige ‚calls to action‘ in den sozialen Medien. Der normale Mediennutzer ist gar kein ‚Prosumer‘, sondern will konsumieren.

Besteht dieses Problem auch international?

Unsere Schwesterorganisation Project Censored in den USA, die noch viel größer ist als die INA, veröffentlicht jährlich eine Top25 der zensierten Nachrichten. Der Titel dieser Liste zeigt schon, dass Project Censored politisch stärker positioniert ist als die INA, die Ausgewogenheit anstrebt.

Zusätzlich veröffentlicht Project Censored jedes Jahr eine Top-Liste der Junk-Nachrichten, die gar keine Relevanz haben, aber die Nachrichtenkanäle verstopfen. Harry und Meghan wäre für mich so ein Thema.

Sie nehmen meine Frage vorweg, ob es auch eine Liste der ‚überberichteten‘ Nachrichten geben könnte. Wäre das auch für die INA denkbar, und was wäre ein aktuelles Beispiel für Deutschland?

Es ist schon lange mein Wunsch, auch für die INA eine solche Liste der Junk News zu etablieren. Gerade ist es eine technische und logistische Frage – ich denke zum Beispiel an ein Internet-Voting.

Ein Beispiel für Deutschland: Gerade streitet sich ein Herr Wendler mit einem Herrn Pocher; ich kenne beide nur aus den entsprechenden Meldungen – und habe nicht den Eindruck, dass ihr Streit eine gesellschaftliche Relevanz hat. Dennoch sind Gazetten und Online-Newsportale voll mit diesem Thema.

Wie reagieren Medien auf Ihre Listen – werden die Themen im Anschluss aufgegriffen?

Neben der Liste veranstalten wir auch eine medienkritische Tagung, das Kölner Forum für Journalismuskritik, wo wir mit Experten, Politikern und Journalisten diskutieren; und wir vergeben den Günter-Wallraff-Preis. Günter Wallraff ist Förderer und Ehrenmitglied der INA. Durch diese verschiedenen Aktivitäten schaffen wir schon eine gewisse Öffentlichkeit. Letztendlich lässt sich natürlich oft nicht sagen, ob eine Redaktion ein Thema wegen eines Hinweises der INA aufgegriffen hat, oder ob sie selbst darauf gekommen ist.

Im vergangenen Jahr hatten wir aber zum Beispiel eine Podiumsdiskussion im Auswärtigen Amt zum Thema vergessene humanitäre Krisen und hatten unter anderem den Auslandschef der Süddeutschen Zeitung, Stefan Kornelius, als Mitdiskutanten eingeladen und wir hatten zumindest den Eindruck, dass danach einige sonst eher vernachlässigte Länder in der Berichterstattung der SZ vorkamen.

Natürlich gibt es aber oft auch systemische Gründe, aus denen über bestimmte Themen nicht berichtet werden. Zum Beispiel bekommen wir von Betroffenen häufig die Anregung, es müsse mehr über geschlossene Anstalten aller Art berichtet werden – Psychiatrien und Gefängnisse ebenso wie Altenheime. Schon häufig haben es derartige Themen auf unsere Liste geschafft. Allerdings ist in geschlossenen Anstalten natürlich auch das Recherchieren besonders schwierig und aufwändig – man kriegt nicht leicht einen Zugang, oder nur unter der Überwachung der Instanzen, die man eigentlich kritisieren möchte. Günter Wallraffs Team führt solche investigativen Recherchen durch, sie dauern aber oft auch Jahre und dafür haben viele Redaktionen, besonders im Lokalen, keine Kapazitäten.

Was wünschen Sie sich für Ihr Projekt für das angebrochene Jahr?

Reicht Themenvorschläge ein! Jeder Vorschlag zählt für uns und wir gehen ihm nach. Auf unserer Webseite bieten wir auch Juryberichte und Rechercheprotokolle an und würden uns freuen, wenn mehr Journalisten über unsere Arbeit berichten und unsere Themen aufgreifen.

Außerdem möchten wir Hochschulen ermutigen, ein Rechercheseminar zu einem INA-Thema anzubieten. Die INA unterstützt gerne mit Experten und Materialien.

Die Top Seven der vergessenen Nachrichten inklusive ausführliche Berichte sind auf der Website der Initiative Nachrichtenaufklärung zu finden: www.derblindefleck.de

 

Das European Journalism Observatory hat 2019 von der INA den Günter-Wallraff-Preis für Journalismuskritik erhalten.

 

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