Wie können Internetnutzende mittels Suchmaschinen Orientierung erlangen? Ein von Björn Brückerhoff entwickeltes prozessorientiertes Modell, das auf dem dynamisch-transaktionalen Ansatz basiert, gibt Antworten.
Im Nachrichtenmagazin Der Spiegel ist vor einigen Jahren von einer Unterhaltung zu lesen gewesen, die Ben Gomes, bei Google für die Suche zuständig, mit der Google App führt. Gomes fragt, wer der Präsident von Deutschland sei. Der Computer antwortet: „Joachim Gauck“. Daraufhin fragt Gomes: „Wer ist seine Ehefrau?“ und Google entgegnet: „Seine Partnerin ist seit 2000 Daniela Schadt“. Der Spiegel analysiert: „Die Maschinenintelligenz hat automatisch erkannt, dass Gomes in seiner zweiten Frage noch immer über Gauck redet. Und sie identifiziert Schadt, obwohl Gomes eine falsche Bezeichnung, Ehefrau, verwendete“ (Schulz 2014).
Diese Analyse ist verwunderlich, denn nicht Gomes verwendet eine falsche Bezeichnung, sondern Google. Und: Google hat selbstständig Daniela Schadt als Partnerin des ehemaligen Bundespräsidenten identifiziert, obwohl sie nicht seine Ehefrau ist, nach der Gomes gefragt hatte. Die richtige Antwort lautet Gerhild Gauck, denn mit ihr ist Joachim Gauck seit 1959 verheiratet. Nutzerinnen und Nutzer (im Folgenden aus Gründen der Lesbarkeit: Nutzer), die Informationen über die Ehefrau des Bundespräsidenten erhalten wollten, müssen die Unterscheidung zwischen Partnerin und Ehefrau also selbst bemerken. Google hat offenbar technisch geschlossen, dass sich die Frage nach der Ehefrau – potenziell unter Einbeziehung vieler weiterer Daten (etwa der Häufigkeit ihres Erscheinens in der Berichterstattung) – mit größerer Wahrscheinlichkeit auf die Partnerin des Bundespräsidenten bezieht. Auch jetzt, im August 2020, hat sich dieses Ergebnis nicht geändert.
Suchmaschinen sind Angebote, die einerseits in Form von Hyperlinks auf Inhalte verweisen und so über Inhalte im World Wide Web orientieren, die zur Suchanfrage passen – sie erbringen damit Meta-Orientierungsleistungen. Andererseits können sie seit einigen Jahren Fragen direkt beantworten und über Sachverhalte im Alltag der Nutzer orientieren, statt nur auf die Inhalte Dritter zu verweisen. Damit erbringen sie Orientierungsleistungen für die Nutzer. Führende Suchmaschinenanbieter wollen ihren Nutzern möglichst individuell relevante Orientierungs- und Meta-Orientierungsleistungen sowie potenziell passende Werbebotschaften bieten – das ist ein wesentlicher Teil ihres Geschäftsmodells.
In der Arbeit Orientierung durch Suchmaschinen ist die Forschungsfrage daher weit gefasst: Wie können Internetnutzer mittels Suchmaschinen Orientierung erlangen? Die Arbeit basiert auf handlungstheoretischen Überlegungen, als Forschungsheuristik wird der dynamisch-transaktionale Ansatz (DTA) genutzt, den Werner Früh und Klaus Schönbach bereits Anfang der 1980er-Jahre entwickelt haben. Die Beantwortung der zentralen Forschungsfrage erfolgt durch das in der Arbeit entwickelte Dynamisch-transaktional gedachte Modell technisch gestützter Orientierung.
Modell berücksichtigt traditionelle technische Verfahren und Möglichkeiten der künstlichen Intelligenz
Der DTA ist nach Früh (2008) ein „spezifisch kommunikationswissenschaftliches Theorie-Rahmenkonzept“, das zugleich Sender und Empfänger und insbesondere die Wechselwirkungen (Transaktionen) ihrer Kommunikation betrachtet, statt sich nur auf die Sender oder die Empfänger zu konzentrieren sowie Kausalbeziehungen in ihrer Kommunikation anzunehmen. Obwohl die technischen Bedingungen, die in der Arbeit behandelt werden, zum Zeitpunkt der Entwicklung des DTA noch nicht vorlagen, ist der Ansatz insbesondere aufgrund der Konzeption von Transaktionen und Dynamik für Forschungsgegenstände im Internet geeignet. Es bestehe, so der Kommunikationswissenschaftler Patrick Rössler, „keine andere theoretische Grundlogik, die gerade den Spezifika von Online-Kommunikationsmodi so entgegenkommt“ (Rössler 2015: 80). Zudem hat sich der DTA insbesondere bei der Modellierung habitualisierter Nutzungsprozesse im Alltag der Nutzer als hilfreich erwiesen.
Alle dynamisch-transaktional konzipierten Modelle müssen Aussagen zu Transaktionen, Dynamik und zum molaren Kontext enthalten. Der molare Kontext verdeutlicht, dass die im Modell dargestellten Sachverhalte nicht losgelöst von der Umwelt gesehen werden können, sondern stets eingebettet in unzählige Randbedingungen gedacht werden sollen. Das Konzept der Transaktion als eine von mehreren Beziehungen im Kommunikationsprozess eignet sich, um spezifische Wechselbezüglichkeiten zwischen Nutzern, Suchmaschinen und dem Orientierungsbereich Internet auszudrücken. Transaktionen lassen sich in Inter- und Intra-Transaktionen aufgliedern. Inter-Transaktionen erfolgen zwischen den Kommunikationspartnern. Sie beschreiben die Wechselwirkungen zwischen Kommunikatoren und Rezipienten. Die (subjektive) Wirkung einer Medienbotschaft entfaltet sich erst durch die Dekodierung seitens der Rezipienten. Eine Annahme über die subjektive Wirkung wird jedoch bereits bei der Aussendung durch die Kommunikatoren mitgedacht, sodass die Annahme der vermeintlichen Wirkung auf der Seite der Kommunikatoren bereits die Gestaltung der Medienbotschaft prägen kann, bevor diese tatsächlich ausgesendet wird und bei den Rezipienten wirken kann.
Intra-Transaktionen sind Wechselwirkungen innerhalb der Kommunikationspartner. Sie zeigen das Bild des Individuums von sich selbst in seiner Umwelt und umfassen auch aktuelle Zustände, etwa Erregung oder Interesse. Im Rahmen der Intra-Transaktion kommt es zu einer subjektiven Bewertung von Wissen, die bei der Interpretation der Medienbotschaft von Bedeutung ist. Die Dynamik drückt aus, dass die Nutzung ein Prozess ist, der – bedingt durch Interaktionen und Transaktionen – auch den Wandel von Nutzungsmotiven und Nutzungszielen umfassen kann, was wiederum auf das Gelingen oder Nicht-Gelingen von Orientierung wirkt.
Das Modell systematisiert die Interaktions- und Transaktionsbeziehungen zwischen Suchmaschinen und Nutzern auf dem Weg zu gelingender oder nicht gelingender Orientierung und berücksichtigt dabei traditionelle technische Verfahren sowie die Möglichkeiten der künstlichen Intelligenz gleichermaßen.
Um das Verhältnis von Nutzern und Suchmaschinen zu modellieren, sind die Grundlagen des DTA in der Arbeit erweitert worden. Sowohl die handlungstheoretische Fundierung als auch der DTA werden nicht nur auf menschliche Aktivitäten bezogen, sondern auf Handlungen und Transaktionen zwischen Mensch und Maschine. Bestimmte Ausprägungen des sozialen Handelns sowie Inter- und Intra-Transaktionen – insbesondere das sogenannte Para-Feedback – können von Suchmaschinen und digitalen Assistenten simuliert werden.
Para-Feedback-Prozesse zwischen Suchmaschinen und ihren Nutzern
Suchmaschinen sind lernende Maschinen. Sie müssen, um ihre Dienstleistungen anbieten zu können, umfangreiche und detaillierte Daten erheben, die sie mittels ihrer Algorithmen analysieren und bewerten und damit Erkenntnisse sowohl über alle Nutzer als auch über Individuen erlangen – bis in die Intimsphäre. Dabei ist davon auszugehen, dass mehr Daten erhoben werden, als für die Erbringung der Dienstleistungen notwendig sind.
Die Daten bestimmen das Verhältnis der Maschinen zu ihren Nutzern. Das Bild, das Suchmaschinen von ihren Nutzern haben, erfordert deshalb ständige Prüfungen und Aktualisierungen dieser Daten. Dafür sind die Termini der technischen Beobachtung (Erfassung von Daten zu den Handlungen und Eigenschaften der Nutzer) und der technischen Bewertung (algorithmengestützte Herstellung von Beziehungen zwischen den Daten) eingeführt worden, die gemeinsam die technische Selektion bilden. Damit können Suchmaschinen auch ohne konkrete Eingaben in Suchfelder das Bild präzisieren, das sie von ihren Nutzern haben. Beteiligt sind daran auch Werbesysteme und andere Datenlieferanten, die das Bild der Nutzer aus Sicht der Suchmaschine abrunden.
Diese Daten können eingesetzt werden, um unabhängig von Nutzerinteraktionen Orientierungsbedürfnisse zu antizipieren, um bei der konkreten Nutzung der Suchmaschine Vorschläge zu unterbreiten und um die Suchergebnisse potenziell subjektiv relevanter zu gestalten. Suchmaschinen prognostizieren folglich, was die Nutzer möglicherweise wollen. Daraus ergibt sich die Frage, inwiefern die Beantwortung von Orientierungsbedürfnissen der Nutzer, bevor diese überhaupt artikuliert werden, auf die tatsächlichen Orientierungsbedürfnisse wirkt.
Zwischen Suchmaschinen und ihren Nutzern kommt es damit zu Para-Feedback-Prozessen. Da Suchmaschinen allerdings nicht über kognitive Prozesse verfügen, sondern Aspekte dieser Prozesse lediglich simulieren, wird auf der Seite der Suchmaschine der Begriff des technischen Para-Feedbacks verwendet (entsprechend: technische Intra- und Inter-Transaktionen). Zudem werden im Modell Interaktionen integriert. Bei Interaktionen der Nutzer mit der Suchmaschine, beispielsweise wenn Suchbegriffe durch Text- oder Spracheingabe mitgeteilt werden (in der Arbeit wird dafür der Begriff der technisch gestützten Suche verwendet), kommt es sowohl bei den Nutzern als auch seitens der Suchmaschine parallel zu transaktionalen Prozessen.
Auch Simulation einer sozialen Beziehung zwischen Nutzern und Suchmaschinen ist denkbar
Um zum Beispiel vom Anfang zurückzukommen: Die Identifikation von Frau Schadt als Antwort auf die Frage nach der Ehefrau des Bundespräsidenten ist das Ergebnis einer technischen Inter- beziehungsweise Intra-Transaktion der Suchmaschine: Google hat Annahmen über die Intentionen des Nutzers generiert. Das Ergebnis ist eine Annahme darüber, was der Nutzer eigentlich gemeint haben könnte – entlang der Erkenntnisse aus dem technischen Para-Feedback.
Eine Bedeutungszunahme dieser Verfahren ist zu erwarten. Ray Kurzweil, Pionier der künstlichen Intelligenz und Director of Engineering bei Google, hat schon 2013 zu Protokoll gegeben, wie er sich die Zukunft der Nutzung digitaler Assistenten vorstellt: “I envision in some years that the majority of search queries will be answered without you actually asking” (Ferenstein 2013). Dabei steigt auch die Komplexität der Anfragen: Während sich heutige Eingaben auf vergleichsweise einfache Formulierungen beschränken müssen (Wann wurde Goethe geboren?), könnten zukünftige digitale Assistenten befähigt sein, auch komplexe Aufgaben detailliert und elaboriert zu beantworten (Welchen Einfluss hatte Le Corbusier auf den Städtebau der 1960er-Jahre?).
Nutzer und Suchmaschinen nehmen also fortwährend aufeinander Bezug und sind potenziell in der Lage, die Komplexität ihrer Kommunikation im Zeitverlauf zu erhöhen. Bereits heute ist der Google-Assistent befähigt, menschliche Konversationen einigermaßen glaubhaft zu simulieren. Suchmaschinen unternehmen damit den Versuch einer technischen Simulation sozialen Handelns. Kommt es zu einer stärkeren Habitualisierung der Nutzung, begünstigt etwa durch komplexere Kommunikationsmöglichkeiten, ist auch die Simulation einer sozialen Beziehung zwischen Nutzern und Suchmaschinen denkbar – inklusive der Herausbildung gegenseitiger Handlungserwartungen.
Das mag nach Zukunftsvision klingen, wird tatsächlich aber längst entwickelt. Schon jetzt lernen Suchmaschinen-Algorithmen aus den Handlungen und Eigenschaften ihrer Nutzer für diese Zukunft. Die notwendige Ethikdiskussion zur Gestaltung dieser Prozesse sollte nicht den großen Internet-Playern allein überlassen werden. Stattdessen ist eine breite öffentliche Debatte erforderlich, die auch in den Entwicklungsabteilungen und im Management der Unternehmen unüberhörbar ist.
Das Buch Orientierung durch Suchmaschinen. Ein dynamisch-transaktional gedachtes Modell von Dr. Björn Brückerhoff ist 2019 im Herbert von Halem-Verlag erschienen.
Literatur
- Brückerhoff, Björn (2019): Orientierung durch Suchmaschinen. Ein dynamisch-transaktional gedachtes Modell. Köln: Herbert von Halem.
- Ferenstein, Gregory (2013): Google’s New Director Of Engineering, Ray Kurzweil, Is Building Your ‘Cybernetic Friend’. In: Techcrunch v. 06.01. Online-Dokument: http://techcrunch.com/2013/01/06/googles-director-of-engineering-ray-kurzweil-is-building-your-cybernetic-friend/ (17.08.20).
- Früh, Werner (2008): Der dynamisch-transaktionale Ansatz als spezifisch kommunikationswissenschaftliches Theorie-Rahmenkonzept. In: Wünsch, Carsten; Früh, Werner; Gehrau, Volker (Hrsg.): Integrative Modelle in der Rezeptions- und Wirkungsforschung: Dynamische und transaktionale Perspektiven. München: Reinhard Fischer, S. 29-43.
- Rössler, Patrick (2015): Dynamisch-transaktional modellieren heute. Zur Relevanz eines klassischen kommunikationswissenschaftlichen Theorie-Rahmenkonzepts im Kontext medialer Innovation. In: Stiehler, Hans-Jörg; Hagen, Sebastian; Frey, Felix; Koch, Sebastian; Faust, Maria (Hrsg.): Inspiration und Systematik. Theorieentwicklung in der Kommunikationswissenschaft. Leipzig: Leipziger Universitätsverlag, S. 50-85.
- Schulz, Thomas (2014): Larry und die Mondfahrer. In: Der Spiegel, H. 10 v. 01.03, S. 58-67.
Weiterführende Literatur
- Brückerhoff, Björn (2020): Suchmaschinen reflektiert nutzen. Lernende Maschinen erfordern denkende Nutzer – ein Überblick. In: Bigl, Benjamin (Hrsg.): TransferPlus – Aktuelle Beiträge zur Medienbildung. Issue 02/2020. https://doi.org/10.25366/2020.13
- Früh, Werner; Schönbach, Klaus (1991): Der dynamisch-transaktionale Ansatz. Ein neues Paradigma der Medienwirkungen. In: Früh, Werner: Medienwirkungen: Das dynamisch-transaktionale Modell. Opladen: Westdeutscher Verlag, S. 23-39.
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Schlagwörter:digitale Assistenten, dynamisch-transaktionaler Ansatz, Google, künstliche Intelligenz, Nutzer, Suchmaschinen