Die Lawine der Desinformationen im Zusammenhang mit Covid-19 mag die Medien überrascht haben. Das hat sie aber nicht daran gehindert, innovativ dagegen vorzugehen. Bei einem virtuellen runden Tisch, der Mitte November von der Akademie für Journalismus und Medien der Universität Neuchâtel in der Schweiz organisiert wurde, berichteten drei Journalist*innen über ihre Strategien: Amélie Boguet, verantwortlich für die neuen Nachrichtenplattformen bei RTS (Radio Télévision Suisse), Aude Favre, Gründerin des YouTube-Kanals AudeWTFAke, und Charles-Henry Groult, Leiter der Videoabteilung von Le Monde.
„Covid-19 ist zweifellos ein Katalysator für eine ganze Reihe von Verschwörungstheorien und verschiedene Manipulationen“, bemerkt Charles-Henry Groult. Aber wenn es um die Bezeichnung des Phänomens geht, betont der Leiter des Le Monde-Videoressorts die Bedeutung der richtigen Wortwahl:
Ich habe den Eindruck, dass wir mit der Verwendung des Wortes ‚Fake News‘ vorsichtig sein müssen, da es oft undifferenziert genutzt wird, um sehr unterschiedliche Realitäten zusammenzufassen. Schon das Wort Desinformation stört mich ein wenig, weil es einen Vorsatz andeutet. Was mir während des ersten Lockdowns [der in Frankreich im März 2020 begann, Anm. d. Red.] am meisten auffiel, war der immense Wunsch der Menschen zu verstehen, beruhigt zu werden, zu wissen, wie sie sich verhalten sollen, wenn sie oder ihre Lieben krank wurden, zu wissen, woher diese Krankheit kam und wie sie sich verbreitet…
Für Le Mondes Videoredaktion bestand das erste Ziel darin, „zuverlässige Informationen zu liefern, bevor wir falsche Informationen prüfen und entlarven“. Wir haben unseren Journalisten erklärt, dass die Menschen in den kommenden Wochen und Monaten die glaubwürdigsten und seriösesten Informationen erwarten“, fährt Charles-Henry Groult fort. „Und das ist die Herausforderung, der wir uns zuallererst stellen mussten.“
Verursacher von Desinformation kultivieren das „Selbstwertgefühl“ ihrer Nutzer
Laut einer MIT-Studie aus dem Jahr 2018, die in der Zeitschrift Science veröffentlicht wurde, dauert es sechsmal länger, bis echte Informationen auf Twitter verbreitet werden als falsche. „Weil falsche Informationen in der Regel sehr attraktiv sind“, sagt Groult. Aber das ist noch nicht alles. In Bezug auf Verschwörungstheorien weist die Journalistin Aude Favre, die 2017 ihren eigenen YouTube-Kanal AudeWTFake ins Leben gerufen hat, auf ein ebenso alarmierendes Phänomen hin: „Leider gewinnen die Verschwörer die Oberhand, indem sie ihren Followern Wertschätzung signalisieren, indem sie ihnen sagen, dass sie etwas Unglaubliches entdeckt haben, dass sie diejenigen sind, die Bescheid wissen, und nicht die ‚Schafe, die von den Medien manipuliert werden’. Sie bieten einen ‚Sinn‘ an. Wir stellen fest, dass die Menschen in diesen Gemeinschaften eine Art Selbstwertgefühl zurückgewinnen und das Gefühl haben, dass sie auf etwas hinarbeiten und gegen etwas kämpfen.“
Aude Favre geht in ihren Überlegungen noch einen Schritt weiter:
Mein Ziel ist ein echter Dialog zwischen Journalisten und Bürgern. Ich denke, es gäbe nicht so viele Fake News, wenn die Bürger Vertrauen in diejenigen hätten, die ihre Stimme gegenüber den Regierenden erheben, denn darum geht es im Journalismus. Und ich wette, dass wenn wir uns versöhnen, wenn wir einen Dialog führen, die Dinge besser werden.
Auf der Grundlage dieser Beobachtungen gründete Aude Favre im März 2020 das Aude WTFake-Redaktionsteam: Ein Bürgerredaktion, die auf einem Discord-Server gehostet wird und bis heute fast 1.300 Teilnehmer zählt. Discord ist eine Online-Messaging und Videodienst, der ursprünglich aus der Gaming-Szene stammt, inzwischen aber auch in anderen Bereichen genutzt wird. „Auf unserer Seite schaffen wir also auch eine Gemeinschaft und einen Sinn, sozusagen ein Spiegelbild dieses großen Zugehörigkeitsgefühls, auf das die Verschwörer setzen“, sagt die auf Factchecking spezialisierte Journalistin. „Wir treffen uns einmal wöchentlich auf Discord, um Fehlinformationen zu diskutieren und Fakten zu überprüfen und unsere Recherche voranzubringen. Ziel ist es, sie nach vier Wochen auf YouTube zu veröffentlichen. Die Recherche ist nicht meine eigene, auch wenn ich sie geleitet habe, sondern die einer ganzen Bürgervereinigung.“
Dialog auf Augenhöhe
2019 führte die Universität Zürich eine Befragung durch, nach der ein Drittel der Schweizer Bevölkerung eine Affinität zu Verschwörungstheorien hatte. Amélie Boguet, Leiterin der neuen Nachrichtenplattformen bei Radio Télévision Suisse, verweist auf diese Studie: „Dieses Ergebnis zeigt uns, dass wenn wir diesen Menschen direkt sagen, dass sie sich irren, dies uns definitiv von jeder Form des Dialogs und der Interaktion mit ihnen abschneidet. Und egal, wie sehr wir uns anstrengen, diese Verschwörungstheorien demontieren, wir werden nicht in der Lage sein, die Menschen zu erreichen, die schon angefangen haben, an sie zu glauben.“
Der Videodienst Nouvo von RTS hat auf YouTube drei Videos veröffentlicht, die sich mit der QAnon-Bewegung beschäftigen. Eine davon ist ein knapp 20-minütiges Interview mit dem Religionssoziologen François Gauthier (Universität Freiburg).
Religiöse Verschwörungstheorien
Amélie Boguet fasst die Ausführungen von François Gauthier so zusammen:
Ihm zufolge gibt es in all diesen Verschwörungstheorien eine Verschiebung hin zu etwas, wo es nicht mehr um die Ordnung von Wahrheit oder Unwahrheit geht, sondern um die Ordnung des Glaubens. Und wenn man sich in diesem Bereich befindet, ist es fast unmöglich, mit Logik zu beweisen, dass die Leute sich irren. Unser Ansatz bestand daher darin, in einen Dialog zu treten und diejenigen, die an Verschwörungstheorien festhalten, nicht grundsätzlich zurückzuweisen.
Ein zweites Video in dieser Reihe von Nouvo ließ einen Schweizer QAnon-Unterstützer zu Wort kommen, Leonardo, der den YouTube-Kanal „Les DéQodeurs“ verwaltet (von YouTube gelöscht, seine Videos werden jetzt auf Odyssee veröffentlicht). „Anstatt zu sagen ‘Sie irren sich‘, werden wir versuchen, zu verstehen, wo in diesen Theorien ein bisschen Wahrheitsgehalt oder Aufrichtigkeit liegt“, so Boguet. „Was in diesem Interview mit dem QAnon-Unterstützer sehr auffällt, ist seine Aussage, dass er den Menschen Hoffnung gibt. Und da schließt sich der Kreis vollständig, denn Hoffnung ist auch das, was Religionen den Gläubigen bringen.“
Förderung des Datenjournalismus
Über den Dialog hinaus stellt sich auch die Frage nach dem Format und den Methoden der Faktenüberprüfung. In der Videoabteilung von Le Monde setzt man auf Datenjournalismus.
Seit einem Jahr entwickeln wir ein neues Format, nämlich die visuelle Investigation, man könnte das auch Videorecherche nennen “, erklärt Charles-Henry Groult. „Es basiert auf OSINT (Open Source Intelligence, Anm. d. Übers.), einer Methode, bei der alle online verfügbaren Daten zur Informationsbeschaffung genutzt werden. Dies unterscheidet sich vom herkömmlichen Fact-Checking, das bei Le Monde zum Beispiel im Format ‚Les Décodeurs‘ eingesetzt wird. Anstatt die falschen Informationen, die online übermittelt werden, zu entlarven, konzentrieren sich unsere Videorecherchen stattdessen auf das, was zweifellos wahr ist, was online zirkuliert, aber dessen Echtheit noch bewiesen werden muss: Es können Bilder sein, die wir authentifizieren und geolokalisieren müssen, bevor wir sie in Dokumente verwandeln, die vielleicht sogar exklusiv sind.
Laut Charles-Henry Groult sind vor allem zwei Journalisten der Videoredaktion von Le Monde mit Open-Source-Recherchetechniken sehr vertraut: „Wir werden sie weiter in diese Richtung pushen, indem wir ihnen Schulungen anbieten und in Tools für Cloud Computing investieren. Mit diesen beiden Journalisten werden wir eine erste Video-Rechercheeinheit der ‚neuen Generation‘ schaffen, und wir werden versuchen, das Tempo zu beschleunigen, um unseren Vorsprung zu halten und diese Einheit Ende 2020 starten zu können.“
Virale Fake News mit KI antizipieren?
Mitten in der Gesundheitskrise haben das Institut SCAI (Sorbonne Center for Artificial Intelligence) und die Journalistenschule CELSA der Sorbonne-Universität in Kooperation mit dem Start-up Kap Code ein Forschungsprojekt an der Schnittstelle zwischen künstlicher Intelligenz und Informations- und Kommunikationswissenschaften initiiert. „Die Hauptherausforderung dieses neuen Forschungsprojekts ist die Identifizierung und Charakterisierung von gefälschten Nachrichten über das Coronavirus“, heißt es auf der Website der Universität Sorbonne, um „Methoden zu entwickeln, mit denen neue Fake News während möglicher neuer Gesundheitskrisen schneller identifiziert werden können“.
Wie bereits erwähnt, verbreiten sich gefälschte Nachrichten online tendenziell schneller als echte Nachrichten. „Wenn wir also Fake News, die Millionen und Abermillionen von Nutzern erreicht haben, auf ihre Fakten überprüfen“, sagt Charles-Henry Groult, „ist es selten, dass die Faktenprüfung selbst eine ähnlich große Resonanz findet. Würden wir dagegen diese falschen Informationen etwas weiter stromaufwärts angreifen, hätten wir vielleicht eine bessere Chance, wirksam zu sein.“
Zuerst veröffentlicht auf der französischen EJO-Seite am 20. November 2020
Aus dem Französischen übersetzt von Johanna Mack
Schlagwörter:AudeWTFAke, Covid-19, Datenjournalismus, Desinformation, Fact Checking, Fake News, Frankreich, Le Monde, Radio Télévision Suisse, Schweiz, Verschwörungstheorien